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Wladimir I. Lenin 19060903 Vor dem Sturm

Wladimir I. Lenin: Vor dem Sturm

[Proletarij" Nr. 1, 3. September (21. August) 1906. Nach Sämtliche Werke, Band 10, Wien-Berlin 1930, S. 27-32]

Ein Monat ist seit der Auflösung der Reichsduma verstrichen. Die erste Phase der Aufstände im Heere und der Streiks, mit denen man die Aufständischen zu unterstützen versucht hat, ist vorüber.1 Hier und da hat schon der Eifer der Obrigkeit nachzulassen begonnen, die mit „Ausnahmezustand" und „Belagerungszustand" die Regierung vor dem Volk schützen will. Die Bedeutung der hinter uns liegenden Etappe der Revolution wird immer klarer. Immer näher rollt eine neue Woge der Revolution heran.

Schwer und schwierig ist der Weg der russischen Revolution. Jedem Aufschwung, jedem Teilerfolg folgen Niederlagen, Blutvergießen, Schmähungen der Freiheitskämpfer durch den Absolutismus. Nach jeder „Niederlage" aber wird die Bewegung immer breiter, der Kampf tiefer, größer die Masse der Klassen und Gruppen des Volkes, die in den Kampf gezogen werden und sich an ihm beteiligen. Nach jedem Ansturm der Revolution, nach jedem Schritt vorwärts in der Organisierung der streitbaren Demokratie folgt ein geradezu wütender Ansturm der Reaktion, folgt ein Schritt vorwärts in der Organisierung der Schwarzhundertelemente, wächst die Frechheit der Konterrevolution, die mit Verzweiflung um ihr Dasein kämpft. Aber die Kräfte der Reaktion schwinden trotz aller ihrer Anstrengungen unaufhaltsam. Auf die Seite der Revolution tritt ein immer größerer Teil der Arbeiter, Bauern und Soldaten, die gestern noch indifferent waren oder im Lager der Schwarzen Hundert standen. Illusion um Illusion wird zerstört, es fallen die Vorurteile, die das russische Volk zu einem vertrauensseligen, geduldigen, treuherzigen, ergebenen, alles ertragenden und alles vergebenden machten.

Dem Absolutismus sind zahlreiche Wunden geschlagen, aber er ist noch nicht getötet. Der Absolutismus steckt vom Kopf bis zu den Füßen in Binden und Bandagen, aber er hält sich noch auf den Beinen, röchelt noch und gerät sogar in um so größere Wut, je mehr er blutet. Die revolutionären Klassen des Volkes aber, mit dem Proletariat an ihrer Spitze, nützen jede Atempause dazu aus, neue Kräfte zu sammeln, dem Feinde immer neue Schläge zu versetzen, um endlich das verfluchte Geschwür des Asiatentums und der Leibeigenschaft, das Russland vergiftet, mit glühendem Eisen auszubrennen.

Und es gibt kein sichereres Mittel, jeden Kleinmut zu überwinden, alle engstirnigen, einseitigen und kleinlich-feigen Auffassungen über die Zukunft unserer Revolution zu widerlegen, als einen Blick auf ihre Vergangenheit zu werfen. Kurz ist noch die Geschichte der russischen Revolution, aber sie hat schon zur Genüge bewiesen und uns gezeigt, dass die Kräfte der revolutionären Klassen und der Reichtum ihres geschichtlichen Schaffens viel größer sind, als es in Zeiten der Stille scheinen mag. Jedes Mal, wenn eine revolutionäre Welle anschwillt, erleben wir unsichtbar und fast im Stillen eine Anhäufung der Kräfte zur Lösung einer neuen und höheren Aufgabe, und jedes Mal werden alle kurzsichtigen und kleinmütigen Werturteile politischer Losungen durch den Sprengschlag der angehäuften Kräfte widerlegt.

Drei Hauptabschnitte unserer Revolution sind deutlich erkennbar. Der erste Abschnitt umfasst die Ära des „Vertrauens", die Ära zahlloser Petitionen, Fürsprachen und Gesuche, die alle die Konstitution als notwendig bezeichnen. Der zweite Abschnitt umfasst die Ära der Konstitutions-Manifeste, -Akte und -Gesetze. Der dritte Abschnitt – den Beginn der Verwirklichung des Konstitutionalismus, die Ära der Reichsduma. Am Anfang bat man den Zar um eine Konstitution. Dann entriss man dem Zaren mit Gewalt die feierliche Anerkennung der Konstitution. Jetzt... jetzt, nach der Auflösung der Duma, wird man durch die Tatsachen darüber belehrt, dass eine Konstitution, vom Zaren verliehen, durch Zarengesetze anerkannt, durch Beamte des Zaren verwirklicht, keinen lumpigen Heller wert ist.

