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Wladimir I. Lenin 19050518 Politische Sophistereien

Wladimir I. Lenin: Politische Sophistereien

[Wperjod" Nr. 18, 5./18. Mai 1905. Nach Sämtliche Werke, Band 7, 1929, S. 332-341]

Die russische Revolution hat erst begonnen und schon offenbart sie mit voller Klarheit die üblichen Züge der politischen Revolutionen der Bourgeoisie. Die unteren Schichten kämpfen, die oberen nützen es aus. Alle ungeheuren Lasten des revolutionären Kampfes legten und legen sich vollständig auf das Proletariat als Klasse und auf die vereinzelten jungen Leute, die der bürgerlichen Intelligenz entstammen. Alle zum Teil schon eroberten Freiheiten (richtiger: armselige Fetzen der Freiheit) fallen zu neun Zehnteln den Oberschichten der Gesellschaft, den nichtarbeitenden Klassen zu. In Russland herrscht jetzt, entgegen dem Gesetz, eine unvergleichlich größere Rede-, Versammlungs- und Pressefreiheit als vor zehn Jahren, als vor einem Jahr, aber den Nutzen davon in einigermaßen nennenswertem Umfange haben nur die bürgerlichen Zeitungen, nur die „liberalen" Versammlungen. Die Arbeiter drängen zur Freiheit, indem sie sich auf Schritt und Tritt in ihnen bis dahin unbekannte und als unzulänglich geltende Gebiete einen Weg bahnen, aber dieses Vordringen des proletarischen Elements widerlegt nicht, sondern bestätigt vielmehr unsern Gedanken. Die Aktivität der Teilnahme am politischen Kampf steht in umgekehrtem Verhältnis zur Aktivität der Aneignung der Früchte des Kampfes. Das Verhältnis zwischen der legalen und illegalen (d. h. der vom Gesetz zugelassenen und gesetzwidrigen) Bewegung ist um so „günstiger", je günstiger die Lage der einen oder anderen Klasse in der sozial-ökonomischen Ordnung ist. Die Bewegung der liberalen Bourgeoisie ergoss sich, besonders nach dem 9. Januar, so breit in den vom Gesetz geduldeten Formen, dass die illegale liberale Bewegung vor unseren Augen mit rasender Schnelligkeit verblasst. Die Bewegung der Arbeiterklasse, ungeachtet dessen, dass sie in einem ihrer wichtigsten Momente sich in eine erz„gesetzliche" Form kleidete (Überreichung einer Bittschrift an den Zaren durch das Petersburger Arbeitervolk), erwies sich als doppelt gesetzwidrig und einer doppelt harten militärischen Bestrafung unterliegend. Die Bewegung der Arbeiterklasse ist ungleich breiter geworden, aber das Verhältnis zwischen dem legalen und dem illegalen Element hat sich fast gar nicht zugunsten des legalen geändert.

Woher dieser Unterschied? Eben daher, dass die ganze sozialökonomische Ordnung Russlands die meisten Früchte demjenigen sichert, der am wenigsten arbeitet. Unter dem Kapitalismus kann es nicht anders sein. Es ist das Gesetz des Kapitals, das sich nicht bloß das ökonomische, sondern auch das politische Leben unterwirft. Die Bewegung der unteren Schichten steigert die revolutionäre Kraft; sie bringt eine Volksmasse auf die Beine, die erstens fähig ist, das ganze morsche Gebäude wirklich niederzureißen, und die zweitens durch keinerlei Besonderheiten ihrer Lage an dieses Gebäude gebunden ist, die es gern umstürzen wird. Mehr als das, selbst ohne sich ihrer Ziele voll bewusst zu sein, ist diese Volksmasse dennoch fähig und geneigt, es umzustürzen, weil ihre Lage ausweglos ist, weil die ewige Unterdrückung sie auf den revolutionären Weg treibt und sie nichts zu verlieren hat als ihre Ketten. Diese Volkskraft, das Proletariat, erscheint den Gebietern des morschen Gebäudes so drohend, weil in der Lage des Proletariats selbst etwas da ist, was alle Ausbeuter bedroht. Infolgedessen droht die kleinste Bewegung des Proletariats, so bescheiden sie auch im Anfang sein, von welchem kleinen Anlass sie auch ausgehen mag, unvermeidlich über ihre unmittelbaren Ziele hinauszutreiben und unversöhnlich, verheerend für die ganze alte Ordnung zu werden.

