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Wladimir I. Lenin 19060911 Die Lehren des Moskauer Aufstandes

Wladimir I. Lenin: Die Lehren des Moskauer Aufstandes

[Proletarij" Nr. 2, 11. September (29. August) 1906. Nach Sämtliche Werke, Band 10, Wien-Berlin 1930, S. 66-75]

Das Buch „Moskau im Dezember 1905" (Moskau 1906) ist gerade zur rechten Zeit erschienen. Es ist eine dringende Aufgabe der Arbeiterpartei, sich die Lehren des Dezemberaufstandes zu eigen zu machen. Leider ist dies Buch wie ein Fass Honig mit einem Löffel Teer darin: außerordentlich interessanter Stoff, ungeachtet seiner Unvollständigkeit – und unglaublich oberflächliche, unglaublich abgeschmackte Schlussfolgerungen. Wir werden diese Schlussfolgerungen gesondert behandeln und wollen uns jetzt dem aktuellen politischen Thema, den Lehren des Moskauer Aufstandes, zuwenden.

Die Hauptform, die der Dezemberbewegung in Moskau eigen war, waren der friedliche Streik und die Demonstrationen. Die überwiegende Mehrheit der Arbeitermassen beteiligte sich aktiv nur an diesen Kampfformen. Aber gerade die Moskauer Dezemberaktion hat handgreiflich gezeigt, dass sich der Generalstreik als selbständige und Hauptkampfform überlebt hat, dass die Bewegung mit elementarer, unwiderstehlicher Kraft diesen engen Rahmen durchbricht und eine höhere Kampfform, den Aufstand, gebiert.

Alle revolutionären Parteien, alle Gewerkschaften in Moskau, erkannten und fühlten sogar, als sie den Streik erklärten, die Unvermeidlichkeit seiner Umwandlung in den Aufstand. Am 19. (6.) Dezember beschloss der Rat der Arbeiterdeputierten, „danach zu streben, den Streik in den bewaffneten Aufstand überzuleiten". In Wirklichkeit aber war keine Organisation darauf vorbereitet, sogar der Koalitionsrat der Kampfgruppen sprach (am 22. [9.] Dezember!) vom Aufstand als von etwas weit entferntem, und zweifellos brach der Straßenkampf über seinen Kopf hinweg aus und ging ohne seine Beteiligung vor sich. Die Organisationen blieben hinter dem Anwachsen und dem Schwung der Bewegung zurück.

Der Streik wuchs in den Aufstand hinüber, vor allem unter dem Druck der objektiven Verhältnisse, wie sie sich nach dem Oktober gestaltet hatten. Es war schon nicht mehr möglich, die Regierung durch einen Generalstreik zu überraschen, sie hatte bereits die Konterrevolution organisiert und war zu militärischen Aktionen gerüstet. Sowohl der allgemeine Verlauf der russischen Revolution nach dem Oktober als auch die folgerichtige Entwicklung der Ereignisse in Moskau während der Dezembertage bestätigten in erstaunlicher Weise die Richtigkeit eines der tiefen Sätze von Marx: der revolutionäre Fortschritt… brach sich Bahn in der Erzeugung einer geschlossenen mächtigen Konterrevolution, in der Erzeugung eines Gegners, durch dessen Bekämpfung erst die Umsturzpartei zu einer wirklich revolutionären Partei heranreifte.1

Am 20. (7.) und 21. (8.) Dezember: friedlicher Streik, friedliche Demonstrationen der Massen. Am 21. (8.) Dezember abends: Belagerung des Aquariums2. Am 22. (9.) Dezember tagsüber: die Dragoner verprügeln Teilnehmer einer Ansammlung auf dem Leidensplatz. Abends: Demolierung des Fiedlerschen Hauses. Die Stimmung hebt sich. Die unorganisierten Menschenmengen auf den Straßen beginnen spontan und unsicher die ersten Barrikaden zu bauen.

