Lenin‎ > ‎1905‎ > ‎

Wladimir I. Lenin 19050104 Über gute Demonstrationen der Proletarier und schlechte Betrachtungen einiger Intellektueller

Wladimir I. Lenin: Über gute Demonstrationen der Proletarier und

schlechte Betrachtungen einiger Intellektueller

[Wperjod" Nr. 1 vom 4. Januar 1905 (22. Dezember 1904). Nach Sämtliche Werke, Band 7, 1929, S. 44-50]

Die gegenwärtige Verfassungsbewegung innerhalb der besitzenden Klassen unserer Gesellschaft unterscheidet sich scharf von den vorhergegangenen Bewegungen derselben Art am Ende der fünfziger und siebziger Jahre. Zwar sind die Verfassungsforderungen der Liberalen im Grunde dieselben geblieben. Die radikalen Redner wiederholen die bekannten Thesen des Semstwoliberalismus. Eine große und sehr wichtige neue Tatsache aber ist die Teilnahme des Proletariats an der Bewegung. Die russische Arbeiterklasse, deren Bewegung die Hauptachse der gesamten revolutionären Bewegung des letzten Jahrzehntes war, ist bereits längst zum offenen Kampf, zu Straßendemonstrationen, zu öffentlichen Massenversammlungen trotz der Polizei, zu direkten Zusammenstößen mit dem Feind in den Straßen der südrussischen Städte übergegangen.

Auch jetzt stand die bürgerlich-liberale Bewegung sofort im Zeichen eines ausgeprägten, entschiedenen, unvergleichlich schärferen und kühneren Auftretens des Proletariats. Wir verweisen vor allem auf die Demonstration in Petersburg, wo die Beteiligung der Arbeiter, infolge des desorganisierenden Treibens der „Menschewiki", leider nur schwach war, und auf die Demonstration in Moskau. Zu erwähnen ist ferner das Erscheinen der Arbeiter auf dem bürgerlich-liberalen Bankett in Smolensk, in der Versammlung der Volksbildungsgesellschaft in Nischni-Nowgorod, in den Sitzungen wissenschaftlicher, ärztlicher und sonstiger Vereine in den verschiedenen Städten, eine große Arbeiterversammlung in Saratow, eine Demonstration am 6. November in der Juristischen Gesellschaft in Charkow, am 20. November in der Stadtverordnetenversammlung in Jekaterinodar, am 18. November in der Odessaer Gesellschaft zum Schutze der Volksgesundheit, und etwas später, wiederum in Odessa, im Kreisgericht, wobei beide Demonstrationen in Odessa und die in Charkow von Straßendemonstrationen der Arbeiter, von Umzügen mit Fahnen, von dem Gesang revolutionärer Lieder usw. begleitet waren.

Diese vier letzten Demonstrationen sind unter anderem in Nr. 79 der „Iskra" in der Rubrik „Proletarische Demonstrationen" beschrieben, und auf diese Beschreibung möchte ich die Aufmerksamkeit des Lesers lenken. Zuerst werde ich die Tatsachen nach der „Iskra" wiedergeben und dann – die Betrachtungen der „Iskra".

In Charkow organisiert ein Komitee die Teilnahme der Arbeiter an der Versammlung der Juristischen Gesellschaft; in die Versammlung kommen gut 200 Arbeiter: teils scheuten sich die Arbeiter, in die Paradeversammlung zu gehen, teils wurde „der Plebs nicht eingelassen". Der liberale Vorsitzende ergreift nach der ersten revolutionären Rede die Flucht. Es folgt die Rede eines Sozialdemokraten, Flugblätter flattern umher, die Marseillaise wird gesungen, eine Menge von ungefähr 500 Arbeitern strömt auf die Straße, marschiert mit einer roten Fahne und singt Arbeiterlieder. Ganz am Schluss wird ein Teil verprügelt und verhaftet.

Jekaterinodar. Ein großes Publikum ist (durch das Gerücht über bevorstehende liberale Reden) ins Rathaus gelockt worden. Das Telefon wird unbrauchbar gemacht. Ein Redner des Komitees dringt mit 30 bis 40 Arbeitern in den Saal, hält eine kurze, durchaus revolutionäre sozialdemokratische Ansprache. Beifall. Flugblätter. Die Stadtverordneten sind starr. Vergeblicher Protest des Bürgermeisters. Die Demonstranten entfernen sich zum Schluss in vollkommener Ruhe. In der Nacht Massenhaussuchungen.