In jedem einzelnen dieser Zeitabschnitte sehen wir anfänglich im Vordergrund der geschichtlichen Arena die liberale Bourgeoisie, lärmend, prahlerisch, spießbürgerlich beschränkt und spießbürgerlich selbstzufrieden, von vornherein überzeugt von ihren „Erbrechten", herablassend den „jüngeren Bruder" über friedlichen Kampf, loyale Opposition und Kompromisse der Volksfreiheit mit der Zarenregierung belehrend. Und jedes Mal hat diese liberale Bourgeoisie die Gemüter gewisser (rechter) Sozialdemokraten verwirrt und sie ihren politischen Losungen, ihrer politischen Führung untergeordnet. In Wirklichkeit aber sind im Lärm der liberalen Winkelpolitik die revolutionären Kräfte der Volksmassen gewachsen und herangereift. In Wirklichkeit haben die Lösung der von der Geschichte auf die Tagesordnung gestellten politischen Aufgaben jedes Mal die Proletarier übernommen, die die fortgeschrittene Bauernschaft mit sich fortrissen, auf die Straße zogen, alle alten Gesetze und alle alten Rahmen brachen und die Welt mit neuen Formen, Methoden und Kombinationen der Mittel des offenen revolutionären Kampfes bereicherten.

Man erinnere sich an den 9. Januar. Wie unerwartet für jedermann haben die Arbeiter durch ihre heldenhafte Aktion die Ära des „Vertrauens" des Zaren zum Volk und des Volkes zum Zaren zum Abschluss gebracht! Und wie haben sie mit einem Schlage die gesamte Bewegung auf eine neue, höhere Stufe erhoben! Dabei war doch äußerlich besehen der 22. (9.) Januar eine völlige Niederlage, Tausende erschlagener Proletarier, hemmungslose Vergeltungsmaßregeln, die dunkle Wolke des Trepow-Regimes über Russland.

Die Liberalen stehen wiederum im Vordergrund des Geschehens. Sie haben glänzende Kongresse veranstaltet, effektvolle Deputationen zum Zaren gesandt. Sie haben sich mit beiden Händen an das Almosen geklammert, das man ihnen hingeworfen hat: die Bulyginsche Duma. Wie Hunde, die einen fetten Bissen erblickt haben, beginnen sie schon die Revolution anzuknurren und die Studenten aufzufordern, die politische Betätigung aufzugeben und das Studium wieder aufzunehmen. Unter den Anhängern der Revolution gab es Kleinmütige, die nunmehr erklärten: Gehen wir in die Duma, nach dem Zusammenbruch der Meuterei auf dem „Potemkin" ist ein bewaffneter Aufstand hoffnungslos, nach dem Friedensschluss ist ein Massenkampf unwahrscheinlich.

Wiederum war es nur dem revolutionären Kampf des Proletariats vorbehalten, die nächste historische Aufgabe wirklich zu lösen.

Das Manifest, das das Versprechen der Konstitution enthielt, wurde dem Zaren durch den Generalstreik vom Oktober abgerungen. Bauern und Soldaten begannen neuen Lebensmut zu schöpfen und sich im Gefolge der Arbeiter zur Freiheit und zum Licht empor zu recken. Es begannen kurze Wochen der Freiheit, nach ihnen aber Wochen der Pogrome, viehischen Wütens der Schwarzhunderter, einer furchtbaren Verschärfung des Kampfes, einer unerhört blutigen Rache an all denen, die die Waffe ergriffen hatten, um die dem Zaren entrissenen Freiheitsrechte zu verteidigen.

Wiederum wird die Bewegung auf eine höhere Stufe gehoben, von Neuem aber folgt, äußerlich besehen, eine völlige Niederlage des Proletariats. Wütende Vergeltungsmaßregeln, überfüllte Kerker, zahllose Hinrichtungen, schändliches Geheul der Liberalen, die sich von Aufstand und Revolution losgesagt haben.

Wiederum beziehen die Spießbürger des loyalen Liberalismus die Vorbühne. Sie schlagen Kapital aus dem letzten Vorurteil der Bauern, die an den Zaren glauben. Sie versuchen, glauben zu machen, dass von einem Wahlsieg der Demokratie die Mauern Jerichos fallen werden. Sie geben in der Duma den Ton an und beginnen wiederum, sich gegenüber dem Proletariat und der revolutionären Bauernschaft wie satte Hofhunde gegenüber „Bettlern" zu benehmen.

