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Wladimir I. Lenin 19060921 Hände weg!

Wladimir I. Lenin: Hände weg!

[Proletarij" Nr. 3, 21. (8.) September 1906. Nach Sämtliche Werke, Band 10, Wien-Berlin 1930, S. 88-92]

Das Buch „Moskau im Dezember 1905" ist den Ereignissen gewidmet, denen in der Geschichte der russischen Revolution ungeheure Bedeutung zukommt. Die positiven Schlussfolgerungen, die sich aus dem Moskauer Aufstand ergeben, haben wir in großen Umrissen in der vorigen Nummer behandelt. In dieser Notiz wollen wir uns mit jenen Seiten dieser wichtigen, aber schlecht durchgeführten Arbeit befassen, die besonders nahe die Moskauer Sozialdemokraten angehen.

Die „Verfasser" des Buches teilen im Vorwort mit, dass sie die Materialien der sozialdemokratischen Organisationen benutzt haben, die indessen „als solche an dieser Arbeit nicht beteiligt sind". Wie sich von selbst versteht, ist es eine Regelwidrigkeit sondergleichen, dass sozialdemokratische Organisationen Leuten Material zur Verfügung stellen, die diesen Organisationen nicht verantwortlich sind. Die Organisationen der Arbeiterpartei sind jetzt dank der schlampigen Bearbeitung ihres Materials und seiner „Ausschmückung" durch einen Strauß von Banalitäten zweifellos in eine unangenehme Lage geraten. Alle Organisationen der Moskauer Sozialdemokraten und in erster Linie natürlich die führende Körperschaft, das Moskauer Komitee, müssen unserer Ansicht nach diese Angelegenheit untersuchen und Schritte unternehmen, die die Wiederholung eines solchen unzulässigen Verhaltens vermeiden.

Hier eins von vielen kleinen Beispielen, wie die anonymen Verfasser des Buches das ihnen von sozialdemokratischen Organisationen übergebene Material „bearbeiten". Es handelt sich um die Rolle der revolutionären Organisationen bei den Moskauer Ereignissen und insbesondere um den Aufruf der Kampforganisation des Moskauer Komitees der SDAPR, der am 24. (11.) Dezember in Nr. 5 der „Iswestija Sowjeta Rabotschich Deputatow"1 veröffentlicht worden ist. Die Verfasser nehmen sich nicht die Mühe, den Inhalt und den Charakter dieser „Iswestija" zu schildern, und üben ihren Scharfsinn in folgender Kritik. Sie führen Nr. 5 an: „Der Kampf entbrennt mit voller Kraft. Auf den Straßen Moskaus toben viele Stunden hindurch eine Reihe von blutigen Schlachten des aufständischen Volkes mit den Zarentruppen." Die Verfasser „kritisieren": „Wir wissen, dass auf den Straßen Moskaus nur kleine Zusammenstöße der Truppen mit den wenigen Kampfabteilungen stattgefunden haben." Und sie beklagen sich mit falschem Pathos über die „Ersetzung (sic!) des Massenkampfes durch den Kampf bewaffneter Häuflein". Sie rufen aus: „Wo sollten denn die Massen sein, worin konnte sich ihre Aktivität bekunden?" usw. u. dgl. mehr.

