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Zentralkomitee der SDAPR 19051024 Konferenz der sozialdemokratischen Organisationen in Russland

ZK der SDAPR: Konferenz der sozialdemokratischen Organisationen

in Russland

[Proletarij", Nr. 22. 11./24. Oktober 1905. Nach Lenin, Sämtliche Werke, Band 8, Wien-Berlin 1931, S. 592-595]

Anfangs September tagte eine interparteiliche Konferenz der sozialdemokratischen Organisationen Russlands zur Ausarbeitung einer gemeinsamen Taktik gegenüber der Reichsduma.

Zur Konferenz waren die Vertreter folgender zentralen Körperschaften eingeladen: Armenische sozialdemokratische Organisation, Allgemeiner Jüdischer Arbeiterbund in Litauen, Polen und Russland („Bund"), Lettische Sozialdemokratische Arbeiterpartei, Revolutionäre Ukrainische Partei, Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands (OK), Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands (ZK) und Sozialdemokratie Polens und Litauens. Erschienen waren die Vertreter aller eingeladenen Organisationen mit Ausnahme der armenischen sozialdemokratischen Arbeiterorganisation, die mitgeteilt hat, dass sie keinen Delegierten schicken konnte, weil sie vom Tage des Zusammentritts der Konferenz zu spät verständigt wurde.

Das Mitglied der OK erklärte, dass er nur zufällig anstelle des nicht rechtzeitig eingetroffenen Delegierten auf der Konferenz anwesend sei und von seiner Organisation keine Vollmacht habe, sie auf der Konferenz zu vertreten. Er sehe sich daher zur Teilnahme an der Konferenz nur dann berechtigt, wenn ihre Beschlüsse für die Organisation, der er angehört, nicht verbindlich sind und wenn die besondere Stellung, die er einnimmt, kein Hindernis für seine Teilnahme an der Konferenz „mit den Rechten eines voll berechtigten Mitgliedes" sein wird. Nachdem die Konferenz beschlossen hat, dass 1. alle mit einfacher Stimmenmehrheit (organisationsweise) angenommenen Resolutionen für alle Organisationen, deren Vertreter für diese Resolutionen gestimmt haben, bindend sind; 2. dass die Veröffentlichung der angenommenen Resolutionen auch für die Organisationen bindend ist, deren Vertreter gegen sie gestimmt haben, fasste sie über die Erklärung des Mitgliedes der OK den folgenden Beschluss: Die endgültige Feststellung der Stimmen, die bei den Beschlüssen über die einzelnen Fragen abgegeben wurden, wird erst nach der Mitteilung der OK über die Ratifizierung der Abstimmung ihres Mitgliedes erfolgen, wobei die Antwort innerhalb einer Frist von..…erfolgen muss. Wenn bis zur festgesetzten Frist eine Antwort nicht einläuft, wird bei der Feststellung des Stimmenverhältnisses die Stimme des Mitgliedes der OK nur als beratende Stimme gezählt.

Im Interesse einer möglichst raschen Auswertung der Beschlüsse fasste die Konferenz den Beschluss: die Resolutionen, die die unbedingte Mehrheit der Stimmen erhalten haben, sind bereits vor der endgültigen Feststellung des Stimmenverhältnisses und vor ihrer Veröffentlichung für die Organisationen, die sie angenommen haben, bindend.

Nach Klärung der Stellung der an der Konferenz beteiligten Organisationen zur Reichsduma und nach gründlicher Diskussion zu dieser Frage wurde folgende Resolution angenommen:

Resolution über die Reichsduma

Wir Vertreter der zentralen Körperschaften des Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbundes in Litauen, Polen und Russland (Bund), der Lettischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, der Polnischen Sozialdemokratie, der Revolutionären Ukrainischen Partei und der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (ZK) sind nach Erörterung der Frage der Stellung zur Reichsduma auf der Konferenz zu folgendem Beschluss gelangt:

Die von der zaristischen Regierung einberufene Reichsduma ist nur die grobe Verfälschung einer Volksvertretung, dazu bestimmt, die durch die revolutionäre Bewegung des Proletariats ins Schwanken geratene Macht des Absolutismus zu retten und zu festigen und der Regierung und der Bourgeoisie ein Werkzeug zur Festigung ihrer politischen Herrschaft über das Proletariat und die arme Bauernschaft in die Hand zu geben.

Mit Hilfe der Illusion einer Volksvertretung erstrebt der Absolutismus die politische Annäherung an einen großen Teil der durch die Arbeiterbewegung eingeschüchterten, nach Ordnung dürstenden Bourgeoisie und, gestützt auf deren Sympathie und Unterstützung und bereits im Bunde mit ihr, die Unterdrückung der revolutionären Bewegung des Proletariats und der Bauernschaft.

Alle grundlegenden Bestimmungen des Gesetzes vom 6./19. August stehen in vollem Einklang mit dieser Bestimmung der Reichsduma als eines neuen Organs der zaristischen Regierung.

1. Das auf einem hohen Vermögenszensus aufgebaute Wahlsystem schließt das gesamte Proletariat, alle Frauen, mehr als neun Zehntel der Bauernschaft, die Mehrheit der werktätigen Intelligenz und des städtischen Kleinbürgertums von der Teilnahme an den Wahlen aus. Für jenen Teil der Bevölkerung aber, der von der Teilnahme an den Wahlen nicht ausgeschlossen ist, verwandelt die Vielstufigkeit der Wahlen das Wahlrecht in eine leere Fiktion.

