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Wladimir I. Lenin 19070106 Die politische Lage und die Aufgaben der Arbeiterklasse

Wladimir I. Lenin: Die politische Lage und die Aufgaben der Arbeiterklasse

[Ternii Truda" Nr. 1, 6. Januar 1907 (24. Dezember 1906). Nach Sämtliche Werke, Band 10, Wien-Berlin 1930, S. 308-313]

Nach der Auflösung der Duma vermochte die Regierung nur mit Hilfe des militärischen Terrors die Empörung im Lande einzudämmen. Kleiner und großer Belagerungszustand, Verhaftungen ohne Ende, Feldgerichte und Strafexeditionen, dies alles zusammen kann nur als militärischer Terror bezeichnet werden.

Bei dieser militärischen Unterdrückung der Freiheitsbewegung erprobte die Regierung ihre Kraft. Langt die Kraft, so werden wir eine Duma überhaupt nicht einberufen, werden sofort die Wünsche des „Bundes des Russischen Volkes" und sonstiger „echt russischer" Parteien der Schwarzen Hundert erfüllen. Langt die Kraft nicht, so werden wir noch einmal eine Duma einberufen, den Versuch machen, das Wahlgesetz zu ändern, Vorkehrungen treffen, dass eine Schwarzhundert-Duma zustande kommt, oder die Kadetten-Duma zu zähmen versuchen. So dachte die Regierung.

Die militärische Kraft schonungsloser Unterdrückung reichte, bisher wenigstens, nur aus, um mit Hilfe von Senatserläuterungen entgegen dem Gesetz tausenden und zehntausenden Arbeitern, besitzlosen Bauern und Eisenbahnern das Wahlrecht zu nehmen. Die finanziellen Schwierigkeiten der Regierung haben sich außerordentlich verstärkt. Einstweilen gelingt es nicht, eine Anleihe unterzubringen. Der Staatsbankrott ist in bedrohliche Nähe gerückt. Innerhalb des Landes kann sich die Regierung auf keine einzige Partei stützen, sie schwankt zwischen den Hooligans (echt russische Leute) und den Oktobristen. Es ist ihr nicht einmal gelungen, mit den Oktobristen vollends handelseinig zu werden.

Unter solchen Bedingungen beginnt die Wahlkampagne zur zweiten Duma. Der Spießbürger ist eingeschüchtert. Die Feldgerichte haben ihn in eine gedrückte Stimmung versetzt. Die Prahlereien der Regierung, die Duma werde ein gefügiges Werkzeug sein, haben Eindruck auf ihn gemacht. Er lässt sich von einer Stimmung fortreißen und ist bereit, den Kadetten alle Fehler zu verzeihen, ist bereit, alles das, was ihn die erste Duma gelehrt hat, über Bord zu werfen und für die Kadetten zu stimmen, um nur einen Wahlsieg der Schwarzen Hundert zu verhindern.

Das entspricht ganz der Natur des Spießbürgers. Der Spießbürger lässt sich niemals von einer festen Weltanschauung, von Prinzipien einer zielbewussten Parteipolitik leiten. Er schwimmt stets mit dem Strom und gibt sich blind seiner Stimmung hin. Er kann dem Schwarzen Hundert nur die allerbescheidenste der oppositionellen Parteien entgegenstellen. Er ist nicht fähig, die Lehren der ersten Duma selbständig zu überdenken.

Was aber der Natur des Spießbürgers entspricht, ist für einen Parteimenschen unverzeihlich und für einen Sozialdemokraten geradezu unanständig. Man höre doch einmal die Argumente jener Sozialdemokraten an, die die sozialistischen Arbeiter auffordern, für die Kadetten zu stimmen (gleichviel, ob man für die Kadetten allein stimmen soll, wo die Sozialdemokraten überhaupt verzichtet haben Kandidaten aufzustellen, oder für Kadetten und Sozialdemokraten, wo eine gemeinsame Liste aufgestellt worden ist). An Stelle von Argumenten wird man nur einen Kehrreim hören, einen Ruf des Schreckens und der Verzweiflung: wenn nur keine Schwarzhunderter durchkommen! Alle Stimmen den Kadetten! Gemeinsame Listen mit den Kadetten!

Ein Sozialdemokrat, ein Mitglied der Arbeiterpartei kann nicht zu diesem Spießbürgertum herabsinken. Er muss eine klare Vorstellung davon haben, welche wirklichen gesellschaftlichen Kräfte den Kampf führen, welche wirkliche Bedeutung der Duma im allgemeinen und insbesondere der Partei der Kadetten, die in der ersten Duma das Heft in der Hand hatte, zukommt. Wer über die gegenwärtige Politik des Proletariats Betrachtungen anstellt, ohne alle diese Fragen durchdacht zu haben, der wird niemals zu einigermaßen richtigen Schlüssen gelangen können.