Die Bewegung des Proletariats hat, vermöge der grundlegenden Besonderheiten in der Lage dieser Klasse unter dem Kapitalismus, die unentwegte Tendenz, zu einem verzweifelten Kampf ums Ganze zu werden, um den völligen Sieg über alles Dunkle, Ausbeuterische, Versklavende. Umgekehrt hat die Bewegung der liberalen Bourgeoisie aus denselben Gründen (d. h. vermöge der grundlegenden Besonderheiten der Lage der Bourgeoisie) die Tendenz zu Kompromissen an Stelle des Kampfes, zum Opportunismus an Stelle des Radikalismus, zur bescheidenen Berücksichtigung der wahrscheinlichsten und möglichen nächstliegenden Errungenschaften an Stelle des „untaktischen", kühnen und entschiedenen Anspruchs auf den vollständigen Sieg. Wer wirklich kämpft, der kämpft naturgemäß ums Ganze: wer Kompromisse dem Kampfe vorzieht, deutet naturgemäß von vornherein auf jene „Brocken" hin, mit denen er bestenfalls geneigt ist, sich zufriedenzugeben (im schlimmsten Falle gibt er sich auch zufrieden mit dem Verzicht auf den Kampf, d. h. er findet sich auf lange mit den Machthabern der alten Welt ab).

Es ist deshalb durchaus natürlich, dass die Sozialdemokratie, als die Partei des revolutionären Proletariats, um ihr Programm so besorgt ist, dass sie lange vorher ihr Endziel – das Ziel der vollständigen Befreiung der Werktätigen – so sorgfältig festlegt, so eifersüchtig sich gegenüber allen Versuchen, dieses Endziel zu beschneiden, verhält; aus denselben Gründen trennt die Sozialdemokratie so dogmatisch streng und doktrinär unentwegt die kleinen, nächst liegenden ökonomischen und politischen Ziele von dem Endziel. Wer um das Ganze, um den vollständigen Sieg kämpft, muss sich davor hüten, dass die kleinen Errungenschaften ihm die Hände binden, ihn vom Wege abbringen, ihn das vergessen machen, was noch verhältnismäßig fern ist und ohne das alle kleinen Errungenschaften ganz eitel sind. Umgekehrt ist einer Partei der Bourgeoisie, mag sie noch so freiheitliebend und volksfreundlich sein, diese Sorge um die Programme, das ewige kritische Verhalten gegenüber kleinen allmählichen Verbesserungen unverständlich und fremd.