Was hat das zu bedeuten?? Können solche krampfhafte Versuche, den eigenen Scharfsinn durch solche Methoden der „Kritik" zu bekunden, als wissenschaftliche Analyse bezeichnet werden?? Man vergegenwärtige sich einmal: in einer ernsten geschichtlichen Arbeit, in einem speziellen Kapitel über die Rolle der revolutionären Organisationen sind die Verfasser bemüht, daran Anstoß zu nehmen, dass der Rat der Arbeiterdeputierten am 24. (11.) Dezember, d. h. einige Tage vor der Krise, ganz zu Beginn der Anwendung neuer Kampfmethoden, sich erkühnt hat, vom „aufständischen Volke" zu reden! Wahrscheinlich hätte er mit scharfsinniger und herablassender Miene von „wenigen Kampfabteilungen" reden, nicht aber das Volk und die Massen zur Unterstützung der Kämpfenden aufrufen sollen? Wie soll man da nicht diese krampfhaften Anstrengungen, doktrinäre „Weisheiten zu verzapfen", diese Wortklaubereien als jämmerlich bezeichnen, wenn man bei denselben „Verfassern" des Buches eine ganze Reihe von Stellen findet, an denen vom Volke überhaupt, von der „gesamten Bevölkerung" gesprochen wird, die auf die Straße gegangen sei? So begreift doch, ihr erbärmlichen Wichte, dass nur Schwarzhunderter oder Pedanten mit einer solchen Eunuchenseele wie Pollack, der Held von Leonid Andrejews Roman „Zu den Sternen", es fertig gebracht hätten, am 24. (11.) Dezember in Moskau in der revolutionären Organisation zu sein und nicht von dem aufständischen Volke zu reden!

Gehen wir weiter. Der Aufruf der Kampforganisation in derselben Nr. 5 der „Iswestija" ruft bei den Verfassern ein höhnisches Lächeln hervor: „Abteilungen von drei bis vier Leuten sollten nach dem Gedankengang der Verfasser des Aufrufs dem Volk die von der jahrhundertelangen Herrschaft der Gewalthaber befreite Hauptstadt schenken (!)." „Die Kampforganisation entschied, dass die Massen nicht zu handeln brauchen."

Nehmen wir den Aufruf. Die Verfasser bringen nicht den ganzen Aufruf zum Abdruck, sondern nur Auszüge. Aber selbst in den von diesen „Forschern" ausgewählten Auszügen lesen wir die direkte Aufforderung der Kampforganisation: „Organisiert so viel Abteilungen als möglich". Der Gedanke irgendeines „Geschenkes" an das Volk, der Gedanke, dass die „Massen nicht zu handeln brauchen", wird Leuten zugeschrieben, die gleich am ersten Tage des bewaffneten Kampfes die Arbeiter auffordern, „so zahlreich wie möglich" den Kampfabteilungen beizutreten …

Was ist das? Journalistische Schlampigkeit oder Revolverjournalismus?

Die Verfasser unternehmen nicht den geringsten Versuch, die Frage des Zusammenhanges von militärischer Organisation und militärischer Technik, die Frage des unmittelbar-bewaffneten und des Hilfskampfes in ihren Beziehungen zueinander zu prüfen. Sie versuchen nicht, einen Blick auf die Vergangenheit zu werfen, sie vergessen, dass in Russland sowohl Generalstreiks als auch Demonstrationen mit einer – an den jetzigen Verhältnissen gemessen – ganz kleinen, verschwindend geringen Anzahl von Teilnehmern begannen. Es ist auch nicht die leiseste Spur ernsten geschichtlichen Studiums zu erkennen, man sieht nur Ausfälle, die geradezu ein Gefühl des Ekels verursachen. Der Aufruf der Kampforganisation wird auf Seite 145 absichtlich sinnentstellend, nur in Auszügen wiedergegeben; erst in der weiteren Darstellung wird nebenbei darauf hingewiesen, dass derselbe Aufruf „vorschlägt, die Infanteristen zu schonen" (S. 154), d. h. offen mit der Psychologie der Massen rechnet, offen unterscheidet zwischen reaktionären Truppen und schwankenden Truppen. Dafür aber wird der Aufruf der Oktobristen, der auch nicht die geringste Beziehung zum Studium des Moskauer Aufstandes hat, ungekürzt wiedergegeben!

