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Zentralkomitee der SDAPR 19051010 Zur Frage der Parteivereinigung

ZK der SDAPR: Zur Frage der Parteivereinigung

(Protokoll und Kommentare)

[„Proletarij", Nr. 20, 27. September/10. Oktober 1905. Nach Lenin, Sämtliche Werke, Band 8, 1931, S. 588-592]

In der 3. Beratung der Vertreter der OK und des ZK über die Frage der Parteivereinigung formulierte der Vertreter der OK in Beantwortung der ihm von den Vertretern des ZK vorgelegten Fragen die Grundlagen der Vereinigungskampagnen wie folgt:

1. Nach Ausarbeitung der Vereinbarung über die Methoden der endgültigen Wiederherstellung der Einheit der Partei setzen das ZK und die OK eine Vereinigungskommission ein, in die sie die gleiche Anzahl Vertreter delegieren. Die Aufgabe der Kommission besteht in der Durchführung des aufgestellten Vereinigungsplanes, ergänzt durch die Zustimmung beider Zentralstellen.

2. Die Vorbedingungen der vollkommenen Vereinigung der Parteien, auch wenn diese auf dem Wege eines Parteitages erfolgt, ist die volle Verschmelzung der parallelen Organisationen in der Mehrheit der wichtigsten Zentren der sozialdemokratischen Parteiarbeit: St. Petersburg, Moskau, Odessa, Jekaterinoslaw, Riga, Nischni-Nowgorod, Baku. Die Grundlage für diese Verschmelzung sind im Protokoll der ersten Vereinigungsverhandlung des ZK und der OK festgelegt.

3. In Anbetracht dessen, dass ein Parteitag für die endgültige Vereinigung beider Teile der Partei im gegenwärtigen Augenblick nicht notwendig ist, hält es der Vertreter der OK nur für möglich, sich für ihn auszusprechen, wenn sowohl die für die Einberufung eines wirklichen Parteitages nötigen Bedingungen wie die in Punkt 2 dargelegten Bedingungen gegeben sind.

Nach Erläuterung dieser Erklärung hat das ZK beschlossen, folgende Antwort zu geben:

Zu Punkt 1: Das ZK sympathisiert mit dem Plan der Einsetzung einer Vereinigungskommission, meint aber, dass diese Kommission, die selbstverständlich nur dann notwendig ist, wenn die volle Verschmelzung beider Teile auf Grund der Arbeiten des 3. Parteitages nicht gelingt, es sich zur besonderen Aufgabe machen muss, den Vereinigungsparteitag vorzubereiten und zu organisieren.

Zu Punkt 2 und 3: Das Zentralkomitee betrachtet die Verschmelzung der parallelen örtlichen Organisationen als höchst wünschenswert, ist aber anderseits der Ansicht, dass es für die Vereinigung äußerst unvorteilhaft wäre, die Verschmelzung der größeren örtlichen Organisationen zur Vorbedingung der Einberufung des Vereinigungsparteitages und auch der Vereinigung der Zentralstellen zu machen. Auf diese Weise würde der Parteitag und auch die Vereinigung selbst auf unbestimmte Zeit hinausgeschoben, da es keinerlei Mittel gibt, eine Reihe größter und im schroffsten Gegensatz zueinander stehender Organisationen, angesichts der bestehenden und nicht beseitigten organisatorischen Differenzen und des Bestehens zweier getrennter Zentralapparate, zur Verschmelzung zu bringen. Mit welcher der beiden Zentralstellen wären die vereinigten örtlichen Organisationen verbunden? Und würden sie sich ohne die Durchführung der vom Vertreter der OK angeführten Reformen (Zusprechung einer beschließenden Stimme in bestimmten Fällen an die Peripherieorganisation) verschmelzen, wäre das dann nicht ein neues Hindernis für die Einberufung des Parteitages und für die Vereinigung überhaupt? Nach der von der OK vorgelegten Formulierung zu schließen, wäre das ein Hindernis.

In Ergänzung dazu ist das ZK jetzt nach erfolgtem Einvernehmen mit dem verantwortlichen Redakteur seines Zentralorgans in der Lage, auf den Punkt 5 der vom Vertreter der OK in der ersten und zweiten Beratung des ZK vorgetragenen ultimativen Vereinigungsbedingungen zu antworten.

Das ZK, das das Bestehen zweier zentraler bzw. zweier offizieller Organe der Partei für die Parteivereinigung als äußerst schädlich betrachtet (es wären das zwei allgemein-parteiliche Mittelpunkte für die Entstehung und Kristallisierung aller möglichen Differenzen und Missverständnisse) und der Meinung ist, dass das ZK kraft der bindenden Beschlüsse des 3. Parteitages auch formell nicht das Recht hätte, eine solche Kombination zu fördern, spricht sich seinerseits entschieden für ein einziges Zentralorgan mit einer Koalitions-Redaktion aus.