Am 23. (10.) Dezember: Artillerie beginnt die Barrikaden und die Menschenansammlungen auf den Straßen zu beschießen. Der Bau der Barrikaden wird zuversichtlicher, hört auf, eine Einzelerscheinung zu sein und wird schon zweifellos zu einer Massenerscheinung. Die ganze Bevölkerung ist auf den Straßen; die ganze Stadt beginnt sich an den wichtigsten Stellen mit einem Netz von Barrikaden zu bedecken. Im Laufe einiger Tage entfaltet sich ein erbitterter Partisanenkampf der Kampfgruppen mit den Truppen, ein Kampf, der die Truppen ermattet und Dubassow veranlasst, um Unterstützungen zu flehen. Erst am 28. (15.) Dezember erhalten die Regierungstruppen entscheidendes Übergewicht, und am 30. (17.) Dezember säubert das Semjonow-Regiment den Stadtteil Presnja, die letzte Feste des Aufstandes.

Von Streik und Demonstrationen zu einzelnen Barrikaden, von einzelnen Barrikaden zu massenweiser Errichtung von Barrikaden und zum Straßenkampf mit den Truppen. Über den Kopf der Organisationen hinweg geht der proletarische Kampf vom Streik zum Aufstand über. Darin liegt die allergrößte geschichtliche Errungenschaft der russischen Revolution, die im Dezember 1905 zu verzeichnen ist, – eine Errungenschaft, die wie alle vorhergehenden Errungenschaften um den Preis größter Opfer erkauft wurde. Die Bewegung stieg vom politischen Generalstreik auf eine höhere Stufe. Sie zwang die Reaktion, in ihrem Widerstand bis zum Ende zu gehen, und brachte dadurch mit Riesenschritten den Augenblick nahe, in dem die Revolution in der Anwendung der Angriffsmittel ebenfalls bis zum Ende gehen wird. Die Reaktion kann nicht weiter gehen als bis zur Artilleriebeschießung von Barrikaden, Häusern und Menschenmengen auf den Straßen. Die Revolution kann noch weiter gehen als bis zu einem Kampf der Moskauer Kampfgruppen, sie kann noch viel, viel weiter in die Breite und in die Tiefe gehen. Und die Revolution ist seit dem Dezember weit fortgeschritten. Die Grundlage der revolutionären Krise ist unermesslich viel breiter geworden – die Schneide ihrer Waffe muss jetzt viel besser geschärft sein.

Den Wechsel in den objektiven Bedingungen des Kampfes, der den Übergang vom Streik zum Aufstand erforderte, hat das Proletariat früher als seine Führer gefühlt. Die Praxis ist, wie stets, der Theorie vorangegangen. Der friedliche Streik und die Demonstrationen hörten mit einem Schlage auf, die Arbeiter zu befriedigen. Sie fragten: Was weiter? – und verlangten energischere Handlungen. Die Anweisung zum Barrikadenbau traf in den Bezirken mit ungeheurer Verspätung ein, zu einer Zeit, als im Zentrum der Stadt schon Barrikaden gebaut wurden. Die Arbeiter gingen in Massen ans Werk, waren aber auch dadurch nicht zufriedengestellt, fragten: Was weiter? – verlangten energische Handlungen. Wir, die Führer des sozialdemokratischen Proletariats, waren im Dezember dem Heerführer ähnlich, der seine Regimenter so unsinnig aufgestellt hatte, dass der größte Teil seiner Truppen nicht aktiv an der Schlacht teilnahm. Die Arbeitermassen suchten vergeblich Anweisungen für energische Massenaktionen.

Es gibt somit nichts Kurzsichtigeres als die von allen Opportunisten aufgegriffene Ansicht Plechanows, es hätte keinen Sinn gehabt, den unzeitgemäßen Streik zu beginnen, „man hätte nicht zu den Waffen greifen dürfen". Im Gegenteil, man hätte entschlossener, energischer, stürmischer zu den Waffen greifen, hätte den Massen klarmachen müssen, dass der friedliche Streik allein unmöglich ist und dass es notwendig ist, furchtlos und rücksichtslos den bewaffneten Kampf aufzunehmen. Wir müssen jetzt endlich offen und laut zugeben, dass die politischen Streiks unzureichend sind, müssen in den breitesten Massen für den bewaffneten Aufstand agitieren, ohne diese Frage durch irgendwelche „Vorstufen" zu verdunkeln, ohne sie durch irgend etwas zu verschleiern. Den Massen die Notwendigkeit eines verzweifelten, blutigen, vernichtenden Krieges als unmittelbare Aufgabe der bevorstehenden Aktion verhehlen, heißt sich selbst und das Volk betrügen.