Auf solche Gedanken brachte uns der „Entwurf einer russischen Verfassung", den die Redaktion des „Oswoboschdjenije" unter dem Titel: „Das Staatsgrundgesetz des Russischen Reiches" vor einigen Tagen erscheinen ließ. Dieser Entwurf, in Russland schon ziemlich lange bekannt, ist jetzt mit Anmerkungen und einer erläuternden Denkschrift als „einzige vollständige, endgültige und von den Verfassern selbst durchgesehene Ausgabe" herausgegeben worden. Es stellt sich heraus, dass dieser Entwurf nicht dem „Bund der Befreiung" („Sojus Oswoboschdenija") gehört, dass er vielmehr von einer privaten Gruppe, die diesem Bund angehört, ausgearbeitet worden ist. Wir sehen also hier wieder und wieder einmal jene Angst vor einem klaren, bestimmten, offenen Programm, die dem Liberalismus eigentümlich ist. Die liberale Partei besitzt in Russland unermesslich größere Geldmittel und literarische Kräfte, unermesslich größere Bewegungsfreiheit auf legalem Boden als die Sozialdemokratie – und gleichzeitig diese auffällige Zurückgebliebenheit gegenüber der Sozialdemokratie hinsichtlich der programmatischen Bestimmtheit. Die Liberalen weichen geradezu einem Programm aus, sie ziehen einzelne sich widersprechende Erklärungen in ihrem Organ (z. B. über die Frage des allgemeinen Wahlrechts) oder „Entwürfe" von privaten Gruppen, die die Partei (oder den Bund der Befreiung) als Ganzes in keiner Weise binden, vor. Das kann natürlich kein Zufall sein; es ist das unvermeidliche Resultat der sozialen Lage der Bourgeoisie als Klasse in der modernen Gesellschaft – eine Klasse, die zwischen dem Absolutismus und dem Proletariat eingeklemmt ist, die wegen kleinlicher Interessenunterschiede in Fraktionen gespalten ist. Die politischen Sophistereien ergeben sich aus dieser Lage ganz natürlich.

Auf eine dieser Sophistereien möchten wir jetzt die Aufmerksamkeit der Leser lenken. Die Grundzüge des Verfassungsentwurfes der Oswoboschdjenije-Leute sind bekannt: die Monarchie wird beibehalten – die Frage der Republik wird nicht einmal erwogen (offenbar halten die „Realpolitiker" der Bourgeoisie diese Frage nicht für ernst!) –, es soll ein parlamentarisches Zweikammersystem geschaffen werden mit allgemeinem, direktem, gleichem und geheimem Wahlrecht für das Unterhaus, mit zweistufigen Wahlen zum Oberhaus. Die Vertreter in das Oberhaus werden von den Semstwoversammlungen und den städtischen Dumas gewählt. Auf die Einzelheiten dieses Entwurfs einzugehen, halten wir für überflüssig. Interessant ist sein allgemeiner Plan und seine „prinzipielle" Verteidigung.

Die Staatsmacht wollen unsere edelmütigen Liberalen möglichst gleichmäßig und „gerecht" zwischen drei Kräften teilen: ein Monarch, ein Oberhaus (Semstwokammer), ein Unterhaus (Kammer der Volksvertreter): absolutistische Bürokratie, Bourgeoisie, „Volk" (d. h. Proletariat, Bauernschaft und Kleinbürgertum überhaupt). Die liberalen Publizisten träumen in der Tiefe ihrer Seele davon, den Kampf zwischen diesen verschiedenen Kräften und verschiedenen Kombinationen dieser Kräfte zu ersetzen durch deren „gerechte" Verkuppelung zu einer Einheit … auf dem Papier! Man müsse für eine allmähliche, ausgeglichene Entwicklung sorgen, man müsse das allgemeine Wahlrecht vom Standpunkt des Konservativismus rechtfertigen (Vorwort des Herrn Struve zu dem in Rede stehenden Entwurf); man müsse eine reale Sicherung der Interessen der herrschenden Klassen (das ist realer Konservativismus) in Gestalt der Monarchie und des Oberhauses schaffen; man müsse diese ganze, vermeintlich schlaue, in Wirklichkeit aber äußerst naive Konstruktion in hochtrabende Sophismen kleiden. Das russische Proletariat wird noch sehr, sehr lange mit den liberalen Sophismen rechnen müssen. Es ist an der Zeit, sie etwas näher kennenzulernen!