Die Auflösung der Duma bildet das Ende der liberalen Hegemonie, die die Revolution gebremst und niedergehalten hatte. Die Bauernschaft hat am meisten von der Duma gelernt. Sie gewinnt jetzt dadurch, dass sie die schädlichsten Illusionen verliert. Auch das ganze Volk ist nach den Erfahrungen, die es mit der Duma gemacht hat, zu einem anderen geworden. Die nächste Aufgabe wird klarer erkannt, dank dem Misserfolg der Volksvertretung, auf die viele alle ihre Hoffnungen gesetzt hatten. Die Duma hat geholfen, genauer die Kräfte zu messen, sie hat zumindest gewisse Bestandteile der Volksbewegung zusammengeschweißt, sie hat in der Wirklichkeit gezeigt, wie die verschiedenen Parteien handeln, sie hat immer wieder neuen Massen aufs anschaulichste das wahre Gesicht der Parteien der liberalen Bourgeoisie und der Bauernschaft gezeigt.

Die Entlarvung der Kadetten, der Zusammenschluss der Trudowiki, das sind mit die wichtigsten Errungenschaften der Dumaperiode. Die verlogene Demokratie der Kadetten ist Dutzende Male in der Duma selbst gebrandmarkt worden, und zwar von Leuten, die bereit waren, den Kadetten zu glauben. Der graue russische Muschik hat aufgehört, eine politische Sphinx zu sein. Trotz aller Beschränkung der Wahlfreiheit hat er vermocht, eine politische Rolle zu spielen, und den neuen politischen Typus des Trudowiks geschaffen. Von nun ab werden die revolutionären Manifeste neben den Unterschriften der Organisationen und Parteien, die sich im Laufe von Jahrzehnten herausgebildet haben, die Unterschrift der Trudowikigruppe tragen, die im Verlauf einiger Wochen entstanden ist. Die revolutionäre Demokratie ist um eine neue Organisation reicher geworden, die natürlich manche Illusionen teilt, die den kleinen Produzenten eigen sind, die aber in der gegenwärtigen Revolution zweifellos die Bestrebungen rücksichtslosen Massenkampfes gegen den asiatischen Absolutismus und fronherrlichen Großgrundbesitz verkörpert.

Die Erfahrung, die die revolutionären Klassen mit der Duma gemacht haben, hat sie stärker zusammengeschweißt, einander näher gebracht und mehr zum allgemeinen Sturm auf den Zarismus befähigt. Dem Absolutismus ist eine weitere Wunde geschlagen. Er ist noch mehr isoliert. Er steht den Aufgaben, die seine Kräfte bei weitem übersteigen, noch hilfloser gegenüber. Hunger und Arbeitslosigkeit aber werden immer stärker. Immer häufiger flackern Bauernaufstände auf.

Sveaborg und Kronstadt haben die Stimmung des Heeres gezeigt. Die Aufstände sind unterdrückt, aber der Aufstand lebt, wird breiter und wächst. Dem Streik zur Unterstützung der Aufständischen haben sich erhebliche Teile des Schwarzen Hunderts angeschlossen. Diesen Streik haben die fortgeschrittenen Arbeiter beendet und haben recht daran getan, denn der Streik war zu einer Demonstration geworden, während die wirkliche Lage der Dinge großen und entschlossenen Kampf erforderte.

Die fortgeschrittenen Arbeiter haben die Aufgabe des Augenblicks richtig erkannt. Sie haben schnell eine verkehrte strategische Aktion geändert und Kräfte für den kommenden Kampf gespart. Sie haben instinktiv die Notwendigkeit eines Streiks, der in den Aufstand übergeht, und die Schädlichkeit eines Demonstrationsstreiks erkannt.