Das ist die erste Lehre der Dezemberereignisse. Die zweite Lehre betrifft das Gepräge des Aufstandes, seine Taktik, die Bedingungen für den Übergang der Truppen auf die Seite des Volkes. Auf dem rechten Flügel unserer Partei ist in Bezug auf diesen Übergang eine äußerst einseitige Anschauung verbreitet. Man könne nicht gegen die Truppen von heutzutage kämpfen, es sei notwendig, dass die Truppen revolutionär werden. Es versteht sich von selbst, dass von einem ernsten Kampf keine Rede sein kann, solange die Revolution nicht zu einer Massenbewegung geworden ist und die Truppen selbst ergriffen hat. Selbstverständlich ist die Arbeit im Heere notwendig. Aber man darf sich diesen Übergang der Truppen nicht als irgend einen einfachen, einmaligen Akt vorstellen, der einerseits das Ergebnis der Überzeugung und anderseits des Bewusstseins ist. Der Moskauer Aufstand zeigt uns anschaulich, wie schablonenhaft und starr eine solche Auffassung ist. Das Schwanken der Truppen, das in jeder wirklichen Volksbewegung unvermeidlich ist, führt bei Verschärfung des revolutionären Kampfes im wahren Sinne des Wortes zu einem Kampf um das Heer. Der Moskauer Aufstand zeigt uns gerade das Bild eines ganz verzweifelten, ganz wütenden Kampfes der Reaktion und der Revolution um das Heer. Dubassow selbst erklärte, dass nur 5000 von den 15.000 Mann zählenden Moskauer Truppen zuverlässig seien. Die Regierung suchte die Schwankenden durch die mannigfachsten, verzweifeltsten Mittel zurückzuhalten: man suchte sie zu überzeugen, schmeichelte ihnen, bestach sie, verteilte Uhren, Geld und so weiter, der Schnaps floss in Strömen, man suchte sie zu betrügen, einzuschüchtern, sperrte sie in die Kasernen ein, entwaffnete sie, griff mit Hilfe von Verrat und Gewalt die Soldaten heraus, die man für besonders unzuverlässig hielt. Und man muss den Mut haben, gerade und offen zuzugeben, dass wir in dieser Beziehung hinter der Regierung zurückblieben. Wir haben es nicht verstanden, die Kräfte, über die wir verfügten, für einen ebensolchen aktiven, kühnen, unternehmungslustigen und offensiven Kampf um das schwankende Heer zu benutzen, wie ihn die Regierung begann und erfolgreich zu Ende führte. Wir haben eine geistige „Bearbeitung" der Truppen organisiert und müssen sie noch intensiver betreiben. Wir werden uns aber als traurige Pedanten erweisen, wenn wir vergessen, dass im Augenblick des Aufstandes auch ein physischer Kampf um die Truppen erforderlich ist.

Das Moskauer Proletariat hat uns in den Dezembertagen vortreffliche Lehren über die geistige „Bearbeitung" der Truppen erteilt – so z. B. am 21. (8.) Dezember, als die Menschenmassen auf dem Leidensplatz die Kosaken umringten, sich mit ihnen vermischten, sich mit ihnen verbrüderten und sie veranlassten, zurückzureiten. Oder am 23. (10.) Dezember, als im Stadtteil Presnja zwei junge Arbeiterinnen, die in einer zehntausend Menschen zählenden Demonstration eine rote Fahne trugen, sich den Kosaken mit dem Ruf entgegen warfen: „Schlagt uns tot! Lebendig werden wir die Fahne nicht hergeben!" Und die Kosaken gerieten in Verwirrung und sprengten fort, begleitet von den Rufen der Menge: „Es leben die Kosaken!" Diese Beispiele von Kühnheit und Heldenmut müssen für immer im Bewusstsein des Proletariats verankert werden.

