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Wladimir I. Lenin 19061023 Der afterkluge russische Radikale

Wladimir I. Lenin: Der afterkluge russische Radikale

[Geschrieben am 23. (10.) Oktober 1906 Veröffentlicht am 31. (18.) Oktober 1906 in der Zeitschrift „Wjestnik Schisni" Nr. 12 Gezeichnet N. Lenin. Nach Sämtliche Werke, Band 10, Wien-Berlin 1930, S. 135-139]

Der „Towarischtsch" vom 3. Oktober (20. September) enthält ein außerordentlich lehrreiches „Gespräch" eines Kadetten mit einem weiter links stehenden Politiker (einem Trudowik?), der den Standpunkt eines Mitarbeiters dieser Zeitung, des Herrn W. W. Ch-ow1, vertritt. Der Radikale liest dem Kadetten die Leviten:

Ist es nicht gerade umgekehrt?" – fragt er den Kadetten, der eine Rede darüber gehalten hat, dass nur die Überzeugung vom eigenen Recht Kraft zu schaffen imstande sei. „Gibt nicht die Kraft die Überzeugung von der Unverletzbarkeit des Rechts?" „Die Tätigkeit eurer Partei… halte ich für politische Donquichoterie … Ihr habt Fiktionen gestärkt" … „Schuld sind eure konstitutionellen Illusionen … Das, was ihr gesagt habt und wie ihr es gesagt habt, hat einen übermäßigen Glauben an die Allmacht der Duma geschaffen. Das aber förderte nicht die Sammlung der Kräfte der Gesellschaft … Stets wenn ich eure Reden im Parlament und außerhalb des Parlaments hörte, wünschte ich, ihr möchtet aufhören, die Duma für ein konstitutionelles Organ zu halten, und in ihr nur ein Organ des gesellschaftlichen Willens sehen, der mit einem andern Willen kämpft … Die Sachlage forderte vor allem eine Organisation der eigenen Kräfte… Die Duma hätte alle Kräfte darauf verwenden müssen, selbst einen Apparat zu schaffen, den ihr das Gesetz nicht gegeben hatte … Ihr entblößt eure Achillesferse – eure konstitutionellen Illusionen … Ich überzeugte mich immer wieder von Neuem nur davon, wie fest sich die konstitutionellen Fiktionen in eurer Partei eingefressen haben… Ich tadle euch (euch, Kadetten), da ihr aufgehört habt, euch als kämpfende Partei zu fühlen, und eine Art von Liquidatoren des Kampfes wart. Ihr habt unter anderem etwas vorgeschlagen, was in andern Ländern erst ein Ergebnis des Kampfes zwischen den verschiedenen Parteien war."

Lehrreiche Reden, nicht wahr? Nur hat unser braver Bernsteinianer ganz umsonst einen gar zu dummen Kadetten „vorgeführt", um ihn in dem „Gespräch" zu schlagen. Immerhin gibt es klügere Kadetten. Es gibt Kadetten, die die menschewistische Literatur und insbesondere die Schriften Plechanows aufmerksam verfolgen. Ein solcher Kadett würde seinem Gesprächspartner anders geantwortet haben.

Er würde sagen: Mein lieber Radikaler, qui prouve trop, ne prouve rien. Wer zu viel beweist, der beweist nichts. Sie aber beweisen vom Standpunkt ihrer eigenen Politik zweifellos zu viel. Habt ihr uns etwa nicht bei den Dumawahlen unterstützt und die Boykottisten bekämpft? Aber die Wahlen verpflichteten doch wohl. Diese Wahlen standen ganz und gar unter dem Zeichen dessen, was Sie jetzt als „konstitutionelle Illusionen" bezeichnen. (Pfui! Pfui! Haben Sie diese Weisheit nicht vielleicht aus bolschewistischen Schriften geschöpft?) Sehen Sie, mein bester Radikaler, ich könnte Ihnen eine kleine Stelle – und nicht nur eine! – in Ihrer eigenen Zeitung „Towarischtsch" zeigen, an der Sie (nicht unbedingt Sie persönlich, sondern Ihre Gesinnungsgenossen) den vertrauensseligen russischen Spießbürgern vorgeredet haben, dass die bösen Minister abdanken müssen, wenn die Partei der „Volksfreiheit" bei den Wahlen siegt. Nun? Was? Sie haben das vergessen, mein lieber Radikaler? Wir aber erinnern uns daran, wir erinnern uns sehr gut daran. Man durfte nicht wählen, Verehrtester, wenn man nicht das Versprechen gab, loyal zu sein, wenn man nicht schwor, nur konstitutionelle Kampfmethoden anzuwenden. Wir aber, wir, die Partei der Volksfreiheit, wir geben Versprechen nur zu dem Zweck, einzig und allein zu dem Zweck, um sie zu erfüllen!