Odessa. Erste Demonstration. In der Versammlung sind ungefähr 2000 Menschen, darunter eine Masse Arbeiter. Eine Reihe revolutionärer Reden (von Sozialdemokraten und Sozialrevolutionären), donnernder Beifall, revolutionäre Zwischenrufe, Flugblätter. Umzug durch die Straßen mit revolutionären Liedern. Löst sich ohne Zusammenstöße auf.

Odessa. Zweite Demonstration. Eine Versammlung von mehreren Tausend. Eine ebenso großartige revolutionäre Volksversammlung mit Straßenumzug, wie bei der vorhergehenden. Metzelei. Eine Menge Verwundeter, einige schwer. Eine Arbeiterin stirbt. 60 Verhaftungen.

Das die faktische Seite der Sache. So sind die Demonstrationen der russischen Proletarier.

Anders aber die Betrachtungen einiger sozialdemokratischer Intellektueller. Diese Betrachtungen beziehen sich auf die Demonstration in Jekaterinodar, über die ein ganzer Artikel geschrieben wird. Man höre: „In dieser Demonstration begegneten sich zum ersten Mal das russische organisierte Proletariat und unsere liberal gesinnte Bourgeoisie von Angesicht zu Angesicht!" Diese Demonstration sei „ein weiterer Schritt in der Entwicklung der Formen des politischen Kampfes", sie sei „immerhin eine wirklich neue Methode des politischen Kampfes, die ganz offensichtliche, fruchtbare Resultate zeitigt", bei solchen Demonstrationen „fühlen" die Arbeiter, „dass sie als bestimmte politische Einheiten auftreten", sie bekommen „das Gefühl ihrer Rechtsfähigkeit als parteimäßig organisierte politische Kämpfer". Es verbreite sich „in weitesten Kreisen der Gesellschaft die Geltung der Partei als etwas fest Umrissenes, Geformtes, und vor allem als etwas, das das Recht hat, zu fordern". Man gewöhne sich daran, die ganze Partei „als eine aktive, kämpfende, ihre Forderungen klar und bestimmt erhebende politische Kraft" anzusehen. Man müsse sich „der neuen Kampfmethode in größerem Maße bedienen – in den Dumas, in den Semstwos und auf allen möglichen Tagungen der im öffentlichen Leben Tätigen". Und im Einklang mit dem Verfasser dieser Betrachtungen spricht die Redaktion der „Iskra" von der „Idee eines neuen Demonstrationstypus", davon, dass es „besonders in Jekaterinodar unseren Genossen gelungen ist, der ,Gesellschaft' zu zeigen, dass sie als selbständige Partei handeln, die sich fähig fühlt, Einfluss auf den Gang der Ereignisse auszuüben, und dies auch zu tun versucht".1

So, so. „Besonders in Jekaterinodar" … Ein neuer Schritt, eine neue Methode, eine neue Art, zum ersten Mal von Angesicht zu Angesicht, ganz offensichtliche, fruchtbare Resultate, bestimmte politische Einheiten, Gefühl der politischen Rechtsfähigkeit, Recht zu fordern … Etwas Altes, längst Vergangenes, fast Vergessenes wehte mir aus diesen gespreizten, tiefsinnigen Betrachtungen entgegen. Aber ehe ich mir Rechenschaft gab, woher ich dieses Alte schon kenne, fragte ich unwillkürlich: Mit Verlaub, ihr Herren, aber warum „besonders in Jekaterinodar", warum soll dies wirklich eine neue Methode sein? Warum sind es nicht die Charkower oder die Odessaer, die sich dicke tun (man verzeihe mir den vulgären Ausdruck) mit der Neuheit der Methode, mit den offensichtlichen, fruchtbaren Resultaten, mit der ersten Begegnung von Angesicht zu Angesicht und dem Gefühl ihrer politischen Rechtsfähigkeit? Weshalb sollen die Resultate einer Versammlung von ein paar Dutzend Arbeitern mit Hunderten von Liberalen in den vier Wänden des Rathaussaales offensichtlicher und fruchtbarer sein als eine Versammlung von Tausenden von Arbeitern, nicht nur in den Gesellschaften der Ärzte und Juristen, sondern auch auf der Straße? Entwickeln etwa wirklich die Straßenversammlungen (in Odessa und auch schon die früheren in Rostow am Don und in anderen Städten) weniger als die Versammlungen im Rathaus das Gefühl der politischen Rechtsfähigkeit und das Recht zu fordern? … Ich muss allerdings gestehen, dass ich ein etwas peinliches Gefühl empfinde, wenn ich diese Wortverbindung (Recht zu fordern) niederschreibe, es ist schon gar zu unklug, aber so steht es nun einmal da.