Worum geht gegenwärtig der Kampf in Russland? Um die Freiheit, das heißt um die Macht der Volksvertreter im Staate, und nicht um die Macht der alten Regierung. Um das Land für die Bauern. Die Regierung kämpft aus allen Kräften gegen diese Bestrebungen, verteidigt ihre Macht und ihr Land (gehören doch die reichsten Gutsbesitzer zu den allervornehmsten und höchstgestellten Persönlichkeiten im Staate). Die Regierung hat gegen sich die Arbeiter und die Massen der armen Bauern und ebenso natürlich auch die Massen der armen Bevölkerung in den Städten, von der man gar nicht besonders zu reden braucht, da sie keine besonderen Interessen hat, die sich von den Grundinteressen des Proletariats und der Bauernschaft unterscheiden.

Welche Stellung nehmen die oberen Klassen, die Gutsbesitzer und die Bourgeoisie, diesem Kampfe gegenüber ein? Anfangs, bis zum 30. (17.) Oktober war ein großer Teil von ihnen liberal, d. h., er sympathisierte mit der Freiheit und half sogar in der einen oder anderen Weise den Arbeitern in ihrem Kampfe. Die Bourgeoisie war mit der autokratischen Regierungsordnung unzufrieden und forderte Beteiligung an den Staatsgeschäften. Die Bourgeoisie bezeichnete sich als demokratisch, d. h. sie gab vor, für die Volksfreiheit einzutreten, um im Volke Unterstützung für ihre Bestrebungen zu finden. Nach dem 30. (17.) Oktober jedoch gab sich die Bourgeoisie mit dem zufrieden, was sie erhalten hatte, d. h. mit der Beteiligung der Gutsbesitzer und Kapitalisten an den Staatsgeschäften und mit den freiheitlichen Versprechungen der am Ruder gebliebenen alten Macht. Die Bourgeoisie war über den selbständigen Kampf des Proletariats und der Bauernschaft erschreckt und verkündete: Schluss mit der Revolution!

Vor dem 30. (17.) Oktober gab es eine breite liberal-bürgerliche Partei der Semstwoleute, die auf ihren berühmten halblegalen Tagungen zusammenkamen und im Ausland die Zeitschrift „Oswoboschdenije" herausgaben. Nach dem 30. [17.] Oktober spalteten sich die Teilnehmer der Semstwotagungen: die Geschäftsleute und Kapitalisten und diejenigen Gutsbesitzer, die größere Güter besaßen oder auf feudale Weise wirtschafteten, traten der Oktobristen-Partei bei, d. h. liefen schnurstracks ins Lager der Regierung über. Der übrige Teil, insbesondere die Advokaten, Professoren und sonstigen bürgerlichen Intellektuellen, gründeten die Partei der KD (Konstitutionelle Demokraten). Diese Partei schwenkte ebenfalls gegen die Revolution um, erschrak ebenfalls vor dem Kampfe der Arbeiter, verkündete ebenfalls: Schluss! Aber sie wollte und will den Kampf mit feineren Mitteln beenden, mit kleinen Zugeständnissen an das Volk, mit der Ablösung für die Bauern. Die Partei der Kadetten versprach dem Volke die Freiheit und den Bauern Land – wenn das Volk Kadetten in die Duma wählen wird. Die Sozialdemokraten wussten sehr wohl, dass dies ein Volksbetrug war, und boykottierten daher die Duma. Die unaufgeklärten Bauern und die verschüchterten Spießbürger entsandten jedoch Kadetten in die Duma. Anstatt den Kampf für die Freiheit aufzunehmen, begannen die Kadetten aus der Duma das Volk zur Ruhe zu mahnen, selbst aber begannen sie nach Ministerposten in der Zarenregierung zu trachten. Die Duma aber wurde wegen ungebührlicher Reden auseinandergejagt, d. h. deshalb aufgelöst, weil die Sozialdemokraten und andere kühnere Dumamitglieder sich von der Dumatribüne aus an das Volk wandten und es zum Kampfe aufriefen.

Jetzt aber müssen auch die blindesten oder unaufgeklärtesten Leute begreifen, was die Kadettenpartei ist. Es ist keine Partei von Volkskämpfern, sondern von bürgerlichen Fürsprechern, von Vermittlern und Geschäftemachern. Die Arbeiter und die bewussten Bauern werden erst dann in der Lage sein, ihre Ziele zu verwirklichen, wenn die Masse aufhört, der Kadettenpartei Vertrauen zu schenken, wenn sie die Notwendigkeit des selbständigen Kampfes begriffen hat. Für die Kadetten zu stimmen und die Wahl von Kadetten zu propagieren, bedeutet daher, das Bewusstsein der Massen, ihre Geschlossenheit und ihre Kampfbereitschaft zu schwächen.