Das ZK ist der Meinung, dass im Falle der endgültigen Ablehnung der Vereinigung auf der Grundlage des 3. Parteitages durch die Genossen Menschewiki ein Vereinigungsparteitag der einzig mögliche Weg zur Verschmelzung beider Teile wäre. Das ZK hält alle einschränkenden Bedingungen für die Einberufung dieses Parteitages für unnötig und schädlich, mit Ausnahme der Bedingungen, die die richtige Vertretung der Partei auf diesem Parteitage garantieren. Das ZK würde vorschlagen, eine Vereinbarung über die Zeit der Einberufung dieses Parteitages zu treffen und dann örtliche und gebietsweise gemeinsame Konferenzen zur Vorbereitung des Parteitages zu veranstalten. Das ZK ist fest überzeugt, dass angesichts der unbedeutenden Differenzen und unter dem Druck der unerbittlichen Erfordernisse der geschichtlichen Epoche, in der wir leben, der Parteitag auf dem geradesten und einfachsten Wege der Spaltung der Partei ein Ende machen würde, wenn beide Seiten aufrichtig nach der Einheit der Partei strebten. Die Ausarbeitung der Bedingungen des Parteitages könnte zunächst durch Beratungen der Zentralstellen und durch andere Konferenzen geschehen und dann am Orte des Parteitages durch die Vereinbarung der Delegierten beider Teile zu Ende geführt werden.

Das ZK, das diese Dokumente veröffentlicht, hält es für notwendig, sie durch einige Erläuterungen über seine Stellung zur Frage der Vereinigung zu ergänzen.

Da die Beschlüsse des 3. Parteitages für das von diesem Parteitag eingesetzte ZK verbindlich sind, so ist es klar, dass das ZK die Vereinigung nicht auf dem Wege der Verletzungen der Beschlüsse des 3. Parteitages durchführen kann, – es müsste denn vorher seine Vollmachten niederlegen, und auf jeden Fall würde es das Vertrauen seiner Wähler täuschen. Folglich ergab sich das Dilemma: entweder auf der Grundlage des 3. Parteitages oder auf dem Wege eines neuen Parteitages – unvermeidlich aus dem Wesen der Dinge.

Das ZK hat die Initiative zu den formellen Verhandlungen über die Vereinigung ergriffen und sich an die OK mit einem offenen Briefe gewandt, in dem vorgeschlagen wurde, an die Verschmelzung beider Teile der russischen Sozialdemokratie auf Grund der Arbeit des 3. Parteitages heranzugehen. In diesem Briefe hat das ZK erklärt, dass eine solche Lösung der Frage weder aus sachlichen noch formellen Gründen auf Hindernisse stoßen müsse: aus sachlichen Gründen deshalb nicht, weil die offenkundigen Differenzen nicht so bedeutend sind, dass sie die Spaltung rechtfertigen würden, aus formalen Gründen deshalb nicht, weil alle von der menschewistischen Konferenz angeführten Vorbedingungen zur Vereinigung zu einem Teil schon vom 3. Parteitag erfüllt worden sind, zum anderen Teile – vom ZK ohne die geringste Verletzung der Resolutionen und des Statuts des 3. Parteitages erfüllt werden können.

Als Antwort darauf stellte die OK im Namen der menschewistischen Organisationen fünf ultimative Vorbedingungen für die Vereinigung auf. Die eine dieser Bedingungen – zwei Zentralorgane oder zwei „offizielle" Organe – würde die weitere Aufrechterhaltung einer maskierten Spaltung bedeuten; zwei andere Bedingungen – Gewährung einer beschließenden und nicht nur beratenden Stimme an die Rayonparteikomitees in den Fragen der allgemeinen Politik der örtlichen Parteikomitees und Entscheidung über offene Massenaktionen in jedem Falle durch die direkte Abstimmung aller organisierten Arbeiter – sind prinzipiell sehr sympathisch, aber vom Gesichtspunkt der praktischen Durchführbarkeit und Zweckmäßigkeit unter ausnahmslos allen örtlichen Bedingungen in der jetzigen politischen Atmosphäre sehr strittig; dabei forderten die Genossen Menschewiki nicht die fakultative, sondern die obligatorische Durchführung dieser Reformen an allen Orten; das konnte das ZK schon darum nicht auf sich nehmen, weil es dazu angesichts der Autonomie der örtlichen Organisationen weder das Recht noch die hinreichende reale Macht hat. Die vierte Bedingung – Organisierung zentraler Konferenzen für die Ausarbeitung der allgemeinen taktischen Gesichtspunkte in der Zeit zwischen den Parteitagen – hat das ZK im Wesentlichen nicht abgelehnt; aber angesichts der großen praktischen Schwierigkeiten der Verwirklichung dieser Bedingung konnte es sich nicht verpflichten, sie aus eigenen Kräften zu erfüllen, doch hat es eine mögliche Hilfe nicht abgelehnt. Gegen die fünfte Bedingung endlich – ein Koalitions-ZK – hat das ZK im Wesen nichts einzuwenden.