Übrigens, in einem Falle bekommt diese Wortverbindung einen gewissen Sinn, und nicht nur sie allein, sondern auch die ganzen Betrachtungen der „Iskra". In dem Falle nämlich, wenn wir die Existenz des Parlamentarismus voraussetzen, wenn wir uns für einen Augenblick vorstellen, dass das Rathaus von Jekaterinodar an die Ufer der Themse, neben die Westminster-Abtei2, versetzt worden sei. Dann, diese Kleinigkeit vorausgesetzt, wird es klar, weshalb man innerhalb der vier Wände einer Delegiertenversammlung mehr „Recht zu fordern" hat als auf der Straße – weshalb der Kampf mit dem Premierminister, will sagen mit dem Bürgermeister von Jekaterinodar, fruchtbarer ist als der mit dem Schutzmann –, weshalb das Gefühl der politischen Rechtsfähigkeit und das Bewusstsein, bestimmte politische Einheiten darzustellen, im Sitzungssaal der Deputiertenkammer bzw. in der Semstwoversammlung gesteigert wird. In der Tat, warum soll man nicht, in Ermangelung eines wirklichen Parlaments, ein bisschen Parlamentarismus spielen? Dabei kann man sich die „Begegnung von Angesicht zu Angesicht" und die „neue Methode", und was weiß ich noch, so malerisch vorstellen! Freilich, diese Vorstellungen werden durch die Parlamentarismus-Spielerei unser Denken unvermeidlich ablenken von den Fragen des wirklichen Massenkampfes für den Parlamentarismus, aber das sind Kleinigkeiten. Dafür haben wir ja offensichtliche, greifbare Resultate …

Greifbare Resultate… Dieser Ausdruck erinnerte mich sofort an den Genossen Martynow und an das „Rabotscheje Djelo". Ohne auf dieses zurückzugreifen, ist es unmöglich, die neue „Iskra" richtig einzuschätzen. Die Betrachtungen über die „neue Kampfmethode" aus Anlass der Demonstration in Jekaterinodar wiederholen ganz und gar die Betrachtungen der Redaktion in ihrem „Schreiben an die Parteiorganisationen" (nebenbei: ist es vernünftig, das Original verborgen, geheim zu halten und nur die Kopie offen zur allgemeinen Kenntnis zu bringen?). Die Betrachtungen der Redaktion geben, aus anderem Anlass, den üblichen Gedankengang des „Rabotscheje Djelo" wieder.

Worin bestand das Falsche und Schädliche an der Theorie des „Rabotscheje Djelo" von der Politisierung des ökonomischen Kampfes, vom ökonomischen Kampf der Arbeiter gegen die Unternehmer und die Regierung, von der Notwendigkeit, der Regierung konkrete Forderungen zu stellen, die bestimmte greifbare Resultate versprechen? Müssen wir etwa nicht dem ökonomischen Kampf einen politischen Charakter verleihen? Unbedingt müssen wir das. Wenn aber das „Rabotscheje Djelo" die politischen Aufgaben der revolutionären Partei des Proletariats aus dem „ökonomischen" (gewerkschaftlichen) Kampf ableitete, so engte es in unverzeihlicher Weise die sozialdemokratische Auffassung ein und verflachte sie, so setzte es die Aufgaben des allseitigen politischen Kampfes des Proletariats herab.