Nun einige Beispiele dafür, dass wir hinter Dubassow zurückgeblieben sind. Am 22. (9.) Dezember zogen Soldaten mit dem Gesang der Marseillaise über die Große Serpuchower Straße, entschlossen, sich den Aufständischen anzuschließen. Die Arbeiter senden Delegierte zu ihnen. Malachow sprengt Hals über Kopf selbst zu ihnen. Die Arbeiter kamen zu spät, während Malachow rechtzeitig eintraf. Er hielt eine flammende Ansprache, brachte die Soldaten ins Schwanken, ließ sie von Dragonern umzingeln, führte sie in die Kasernen zurück und sperrte sie dort ein. Malachow traf rechtzeitig ein, während wir zu spät kamen, obwohl in zwei Tagen 150.000 Menschen unserm Aufruf Folge geleistet hatten, die den Patrouillendienst auf den Straßen organisieren konnten und mussten. Malachow ließ die Soldaten von Dragonern umzingeln, wir aber ließen die Malachow nicht durch Bombenwerfer umzingeln. Wir konnten das und hätten das tun müssen, und die sozialdemokratische Presse hat bereits seit langem (siehe die alte „Iskra") darauf hingewiesen, dass während des Aufstandes rücksichtslose Vernichtung ziviler und militärischer höherer Vorgesetzter unsere Pflicht ist. Das, was sich auf der Großen Serpuchower Straße ereignete, hat sich anscheinend im wesentlichen vor der Njeswischki- und vor der Krutizki-Kaserne sowie bei den Versuchen des Proletariats wiederholt, die Jekaterinoslawer „herauszuholen", ebenso bei der Entsendung von Delegierten zu den Sapeuren in Alexandrow, bei der Rückkehr der Rostower Artillerie, die nach Moskau abtransportiert werden sollte, bei der Entwaffnung der Sapeure in Kolomna usw. Im Augenblick des Aufstandes waren wir der Aufgabe des Kampfes um die schwankenden Truppen nicht gewachsen.

Der Dezember hat weiter den tiefen und von den Opportunisten vergessenen Satz von Marx anschaulich bestätigt, dass der Aufstand eine Kunst und dass die Hauptregel dieser Kunst die mit größter Kühnheit und Entschiedenheit durchgeführte Offensive ist.3 Wir haben uns diese Wahrheit nicht genügend zu eigen gemacht. Wir haben diese Kunst, diese Regel der Offensive um jeden Preis selbst nicht genügend gelernt und die Massen nicht genügend darin unterrichtet. Wir müssen jetzt mit aller Energie das Versäumte nachholen. Es genügt nicht, die Menschen nach ihrem Verhältnis zu politischen Losungen zu gruppieren, darüber hinaus ist erforderlich, sie nach ihrer Einstellung zum bewaffneten Aufstand zu gruppieren. Wer gegen ihn ist, wer sich nicht auf ihn vorbereitet, den muss man rücksichtslos aus der Zahl der Anhänger der Revolution hinauswerfen, zu ihren Gegnern, zu den Verrätern oder Feiglingen jagen, denn es naht der Tag, an dem die Kraft der Ereignisse, die Lage des Kampfes uns zwingen wird, Feinde und Freunde nach diesem Merkmal voneinander zu scheiden. Nicht Passivität müssen wir propagieren, nicht ein einfaches Darauf„warten", dass die Truppen „übergehen", – nein, wir müssen die Trommel rühren und die Massen davon überzeugen, dass es notwendig ist, kühn anzugreifen und mit den Waffen in der Hand die Regierungstruppen zu überfallen, dass es notwendig ist, hierbei die höheren Vorgesetzten zu vernichten und den allertatkräftigsten Kampf um die schwankenden Truppen zu führen.