2. Die der Reichsduma zugebilligte Kompetenz verwandelt sie in eine ausschließlich beratende Versammlung, die keinerlei gesetzgeberische Macht hat, nimmt ihr infolgedessen jede positive Bedeutung für das Volk und degradiert sie zu einem bloßen Anhängsel des bürokratischen Mechanismus des russischen Absolutismus.

3. Das Fehlen der elementarsten Bürgerrechte – Rede-, Presse-, Versammlungs- und Koalitionsfreiheit, Unverletzlichkeit der Person und der Wohnung – zusammen mit den immer häufiger angewandten härtesten Repressalien in Gestalt des Belagerungszustandes, der Massenerschießungen, der Organisierung der Schwarzen Hunderte und der Schürung des Nationalitätenhasses verwandeln die Wahlen selber in eine freche Komödie, die der Regierung die von ihr gewünschte Zusammensetzung der Reichsduma voll sichert. Aus diesem Grunde beschließt die Konferenz:

I. Die Reichsduma ist ihrem ganzen Wesen nach unfähig, irgendwelche auch nur einigermaßen befriedigende Maßnahmen zur Verbesserung der wirtschaftlichen und rechtlichen Lage der breiten Volksmassen zu treffen, und alle Hoffnungen in dieser Hinsicht, die von der Regierung und einem Teil der Bourgeoisie mit solchem Eifer im Volke geweckt werden, sind nur geeignet, die Absichten des Absolutismus zu unterstützen, da sie die revolutionäre Energie des Proletariats und der Bauernschaft schwächen und ihre Kampfstimmung beeinträchtigen.

II. Der Erlass über die Reichsduma, der die Richtigkeit unserer taktischen Losung bewiesen hat, dass nur der siegreiche Volksaufstand mit dem Proletariat an der Spitze dem absolutistischen Regime ein Ende machen und jene Staatsform – die demokratische Republik – schaffen wird, die die breiteste Entwicklung des Klassenkampfes des Proletariats sichern kann, hat noch einmal die russische Sozialdemokratie vor die unaufschiebbare Tagesaufgabe der Vorbereitung zum bewaffneten Volksaufstand gestellt.

Darum beschließt die Konferenz:

I. Die bevorstehende Wahlkampagne für die Zwecke der breitesten Agitation auszunützen.

öffentliche Versammlungen zu veranstalten und in möglichst großer Zahl in alle Wählerversammlungen einzudringen, dort den wahren Charakter und die Zwecke der Reichsduma zu enthüllen und ihr die Notwendigkeit der Einberufung der konstituierenden Versammlung auf revolutionärem Wege auf Grund des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Stimmrechts entgegenzustellen.

Alle aufrichtig demokratischen Elemente der Gesellschaft zum aktiven Boykott der Duma aufzufordern und diejenigen, die sich an der Wahl beteiligen, als Verräter an der Sache der Volksfreiheit zu brandmarken.

In allen Versammlungen entsprechende Resolutionen über die Stellung zur Reichsduma und über den Anschluss an den revolutionären Kampf des Proletariats zur Annahme zu bringen.

II. Als Protest gegen die Institution der Reichsduma und zum Zwecke der Ausübung eines Druckes auf die Wähler und Wahlmänner offene Massenkundgebungen des Proletariats zu veranstalten.

III. Am Tage der endgültigen Wahlen zur Reichsduma überall allgemeine politische Streiks, Kundgebungen und Demonstrationen zur veranstalten und alle Mittel zur Verhinderung der Wahlen anzuwenden, ohne, wo notwendig, auch vor dem gewaltsamen Sprengen der Wählerversammlungen zurückzuschrecken.

Resolution über die Ereignisse im Kaukasus

Die Politik der nationalen Verhetzung ist in den letzten Jahren zur Hauptwaffe der Regierung in ihrem Kampfe gegen die revolutionäre proletarische Bewegung geworden und hat in den jüngsten kaukasischen Ereignissen, wo sie zu einer blutigen Schlacht zwischen Armeniern und Tataren geführt hat, ihren Höhepunkt erreicht. Die Konferenz, die ihrer Empörung über das barbarische Vorgehen des Absolutismus Ausdruck gibt, ist überzeugt, dass nur der solidarische Kampf der Proletarier alle Nationalitäten unter dem einigen Banner der Sozialdemokratie der nationalen Politik des Zarismus den geziemenden Widerstand entgegenzusetzen imstande sein wird; die Konferenz spricht den Bakuer und den tatarischen Genossen sowie dem gesamten Proletariat des Kaukasus ihre tiefste Sympathie aus, in der Überzeugung, dass sie auch in Zukunft, ungeachtet aller Hindernisse, den revolutionären Kampf zusammen mit dem Proletariat ganz Russlands bis zum endgültigen Siege über den Zarismus führen werden.*

ZK der SDAPR

* Es folgen die Unterschriften der Delegierten aller oben angeführten Parteien mit Ausnahme der OK der Minderheit. Bis zu der von der interparteilichen Konferenz festgesetzten Frist war keine Antwort der OK der Minderheit eingetroffen. Deshalb musste auf Grund des Beschlusses der Konferenz die Stimme des Mitglieds der OK als beratende betrachtet werden.

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