Die sozialdemokratischen Organisationen haben ihr Material Leuten anvertraut, die den Aufruf der Oktobristen ungekürzt veröffentlichen und aus den Aufrufen der Kampforganisation des Rates der Arbeiterdeputierten Fetzen herausreißen, um sich in niederträchtiger Weise in niederträchtiger Sophisterei zu üben …

Gehen wir zu den Schlussfolgerungen der Herren Verfasser über. „Das Proletariat als Masse ist nicht aufgetreten" (S. 245). „Das Moskauer Proletariat ist weder den 22. (9.) und 23. (10.) Dezember … noch die folgenden Tage in Aktion getreten. Das gereicht seinem Bewusstsein und seiner Organisiertheit zur Ehre" (S. 244).

Hört, Genossen Arbeiter: von nun ab will man eure „Ehre" darin erblicken, dass die Masse nicht genügend gekämpft hat!! Dass die Arbeitermasse sich nicht genügend am aktiven, offensiven Kampf beteiligt hat, das ist, will man euch einreden, ein Vorteil. Dass die Arbeitermasse aber über die Köpfe ihrer Führer hinweg zum Bau zahlreicher Barrikaden geschritten ist, dass sie die ganze Zeit über von ihren Führern die Aufforderung zu entschlosseneren Aktionen verlangt hat, das ist offenbar ein Nachteil

Die Moskauer Ereignisse zeigen" – schreiben die Verfasser –, „dass in der gegenwärtigen geschichtlichen Periode, die durch eine kolossale Entwicklung des Militarismus gekennzeichnet ist, der Sieg des aufständischen Volkes zur unerlässlichen Vorbedingung hat, dass ein bedeutender Teil der Truppen auf die Seite des aufständischen Volkes übergeht, oder dass die Truppenmassen sich kategorisch weigern, im Kampf mit dem Volk die Waffen zu gebrauchen" …

Den Kampf um die schwankenden Truppen haben unsere Neunmalweisen nicht bemerkt und nicht begriffen. Sie stellen sich offenbar vor, dass der Aufstand ohne Kampf gegen den reaktionären Teil des Heeres, ohne aktiven Kampf des revolutionären Volkes, der die Truppen zersetzt, möglich sei. Die Verfasser stellen sich auf den Standpunkt der Kadetten, die bereit sind, den „Übergang" der Truppen zu begrüßen, den bewaffneten Aufstand und seine Propaganda aber als „Wahnsinn und Verbrechen" bezeichnen …

Nur am Ende (sic!) der Revolution, die überdies eine allgemeine Volksrevolution sein muss, ist ein solches Verhalten der Armee denkbar. Der Dezember-Aufstand des Proletariats, dem die Masse der bürgerlichen Bevölkerung nur passive (?) Sympathien entgegenbrachte, der Kampf für die eigenen Losungen (von uns gesperrt) konnte nicht (!) von der Armee unterstützt werden, und deshalb konnte ,das Bestreben, den Generalstreik in den bewaffneten Aufstand überzuleiten', nicht von Erfolg gekrönt sein und muss als geschichtlicher Fehler gewertet werden."

Das ist die Moral der Geschichte, Moskauer Arbeiter! Tretet nicht „für eure eigenen Losungen" in den Kampf! …

Man kann sich schwer vorstellen, wie Leute zu einer solchen Pedanterie, zu einer solchen kadettischen Geistesarmut gelangen und so die Schlussfolgerungen aus ernstestem geschichtlichen Material in den Dreck ziehen können. Mögen die Moskauer Sozialdemokraten den Verfassern des Buches ihre Entrüstung ausdrücken und alle Parteimitglieder und alle Anhänger der Revolution dazu auffordern, von neuem Material zu sammeln, das es erlaubt, eine würdige Darstellung, eine ernste Kritik des Dezember-Aufstandes zu geben. Mögen alle Fehler und Mängel des Aufstandes zur Belehrung des kämpfenden Proletariats rücksichtslos aufgedeckt werden, Kadetten und Revolverjournalisten aber muss die Partei des Proletariats sagen: Hände weg!

1 „Nachrichten des Rates der Arbeiter-Deputierten". Die Red.

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