Die Verteidigung des Zweikammersystems beginnen die Liberalen mit einer Analyse der vermutlichen Einwände gegen dieses System. Es ist bezeichnend, dass alle diese Einwände dem üblichen liberal-volkstümlerischen Ideenkreis entnommen sind, die von unserer legalen Presse lebhaft propagiert werden. Die russische Gesellschaft habe einen „tief demokratischen Charakter", eine höhere Klasse, die durch politische Verdienste, Reichtum usw. stark wäre, existiere in Russland nicht, da der Adel bei uns ein dienstleistender Stand gewesen sei, ohne „politischen Ehrgeiz", und obendrein sei seine materielle Bedeutung „untergraben". Vom Standpunkt des Sozialdemokraten ist es lächerlich, diese volkstümlerischen Phrasen, an denen kein Wort wahr ist, irgendwie ernst zu nehmen. Die politischen Privilegien des Adels in Russland sind allgemein bekannt; seine Stärke ersieht man sofort aus den Tendenzen der konservativen und gemäßigten oder Schipowschen Partei; seine materielle Bedeutung wird lediglich von der Bourgeoisie „untergraben", mit der der Adel verschmilzt, wobei dieses ganze Untergraben keineswegs hindert, dass in den Händen des Adels gigantische Mittel konzentriert sind, die ihm erlauben, Dutzende von Millionen Werktätiger zu plündern. Die klassenbewussten Arbeiter dürfen sich in dieser Hinsicht keine Illusionen machen, die volkstümlerischen Phrasen über die Bedeutungslosigkeit des russischen Adels brauchen die Liberalen nur dazu, um die Pille der kommenden konstitutionellen Privilegien des Adels zu versüßen. Diese liberale Logik ist psychologisch unvermeidlich: man muss unsern Adel als bedeutungslos hinstellen, um die Privilegien des Adels als unbedeutende Abweichung von der Demokratie hinstellen zu können.

Psychologisch unvermeidlich sind auch bei der Lage der Bourgeoisie zwischen Hammer und Amboss die idealistischen Phrasen, mit denen unser Liberalismus im Allgemeinen und seine Lieblingsphilosophen im Besonderen jetzt so geschmacklos operieren.

Für die russische Befreiungsbewegung“ – lesen wir in der erläuternden Denkschrift – „ist die Demokratie nicht nur ein Faktum, sondern auch ein moralisch-politisches Postulat. Höher als die historische Rechtfertigung für jede Gesellschaftsform stellt sie die sittliche Rechtfertigung" …

Kein übles Beispiel jener schwülstigen und ganz inhaltsleeren Phraseologie, mit der unsere Liberalen ihre Vorbereitungen zum Verrat an der Demokratie „rechtfertigen"! Sie jammern über „die übelsten Beschuldigungen (?), die gegen die russische liberale Partei von den Vertretern der extremeren Elemente geäußert werden, als wolle diese Partei an Stelle des bürokratischen Absolutismus einen bürgerlich-adligen Absolutismus setzen", und gleichzeitig zwingen unsere Liberalen die einzige wirklich demokratische Institution ihres Entwurfes, die Kammer der Volksvertreter, die Macht mit der Monarchie und dem Oberhaus, der Semstwokammer, zu teilen!

Hier ihre „sittlichen" und „moralisch-politischen" Argumente für das Oberhaus. Erstens, „das Zweikammersystem existiert in Europa überall, mit Ausnahme von Griechenland, Serbien, Bulgarien und Luxemburg" … Also doch nicht überall, wenn es eine Reihe von Ausnahmen gibt? Und dann, was ist das für ein Argument: in Europa gibt es sehr viele antidemokratische Institutionen, deshalb … deshalb muss sie unser „tief demokratischer" Liberalismus übernehmen? Das zweite Argument: „es ist gefährlich, die gesetzgebende Macht in den Händen eines Organs zu konzentrieren", man müsse ein anderes Organ schaffen, um Fehler, „übereilte" Beschlüsse zu korrigieren… „soll denn Russland kühner als Europa sein"? Also, der russische Liberalismus will nicht kühner sein als der europäische, der anerkanntermaßen schon seine ganze Fortschrittlichkeit aus Angst vor dem Proletariat verloren hat! Das sind schöne Führer der „Befreiungs"bewegung! Noch hat Russland keinen einzigen halbwegs ernsten Schritt zur Freiheit gemacht, und schon haben die Liberalen Angst vor „Übereilung". Könnte man nicht, Herrschaften, mit diesen Argumenten ebenso gut auch die Ablehnung des allgemeinen Wahlrechts rechtfertigen?