Alle Anzeichen deuten darauf hin, dass die Stimmung sich hebt. Es ist unvermeidlich, dass die Massen von neuem losschlagen – vielleicht ist der Zeitpunkt des Losschlagens nicht mehr fern. Die Hinrichtungen von Sveaborg und Kronstadt, die Strafexpeditionen gegen die Bauern, die Hetze gegen die Dumamitglieder der Trudowiki, das alles schürt nur den Hass, sät Entschlossenheit und zielbewusste Kampfbereitschaft. Mehr Kühnheit, Genossen, mehr Glauben an die Kraft der an neuen Erfahrungen reicheren revolutionären Klassen und vor allem an die Kraft des Proletariats, mehr selbständige Initiative! Alle Anzeichen deuten darauf hin, dass wir am Vorabend eines großen Kampfes stehen. Alle Kräfte müssen darauf gerichtet werden, gleichzeitig loszuschlagen und entschlossen und so heldenmütig zu kämpfen, wie die Massen in allen Ereignissen der russischen Revolution gekämpft haben. Mögen die Liberalen feige auf diesen herannahenden Kampf deuten, einzig und allein, um der Regierung zu drohen, mögen diese beschränkten Spießbürger die ganze Kraft des „Verstandes und des Gefühls" dazu verwenden, neue Wahlen zu erwarten, – das Proletariat rüstet sich zum Kampfe, geht entschlossen und frohen Mutes dem Sturm entgegen, bereit, sich in die heißeste Schlacht zu stürzen. Genug der Hegemonie der feigen Kadetten, dieser „dummen Pinguine", die „schüchtern ihren fetten Leib in den Felsenklüften verbergen"!

Mag der Sturm noch stärker brausen! Wilder mag das Wetter wüten!"

1 Es handelt sich um die Streiks, die von den Arbeitern in Petersburg, Moskau und in einer Reihe anderer Städte, zur Unterstützung der Aufstände in Sveaborg und Kronstadt, begonnen wurden. In Petersburg machte die Vorbereitung der Streiks folgende Etappen durch. Sobald die Nachricht von dem Aufstand eingetroffen war, beschloss das Zentralkomitee, am selben Tage (am 1. August [19. Juli]), eine Beratung sämtlicher revolutionärer Parteien und Organisationen zwecks Unterstützung der Aufständischen einzuberufen. Die Beratung trat jedoch erst in der Nacht vom 2. zum 3. August (20. bis 21. Juli) zusammen. An ihr beteiligten sich: das ZK der SDAPR, die sozialdemokratische Fraktion der Reichsduma, das ZK des „Bund", das ZK der PPS, der Vollzugsausschuss der „Trudowikigruppe" und der sozialdemokratischen Fraktion der Reichsduma und das ZK der Partei der Sozialrevolutionäre. Die Beratung fasste nach einigem Schwanken den Beschluss, den Generalstreik in ganz Russland zu proklamieren.

Weder in der Beratung selbst noch in seinen Briefen an die Parteiorganisationen nach der Beratung hat das ZK darauf hingewiesen, dass der Streik, der nicht nur eine Demonstration war, in den Aufstand umschlagen müsse. Im Gegenteil, das Zentralkomitee sah in dem bevorstehendem Streik eine jener „partiellen Massenprotestaktionen", zu denen es gleich nach der Auflösung der Duma (siehe Anm. 9) aufgerufen hatte. In seinem 5. „Brief an die Parteiorganisationen" vom 11. August (29. Juli) betonte das Zentralkomitee das besonders scharf und versuchte zu beweisen, dass sogar das bolschewistische Petersburger Komitee endlich die frühere Taktik des Zentralkomitees als richtig anerkannt habe: „Unter dem Eindruck … der Aufstände – schrieb das Zentralkomitee in diesem Brief – hat sich das Petersburger Komitee der SDAPR mit der Meinung des Zentralkomitees einverstanden erklärt…"

In Wirklichkeit aber beschloss das Petersburger Komitee, zu einem beträchtlichen Teil unter dem Einfluss Lenins (siehe „Proletarskaja Rewoluzija" Nr. 7 (30), 1924, S. 175), zur Ausdehnung und Vertiefung des Aufstandes den Streik zu proklamieren, und dieser Streik setzte denn auch am 3. August (21. Juli) ein. Am folgenden Tage erreichte die Zahl der Streikenden 80.000 Mann. Vom ersten Augenblick an jedoch schlossen sich dem Streik Elemente an, die an den Oktober- und Dezemberereignissen 1905 nicht teilgenommen hatten, ja zum Teil sogar Elemente, die noch vor kurzem zu den Schwarzen Hundert gehört hatten. Es streikten die Bauarbeiter, die rückständigsten Arbeitergruppen des Putilowwerkes, die Pferdebahnen und sogar die Droschkenkutscher. Die Großbetriebe dagegen, wo das klassenbewusste Proletariat konzentriert war, wie z. B. die Werke Obuchow, Semjannikow u. a., lehnten den Streik ab. Die von diesem Teil der Arbeiter, die die Notwendigkeit der Vorbereitung zum Entscheidungskampf betonten, erfolgte Ablehnung entschied den Ausgang des Streiks: am 4. August (22. Juli) begann der Streik zu versanden.

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