Die dritte große Lehre, die uns Moskau erteilt hat, betrifft die Taktik und die Organisation der Kräfte für den Aufstand. Die militärische Taktik hängt von dem Niveau der militärischen Technik ab – diese Tatsache hat Engels wiederholt erläutert und den Marxisten eingehämmert4. Die militärische Taktik ist jetzt eine andere als in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Gegen die Artillerie unbewaffnete Volksmassen aufmarschieren zu lassen und die Barrikaden nur mit Revolvern zu verteidigen, wäre eine Dummheit. Und Kautsky hatte recht, als er schrieb, dass es nach dem Moskauer Aufstand an der Zeit sei, Engels Schlussfolgerungen zu überprüfen, und dass Moskau eine „neue Barrikadentaktik"5 geschaffen habe. Diese Taktik war die Taktik des Partisanenkampfes. Die Organisation, die durch eine solche Taktik bedingt wurde, waren leicht bewegliche und außerordentlich kleine Abteilungen: Zehnergruppen, Dreiergruppen, ja sogar Zweiergruppen. Man kann jetzt bei uns häufig Sozialdemokraten treffen, die verächtlich zu schmunzeln beginnen, wenn die Rede auf Fünfer- und Dreiergruppen kommt. Aber mit diesem Schmunzeln will man nur auf eine billige Art und Weise darüber hinwegtäuschen, dass man vor einer neuen Frage der Taktik und der Organisation, wie sie bei dem gegenwärtigen Stand der militärischen Technik durch den Straßenkampf bedingt werden, die Augen verschließt. Lest euch den Bericht über den Moskauer Aufstand aufmerksam durch, ihr Herrschaften, und ihr werdet begreifen, was für eine Verbindung zwischen den „Fünfergruppen" und der Frage der „neuen Barrikadentaktik" besteht.

Moskau hat diese Taktik hervorgebracht, aber noch lange nicht genug entwickelt, bei weitem noch nicht wirklich zu einer Taktik der breiten Massen entfaltet. Es gab wenig Kampfgruppen, die Arbeitermasse erhielt nicht die Losung verwegener Überfälle und wandte sie nicht an, das Gepräge der Partisanenabteilungen war zu mannigfach, ihre Waffen und ihre Kampfmethoden unzulänglich, ihre Fähigkeit, die Massen zu führen, fast gar nicht ausgebildet. Wir müssen das alles nachholen und werden es auf Grund der Lehren des Moskauer Aufstandes nachholen, wir werden diese Lehren unter den Massen verbreiten und die schöpferische Kraft der Massen selbst wecken, um die Taktik des Moskauer Aufstandes weiter auszugestalten. Der Partisanenkampf und der Massenterror, der jetzt nach dem Dezember überall in Russland fast ununterbrochen angewandt wird, werden uns zweifellos helfen, die Massen zu lehren, im Augenblick des Aufstandes die richtige Taktik anzuwenden. Die Sozialdemokratie muss diesen Massenterror billigen und in ihre Taktik aufnehmen, muss ihn natürlich organisieren und kontrollieren und den Interessen und Bedingungen der Arbeiterbewegung und des allgemeinen revolutionären Kampfes unterordnen und rücksichtslos die „lumpenproletarische" Entstellung dieses Partisanenkampfes beseitigen und ausmerzen, mit der die Moskauer in den Tagen des Aufstandes und die Letten in den Tagen der rühmlich bekannten lettischen Republiken so prächtig und rücksichtslos aufgeräumt haben.

In der allerletzten Zeit macht die militärische Taktik wiederum neue Fortschritte. Der japanische Krieg hat die Handgranate hervorgebracht. Die Gewehrfabriken haben das Selbstladegewehr auf den Markt geworfen. Beide werden in der russischen Revolution zwar schon erfolgreich, aber bei weitem noch nicht in genügendem Umfang angewandt. Wir können und müssen uns technische Vervollkommnungen zunutze machen, müssen die Arbeiterabteilungen lehren, Bomben in Massen zu erzeugen, müssen ihnen und unseren Kampfgruppen helfen, sich genügende Vorräte an Sprengstoffen, Zündern und Selbstladegewehren zu besorgen. Wenn sich die Arbeitermassen am Aufstand in der Stadt beteiligen, wenn sich die Massen auf den Feind stürzen, wenn der Kampf um die Truppen, die nach der Duma, nach Sweaborg und Kronstadt noch mehr schwanken, entschlossen und geschickt geführt wird und das Dorf, woran wir nicht zweifeln, sich an diesem Kampfe beteiligt, – so werden wir in dem nächsten bewaffneten Aufstand, der ganz Russland ergreifen wird, den Sieg davontragen!