Vor den klassenbewussten Arbeitern ersteht jetzt eine ganz andere Aufgabe. Gegen die spießbürgerliche Hilflosigkeit und Gedankenlosigkeit müssen sie jetzt mit einer folgerichtigen, logisch durchdachten, einheitlich geschlossenen sozialistischen Propaganda in der Wahlkampagne auftreten.

Die nächste Aufgabe der klassenbewussten Arbeiter besteht darin, der gesamten Masse des Proletariats und allen fortschrittlichen Vertretern der Bauernschaft klarzumachen, wie der wirkliche Kampf geht, welches die wirkliche Stellung der einzelnen Klassen in diesem Kampfe ist.

Während unserer Revolution haben sich die Arbeiter mehr entwickelt als alle anderen Klassen. Sie drängen jetzt in Massen zur Sozialdemokratie. Hier ist natürlich eine verstärkte, breitere Arbeit erforderlich. Aber der Weg für diese Arbeit ist bereits geebnet. Am wichtigsten und schwierigsten ist die Arbeit in der Bauernschaft. Die Bauern sind eine Klasse von Kleinbesitzern. In dem Kampf für Freiheit und Sozialismus befindet sich diese Klasse in viel ungünstigeren Bedingungen als die Arbeiter. Die Bauern sind nicht in Großbetrieben zusammengefasst. Sie sind in kleine, getrennte Wirtschaften zersplittert. Die Bauern haben keinen so offenen, klar sichtbaren, einheitlichen Feind vor sich wie die Arbeiter in dem Kapitalisten. Die Bauern sind zum Teil selbst Besitzer und Eigentümer; darum befinden sie sich stets im Schlepptau der Bourgeoisie, wollen ihr nachahmen und träumen von der Entwicklung und Festigung ihres kleinen Privateigentums und nicht vom allgemeinen Kampf der Arbeiterklasse gegen die Klasse der Kapitalisten.

Aus diesem Grunde ist die ganze Masse der bäuerlichen Armut stets und in allen Ländern im Kampfe für Freiheit und Sozialismus weniger standhaft gewesen als die Arbeiter. Aus diesem Grunde haben auch bei uns in Russland die bäuerlichen Dumaabgeordneten, die Trudowiki, ungeachtet aller Lehren des Verrats der Kadetten, noch nicht vermocht, sich von dem Einfluss der liberalen Bourgeoisie zu befreien, von ihren Ansichten, ihren Vorurteilen, ihren politischen Methoden – Methoden, die schlau und gerissen sein wollen, aus schönen „Manövern" bestehen, in Wirklichkeit aber dumm und nutzlos und für jeden wirklichen Kämpfer schmachvoll sind.

Klassenbewusste Arbeiter! Benutzt die Wahlkampagne, um dem Volke gründlich die Augen zu öffnen. Schenkt den wohlmeinenden, aber schwachen und unbeständigen Leuten kein Gehör, die euch zur Listengemeinschaft mit den Kadetten auffordern, die zur Verdunkelung des Bewusstseins der Massen durch gemeinsame Losungen mit den Kadetten aufrufen. Verhaltet euch kritisch gegenüber dem landläufigen Geschrei, dem Gejammer und den Schreckbildern über die Schwarzhundertgefahr. Die wirkliche, die Hauptgefahr für die russische Revolution ist die Unwissenheit der Bauernmassen, ihre Unbeständigkeit im Kampfe, ihr Nichtverstehen der ganzen Hohlheit und des ganzen Verrats des bürgerlichen Liberalismus. Kämpft gegen diese Gefahr, sprecht offen und ohne Bedenken vor den gesamten Volksmassen die ganze Wahrheit aus. Dadurch werdet ihr sie dem Einfluss der kadettischen Phrasenhelden entziehen und zur Unterstützung der SoziaIdemokratie heranziehen. So und nur so werdet ihr die wirkliche Schwarzhundertgefahr niederringen können. Und keine Senatserläuterungen, keine Hinrichtungen, keine Verhaftungen werden das Volk um die Früchte einer solchen Arbeit bringen können, der Arbeit der Steigerung des staatsbürgerlichen und des Klassenbewusstseins der Massen, der Arbeit der Organisierung der Massen für selbständige und nicht liberal-bürgerliche Kampfaufgaben.

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