Sie sagen, wir hätten zu sehr an die Allmacht der Duma geglaubt, das habe nicht die Sammlung von „eigenen" Kräften gefördert? Aber so lesen Sie um Gottes willen, was Plechanow, ein Schriftsteller, der Ihr unbedingtes Vertrauen genießt, geschrieben hat. Gerade Sie, Ihre Gesinnungsgenossen, und durchaus nicht etwa die Kadetten, lieben doch in vertraulichen Gesprächen zu erklären, dass sie eigentlich durchaus, ganz durchaus Sozialdemokraten seien und sich als solche bekennen würden, wenn… sich die Sozialdemokratie ganz auf den Standpunkt Plechanows stellte. Hat denn nicht aber Plechanow auf dem Vereinigungsparteitag der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei gesagt, dass nur Anarchisten über konstitutionelle Illusionen schreien können? Hat denn nicht Plechanow eine Resolution vorgeschlagen, in der die Duma nicht nur als Macht bezeichnet wurde – und diese Bezeichnung wurde von dem Vereinigungsparteitag der Sozialdemokratie bestätigt!! –, sondern noch dazu als Macht, „die vom Zaren selbst ins Leben gerufen und durch das Gesetz bestätigt worden ist"?2 Hat nicht Plechanow in dem ehrwürdigen Organ der Menschewiki geschrieben – ihr aber wart es ja, ihr Herren aus der „Nascha Schisn"3, die diese Bestrebungen der Menschewiki stets gelobt haben! –, dass die organische Arbeit in der Duma die größte agitatorische Bedeutung habe? Und ihr habt Plechanow Beifall geklatscht. Ihr wart in der Presse von seiner „Mannhaftigkeit" (ja! ja! So habt ihr euch ausgedrückt!) im Kampf gegen den „Blanquismus" begeistert! Ihr habt im buchstäblichen Sinne des Wortes noch nicht einmal die Schuhsohlen abgelaufen, seitdem das alles geschehen ist, und nun wiederholt ihr schon selbst die traurigen blanquistischen Irrtümer!!

Wenn sich ein Kadett so verteidigt, würde sich seine Verteidigung in einen Angriff verwandeln und der Radikale würde vernichtend geschlagen werden …

Dieser Radikale erinnert mit seiner jetzigen Partisanenaktion gegen die konstitutionellen Illusionen an den Helden aus dem Volksepos, der beim Anblick eines Leichenbegängnisses ruft: „Zu schleppen sollt ihr haben, dass ihr's nicht erschleppt!" Überlegt euch doch einmal: wann war der Kampf gegen die konstitutionellen Illusionen notwendig und lebenswichtig? Offensichtlich in ihrer Blütezeit, als sie großen Schaden anrichten konnten und in der Tat auch anrichteten, indem sie alle möglichen „kleinen Leute" anlockten. Mit anderen Worten: damals, als es der breiten Masse scheinen konnte und scheinen musste, dass es eine Konstitution gebe, während es in Wirklichkeit keine Konstitution gab. So war es aber gerade in der Periode der Wahlen zur ersten Duma und während der Tagungen der Duma, d. h. im März-Juni 1906. Gerade damals haben die konstitutionellen Illusionen großen Schaden angerichtet. Damals aber haben nur die bolschewistischen Sozialdemokraten systematisch gegen die konstitutionellen Illusionen gekämpft und sind dabei gegen den Strom geschwommen. Damals haben die Herren Ch-ow und andere Schriftsteller aus der „Nascha Schisn" diese Illusionen unterstützt und die Bolschewiki „bekämpft" und wegen ihrer heftigen Kritik an den Kadetten getadelt.

Jetzt ist die Duma aufgelöst. Die Kadetten sind geschlagen. Niemandem scheint es auch nur, dass es eine Konstitution gebe. Jetzt können sogar nicht sehr edle Tiere den Kadetten Fußtritte versetzen („ich tadle sie" – siehe das „Gespräch") und mit jedem zweiten Wort die konstitutionellen Illusionen verfluchen. Ach, ihr Herren Radikalen! Teuer ist das Eilein am Christustage! …

Die Herren Ch-ow und Co. sind ein Musterbeispiel dafür, wie Leute, die sich für gebildete Politiker und sogar für Freidenker oder Radikale halten, hilflos und gedankenlos, rückgratlos und kraftlos mit dem Strome schwimmen. Im März-Juni 1906 fördern sie die konstitutionellen Illusionen, indem sie die Duma als Macht bezeichnen, hängen im Schlepptau der Kadetten und rümpfen voll Ekel die Nase über die erbarmungslose Kritik an dieser Partei, die damals in der Mode war. Im September 1906 „tadeln" sie die Kadetten und „kämpfen" gegen die konstitutionellen Illusionen, ohne zu verstehen, dass sie wieder zu spät gekommen sind, dass das jetzt schon nicht mehr genügt, dass jetzt ein direkter Aufruf zu einer bestimmten (durch die vorhergehende geschichtliche Entwicklung bestimmten) Form des revolutionären Kampfes notwendig ist.