Wir wollen daher, gestützt auf die Lehren der großen Tage der russischen Revolution, unsere Arbeit breiter entfalten, kühner an die Lösung unserer Aufgaben herangehen. Unserer Arbeit liegt die richtige Bewertung der Interessen der Klassen sowie alles dessen zugrunde, was im gegenwärtigen Augenblick die Bedürfnisse der Entwicklung der allgemeinen Volksrevolution erfordern. Sturz der Zarenregierung und Einberufung der konstituierenden Versammlung durch die revolutionäre Regierung, das ist die Losung, um die wir einen immer größeren Teil des Proletariats, der Bauernschaft und der Truppen sammeln und sammeln werden. Die Stärkung des Klassenbewusstseins der Massen wird wie stets die Grundlage und der Hauptinhalt unserer ganzen Arbeit sein. Vergessen wir aber nicht, dass sich in solchen Augenblicken, wie demjenigen, den wir gegenwärtig in Russland erleben, zu dieser allgemeinen, ständigen und wichtigsten Aufgabe besondere, spezielle Aufgaben gesellen. Wir wollen uns nicht in Pedanten und Philister verwandeln, wir wollen diesen besonderen Aufgaben des Augenblicks, diesen speziellen Aufgaben der gegebenen Kampfformen nicht durch nichtssagende Hinweise auf unsere ständigen, unter allen Bedingungen, zu allen Zeiten unveränderlichen Verpflichtungen ausweichen.

Seien wir dessen eingedenk, dass ein großer Massenkampf naht. Es wird der bewaffnete Aufstand sein. Er muss nach Möglichkeit an allen Orten zu gleicher Zeit erfolgen. Die Massen müssen wissen, dass sie zu bewaffnetem, blutigem, verzweifeltem Kampf schreiten. Todesverachtung muss die Massen ergreifen und den Sieg verbürgen. Die Offensive gegen den Feind muss aufs Energischste durchgeführt werden, Angriff, nicht Verteidigung muss die Losung der Massen sein, rücksichtslose Vernichtung des Feindes wird ihre Aufgabe sein; die Organisation des Kampfes muss leicht beweglich und elastisch sein; die schwankenden Elemente des Heeres müssen in den aktiven Kampf gezogen werden. Die Partei des klassenbewussten Proletariats muss ihre Pflicht in diesem großen Kampfe erfüllen.

1 Lenin meint folgende Stelle aus der Schrift von Karl Marx „Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848–1850": „Nicht in seinen unmittelbaren tragikomischen Errungenschaften brach sich der revolutionäre Fortschritt Bahn, sondern umgekehrt in der Erzeugung einer geschlossenen, mächtigen Konterrevolution …"

2 Moskauer Garten-Restaurant. Die Red.

3 Lenin meint den von Engels in seiner Arbeit „Revolution und Konterrevolution in Deutschland" (die früher irrtümlich Marx zugeschrieben wurde) entwickelten Gedanken aus dem Kapitel 17: „Die Demokratie an der Macht".

4 Dieser Gedanke wurde von Engels in einer ganzen Reihe Arbeiten wiederholt entwickelt, am ausführlichsten wohl in seiner Schrift: „Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft (Anti-Dühring)".

5 Über die Notwendigkeit einer Revision der Schlussfolgerungen von Engels schrieb Kautsky in dem im „Vorwärts" vom 28. Januar 1906 mit der Unterschrift K. K. erschienenen Artikel: „Die Aussichten der russischen Revolution". „Hier tritt – schrieb K. Kautsky – noch ein Unterschied zwischen der Pariser Junischlacht und der Moskauer Dezemberschlacht zutage: beide waren Barrikadenkämpfe, aber jene bildete die Katastrophe, den Abschluss der alten Barrikadentaktik, diese die Inaugurierung einer neuen Barrikadentaktik. Und insofern haben wir die Anschauung zu revidieren, die Friedrich Engels in seinem Vorwort zu den Marxschen ,Klassenkämpfen' niedergelegt, die Anschauung, als sei die Zeit der Barrikadenkämpfe endgültig vorbei. Nur die Zeit der alten Barrikadentaktik ist vorbei. Das hat die Schlacht von Moskau bewiesen, wo es einem Häuflein Insurgenten gelang, sich gegen überlegene, mit allen Mitteln der modernen Artillerie ausgerüstete Streitkräfte zwei Wochen lang zu behaupten."

Siehe auch das im Oktober 1906 zur zweiten deutschen Auflage des Buches von Karl Kautsky „Die soziale Revolution" verfasste Vorwort.

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