Da jedoch alle fünf Bedingungen ultimativ waren und blieben, musste das ZK den zweiten Weg wählen: den Vereinigungsparteitag. Dementsprechend handelte es auch in der 3. Beratung. Auch hier brachten die Genossen Menschewiki, wie aus dem beigelegten Dokument klar hervorgeht, äußerst schwer zu erfüllende einschränkende Bedingungen vor.

Eine Vereinigung außerhalb des Rahmens des 3. Parteitages und ohne Einberufung des 4. Parteitages hält das ZK für vollkommen undurchführbar. Die Parteitage durch Konferenzen und Umfragen bei den Organisationen zu ersetzen, wie das die Genossen Menschewiki vorschlagen, ist sowohl sachlich wie formell unmöglich. Eine örtliche, wenn auch in allen Organisationen erfolgende Erörterung der Parteifragen kann nicht ihre gemeinsame Erörterung und Endscheidung durch die gesamte Partei ersetzen; die erstere ist nicht nur viel enger dem Material nach, dem Inhalte der Parteierfahrung nach, die sie umfasst, auch die Verantwortung der an der Diskussion Beteiligten für die Entscheidung ist viel zu gering. Ein Plebiszit ist kein Parlament, das hat die Geschichte allzu klar gezeigt. Die Befragung der Organisationen ist ebenso wenig einem Parteitage gleichzusetzen, wie die arithmetische Summe von Organisationen einer Partei gleichgesetzt werden.

Die Politik der Genossen Menschewiki bleibt unseres Erachtens auch jetzt dieselbe wie vor dem 3. Parteitage. Damals erschwerten sie auf jede Weise die Organisierung des Parteitages und lehnten schließlich eine offene Klärung auf dem Parteitage ab. Sie zogen die Spaltung ohne gegenseitige Klärung vor. Der Parteitag konnte entweder, wie wir fest überzeugt waren, eine wirkliche Einheit der Partei bringen oder aber ein deutlich erkennbares zeitweises Auseinandergehen, bei dem alles klar wäre und das die Partei bedeutend leichter überwinden könnte. Wie sehr wären wir auch in diesem zweiten, schlimmeren Falle einer Vereinigung näher als jetzt, wo wir die gegenseitigen Vereinbarungen „stückweise" und im Dunkel der russischen konspirativen Verhältnisse treffen müssen!

Bisher zeigte sich bei den Genossen Menschewiki eine besondere Neigung zu jenen fiktiven Formen der Vereinigung, die die Spaltung rein äußerlich vertuschen und praktisch, wie das auf dem 3. Parteitage der Fall war, ein noch größeres Chaos, eine noch größere Anarchie und eine wirkliche Zersetzung der Partei herbeiführen. Ein Beispiel dafür ist folgende Resolution der einflussreichen „Petersburger Gruppe":

In Erkenntnis der Notwendigkeit einer raschen Vereinigung beider Teile der Partei ist die Petersburger Gruppe der Meinung, dass eine solche Vereinigung mit Erfolg nur auf Grund der Bedingungen möglich ist, die die OK in der Beratung mit dem ZK vorgeschlagen hat, wobei die Petersburger Gruppe als wichtigste dieser Bedingungen die Erweiterung der Rechte der Peripherieorganisation und die Schaffung eines Mechanismus ansieht, der einen systematischen Einfluss der örtlichen und Gebietsorganisationen auf die Taktik und die Politik des ZK gewährleistet. Die Petersburger Gruppe schlägt allen örtlichen Organisationen vor, sich über diese Frage sofort zu äußern. Davon ausgehend, dass nur eine enge Verbindung der Peripherieorganisationen der ,Mehrheit' und der ,Minderheit' die Vereinigungsversuche beider Zentralstellen zu einem raschen Erfolg führen kann, empfiehlt die Petersburger Gruppe den örtlichen Organisationen, sofort zwischen allen Organisationszellen die engste und möglichst dauerhafte organisatorische Vereinigung durchzuführen unter Aufrechterhaltung der organisatorischen Verbindung mit den entsprechenden Parteiteilen, d. h. bei nicht unbedingter Unterordnung der Minderheit des vereinigten Kollegiums unter dessen Beschlüsse in den Fragen, in denen beide Teile der Partei auseinandergehen."

Das bedeutet die Vereinigung der Partei von unten und Spaltung von oben.

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