Es wäre gut, wenn die russischen Intellektuellen, die eine Menge solcher Tolpatsche hervorbringen, am Beispiel dieser Herren lernten, den ganzen Schaden des Opportunismus zu erkennen. Ganz umsonst hält man bei uns nicht selten dies Wort für ein bloßes „Schimpfwort", ohne sich zu überlegen, was es bedeutet. Der Opportunist verrät seine Partei nicht, wird ihr nicht abtrünnig, verlässt sie nicht. Aufrichtig und eifrig fährt er fort, ihr zu dienen. Aber sein typischer und charakteristischer Zug ist, dass er jeder flüchtigen Stimmung erliegt, dass er unfähig ist der Mode zu widerstehen, dass er politisch kurzsichtig und charakterlos ist. Opportunismus heißt dauernde und lebenswichtige Interessen der Partei ihren Augenblicksinteressen, vorübergehenden, minderwichtigen Interessen zum Opfer bringen. Die Industrie erlebt einen gewissen Aufschwung, es ist ein verhältnismäßiges Aufblühen des Handels, eine leichte Belebung des bürgerlichen Liberalismus zu beobachten, – schon schreit der Opportunist: jagt der Bourgeoisie keinen Schrecken ein, haltet euch, nicht abseits von ihr, hört auf mit den Phrasen von der sozialen Revolution! Die Duma ist zusammengetreten, ein polizeilich-konstitutionelles „Frühlingslüftchen" weht, – schon bezeichnet der Opportunist die Duma als Macht, beeilt sich, den „verhängnisvollen" Boykott zu verdammen, beeilt sich, die Losung: Unterstützung der Forderung einer Duma-, d. h. einer Kadettenregierung auszugeben. Die Woge brandet zurück, – und der Opportunist beginnt ebenso aufrichtig und ebenso unzeitgemäß die Kadetten zu „tadeln" und die konstitutionellen Illusionen in Grund und Boden zu verdammen.

Eine konsequente Politik, wie sie einer wahrhaft revolutionären Klasse würdig ist, die standhaft durch alle kleinen Abweichungen und Schwankungen zur Vorbereitung eines entscheidenden und grenzenlos kühnen Kampfes gegen den Feind schreitet, ist unter der Herrschaft solcher Intellektuellen-Stimmungen unmöglich. Deshalb muss sich das klassenbewusste Proletariat kritisch zu verhalten wissen gegenüber den Intellektuellen, die auf seine Seite treten, muss es lernen, den Opportunismus in der Politik erbarmungslos zu bekämpfen.

1 Lenin meint den Artikel von W. W. Ch–ow (W. W. Chischnjakow) „Ein Gespräch" im „Towarischtsch" Nr. 66, vom 3. Oktober (20. September) 1906.

2 Zur Frage der Reichsduma wurden dem Vereinigungsparteitag der SDAPR zwei Resolutionsentwürfe, ein bolschewistischer und ein menschewistischer vorgelegt. Der Parteitag wählte eine Spezialkommission, an die beide Entwürfe überwiesen wurden. Der Punkt 5 der menschewistischen Resolution, der von dem revolutionierenden Einfluss der Reichsduma auf die Armee spricht, enthielt folgende Redewendung: „ … erblickt zum ersten Mal auf russischem Boden die neue, aus dem Schoße der Nation hervorgegangene Macht, die vom Zaren selbst ins Leben gerufen und durch das Gesetz bestätigt worden ist", usw. Der ganze Punkt dieser, von G. V. Plechanow verfassten Resolution löste bei den bolschewistischen Kommissionsmitgliedern den schärfsten Protest aus, der die Menschewiki veranlasste, die vorstehend unterstrichenen Stellen aus der Resolution zu streichen. In dieser Form wurde die Resolution vom Parteitag bestätigt. Ausführlicheres hierzu siehe in der Broschüre Lenins „Bericht über den Vereinigungsparteitag der SDAPR".

3 Lenin zitiert den ersten Brief G. V. Plechanows aus den „Briefen über Taktik und Taktlosigkeit". Der Brief erschien zuerst in der menschewistischen Zeitung „Kurjer" („Kurier") Nr. 4 u. 5 vom 2. Juni (20. Mai) und 3. Juni (21. Mai) 1906. Als Antwort auf die Erklärung der Bolschewiki, dass die Duma sich mit agitatorischer und nicht mit organischer Arbeit zu befassen habe, erwiderte G. V. Plechanow: „Aber man muss doch dessen eingedenk bleiben, dass die größte agitatorische Bedeutung gerade die organische Arbeit der Duma haben wird."

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