Das dritte Argument: „Eine der Hauptgefahren, die jeder politischen Ordnung in Russland droht, ist die Verwandlung in ein Regime jakobinischer Zentralisation". Wie entsetzlich! Die opportunistischen Liberalen scheinen nicht abgeneigt zu sein, gegen die Demokratie der unteren Volksschichten Waffen von den Opportunisten der Sozialdemokratie, den Anhängern der neuen „Iskra", zu entlehnen. Der unsinnige Popanz des „Jakobinertums", den Axelrod, Martynow und Co. hervorgeholt haben, leistet den „Oswoboschdjenije"-Leuten einen nützlichen Dienst. Aber mit Verlaub, Herrschaften, wenn ihr wirklich die Extreme des Zentralismus (und nicht die „Extreme" des konsequenten Demokratismus) fürchtet, warum dann überhaupt das Wahlrecht zu den lokalen Selbstverwaltungskörperschaften der Semstwos und der Städte beschränken?? Und ihr beschränkt es ja. Durch Artikel 68 eures Entwurfs beschließt ihr, dass „jede Person, die das Wahlrecht zu der Kammer der Volksvertreter besitzt, das gleiche Recht zur Teilnahme an den lokalen Wahlen hat, wenn sie im betreffenden Kreis oder in der betreffenden Stadt während einer bestimmten Dauer, die ein Jahr nicht überschreitet, ansässig war". Dieser Artikel führt doch einen Zensus ein, er verwandelt doch das Wahlrecht faktisch in ein nicht allgemeines, denn jeder begreift, dass gerade die Arbeiter, Landarbeiter und Tagelöhner am häufigsten von Stadt zu Stadt, von Kreis zu Kreis wandern müssen und keinen festen Wohnsitz haben. Das Kapital schleudert die Arbeitermassen von dem einen Ende des Landes an das andere, raubt ihnen die Sesshaftigkeit, und dafür soll die Arbeiterklasse einen Teil ihrer politischen Rechte verlieren!

Diese Beschränkung des allgemeinen Wahlrechts wird gerade für jene Semstwo- und Stadtinstitutionen durchgeführt, die das Oberhaus, die Semstwokammer, zu wählen haben. Zum angeblichen Kampf gegen die Extreme des jakobinischen Zentralismus dient eine doppelte Abweichung von der Demokratie: erstens die Beschränkung des allgemeinen Wahlrechts durch einen Ansässigkeitszensus, zweitens der Verzicht auf das Prinzip des direkten Wahlrechts durch Einführung zweistufiger Wahlen! Geht daraus nicht klar genug hervor, dass der Popanz des Jakobinismus nur allen möglichen Opportunisten dient?

Ja, nicht umsonst sprach Herr Struve seine prinzipielle Sympathie für die sozialdemokratischen Girondisten – die Anhänger der neuen „Iskra" – aus, nicht umsonst pries er Martynow, den berühmten Kämpen gegen den „Jakobinismus". Die sozialdemokratischen Gegner des Jakobinismus ebneten und ebnen direkt den Weg für die liberalen Bourgeois.