Worin besteht das Falsche und Schädliche an der Theorie der neuen „Iskra" von der neuen Methode, von dem höheren Typus der Mobilisierung der proletarischen Kräfte, von dem neuen Weg zur Entwicklung des Gefühls der politischen Rechtsfähigkeit der Arbeiter, von ihrem „Recht zu fordern" usw. usw.? Müssen wir etwa nicht Arbeiterdemonstrationen sowohl in den Semstwoversammlungen als auch aus Anlass der Semstwoversammlungen veranstalten? Unbedingt müssen wir das. Aber aus Anlass guter proletarischer Demonstrationen dürfen wir nicht intelligenzlerische Dummheiten reden. Wir würden das Bewusstsein des Proletariats nur korrumpieren, wir würden seine Aufmerksamkeit von den schnell näher rückenden Aufgaben eines wirklichen, ernsten, offenen Kampfes nur ablenken, wollten wir unter dem Namen einer neuen Methode gerade jene Züge unserer gewöhnlichen Demonstrationen preisen, die am allerwenigsten einem aktiven Kampf ähnlich sind, von denen man nur im Scherz behaupten kann, dass sie besonders fruchtbare Resultate zeitigten, dass sie besonders das Gefühl der politischen Rechtsfähigkeit steigerten usw.

Unser alter Bekannter, Genosse Martynow, wie die neue „Iskra" kranken beide an dem gleichen intelligenzlerischen Unglauben an die Kraft des Proletariats, an seine Fähigkeit zur Organisation im Allgemeinen, zur Schaffung einer Parteiorganisation im Besonderen, an seine Fähigkeit zum politischen Kampf. Das „Rabotscheje Djelo" glaubte, dass das Proletariat noch nicht fähig sei oder noch lange nicht fähig sein werde, einen politischen Kampf zu führen, der über die Grenzen des wirtschaftlichen Kampfes gegen die Unternehmer und die Regierung hinausgehe. Die neue „Iskra" glaubt, dass das Proletariat zur selbständigen revolutionären Aktion noch nicht fähig sei oder noch lange nicht fähig sein werde, und deshalb nennt sie das Auftreten von ein paar Dutzend Arbeitern vor den Semstwomitgliedern eine neue Kampfmethode. Sowohl das alte „Rabotscheje Djelo" wie die neue „Iskra" schwören nur deshalb immer wieder auf die Worte Selbsttätigkeit und Selbsterziehung des Proletariats, weil sich hinter diesen Schwüren die intelligenzlerische Verkennung der wirklichen Kräfte und aktuellen Aufgaben des Proletariats verbirgt. Die neue „Iskra" wie das alte „Rabotscheje Djelo" reden ganz ungereimten, tiefgründigen Unsinn über die besondere Bedeutung der greifbaren, offensichtlichen Resultate und die konkrete Gegenüberstellung von Bourgeoisie und Proletariat, indem sie dadurch die Aufmerksamkeit des letzteren auf eine Parlamentarismus-Spielerei hin lenken und von der immer näher rückenden Aufgabe des direkten Angriffs auf den Absolutismus an der Spitze eines Volksaufstandes ablenken. Das alte „Rabotscheje Djelo" wie die neue „Iskra", die eine Revision der alten organisatorischen und taktischen Grundsätze der revolutionären Sozialdemokratie vornehmen, die geschäftig nach neuen Schlagwörtern und „neuen Methoden" suchen, zerren in Wirklichkeit die Partei nach rückwärts, sie stellen überholte oder gar direkt reaktionäre Losungen auf.

Wir haben genug von dieser neuen Revision, die zum alten Plunder zurückführt! Es ist Zeit, dass man vorwärts geht, dass man aufhört, die Desorganisation durch die berüchtigte Theorie von der Organisation als Prozess zu bemänteln, es ist Zeit, auch bei den Arbeiterdemonstrationen jene Züge zu unterstreichen und in den Vordergrund zu rücken, die sie dem unverfälschten, offenen Kampf um die Freiheit immer näher bringen!

1 Die Zitate sind aus der Nr. 79 der „Iskra" vom 14. (1.) Dezember 1904 entnommen.

2 Neben der Westminsterabtei in London befindet sich das englische Parlament.

Kommentare