Die Behauptung der „Oswoboschdjenije"-Leute, dass gerade das von den Semstwokörperschaften zu wählende Oberhaus fähig sei, das „Prinzip der Dezentralisation", das „Moment der Vielgestaltigkeit der verschiedenen Teile Russlands" zum Ausdruck zu bringen, ist der größte Unsinn. Die Dezentralisation kann sich nicht in der Beschränkung der Allgemeinheit der Wahl ausdrücken; die Vielgestaltigkeit kann nicht durch die Beschränkung des Prinzips der direkten Wahlen zum Ausdruck kommen. Nicht das ist der springende Punkt, den die „Oswoboschdjenije"-Leute zu verdunkeln suchen. Der springende Punkt ist, dass nach ihrem System unvermeidlich das Oberhaus vorzugsweise und hauptsächlich zu einem Organ des Adels und der Bourgeoisie wird, denn gerade das Proletariat wird durch den Ansässigkeitszensus und das zweistufige Wahlsystem am meisten zurückgedrängt. Dieser Kernpunkt leuchtet jedem, der einigermaßen mit den politischen Fragen vertraut ist, so sehr ein, dass die Verfasser des Entwurfs selbst den unausbleiblichen Einwand voraussehen.

Aber, wird man sagen“ – lesen wir in der Denkschrift –, „mögen die Wahlen organisiert sein wie sie wollen, die überwiegende Bedeutung im lokalen Leben dürfte bei den Großgrundbesitzern und der Unternehmerklasse bleiben. Uns dünkt“ (welch tief demokratisches Dünken!), „dass sich auch hier die übertriebene Angst vor dem ,bürgerlichen Element' äußert. Es hat nichts Ungerechtes (I!) an sich, dass die grundbesitzende und industrielle Klasse eine ausreichende (!) Möglichkeit erhält, ihre Interessen zu vertreten (das allgemeine Wahlrecht genügt dem bürgerlichen Element nicht!), wenn zugleich damit eine breite Möglichkeit für die Vertretung der anderen Bevölkerungsgruppen eröffnet wird. Moralisch unzulässig und politisch gefährlich sind lediglich Privilegien" …

Mögen sich die Arbeiter diese „liberale" Moral gut ins Gedächtnis prägen. Sie gestattet, sich mit Demokratismus zu brüsten, die „Privilegien" zu verurteilen und den Ansässigkeitszensus, die indirekte Wahl, die Monarchie zu rechtfertigen … Die Monarchie ist wohl kein „Privilegium", oder doch – ein moralisch zulässiges und politisch ungefährliches Privilegium!

Schön beginnen unsere Führer der „Befreiungs"bewegung aus der Gesellschaft! Selbst in ihren kühnsten Entwürfen, die ihre Partei als Ganzes nicht im Geringsten binden, erfinden sie bereits von vornherein eine Rechtfertigung der Reaktion, verteidigen sie die Privilegien der Bourgeoisie, indem sie sophistisch zu beweisen suchen, dass ein Privilegium kein Privilegium sei. Selbst in ihrer von materiellen Berechnungen am meisten freien, von den unmittelbar politischen Zielen am meisten entfernten literarischen Tätigkeit prostituieren sie schon den Begriff der Demokratie und verleumden die am meisten konsequenten bürgerlichen Demokraten – die Jakobiner der Epoche der großen französischen Revolution. Was soll nun noch erst werden? Wie werden erst die vor der Partei verantwortlichen und führenden Politiker der liberalen Bourgeoisie sprechen, wenn schon jetzt die idealistischen Liberalen sich mit der theoretischen Vorbereitung des Verrats beschäftigen? Wenn schon die kühnsten Wünsche der äußersten Linken der „Oswoboschdjenije"-Richtung nicht über eine Monarchie mit einem Zweikammerparlament hinausgehen, wenn die Ideologen des Liberalismus nur das fordern, worauf werden dann die Geschäftemacher des Liberalismus handelseinig werden?

Für das revolutionäre Proletariat liefern die politischen Sophistereien des Liberalismus ein winziges, aber wertvolles Material, aus dem es die wahre Klassennatur selbst der vorgeschrittenen Elemente der Bourgeoisie kennenlernen kann.

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