Lenin‎ > ‎1907‎ > ‎

Wladimir I. Lenin 19070127 Die Wahlkampagne der Arbeiterpartei in Petersburg

Wladimir I. Lenin: Die Wahlkampagne der Arbeiterpartei in Petersburg

[Prostyje Rjetschi" Nr. 1, 27. (14.) Januar 1907. Nach Sämtliche Werke, Band 10, Wien-Berlin 1930, S. 335-339]

Zum dritten Mal in diesem Jahr ist die Konferenz der gesamten Petersburger Organisationen der russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei zusammengetreten. Die erste Konferenz behandelte die Frage der Wahlen zur Witteschen Duma, im Februar 1906, die zweite – die Frage der Unterstützung der Forderung nach einem Duma-Ministerium, im Juni 1906, die dritte – die Wahlkampagne zur zweiten Duma, im Januar 1907.

Die großen politischen Fragen werden von den bürgerlichen Parteien von Fall zu Fall entschieden, durch einen einfachen Beschluss der einen oder anderen Partei„instanz", die hinter den Kulissen verschiedene Politikantenrezepte für das Volk bereitet. Allein die Sozialdemokratische Arbeiterpartei verwirklicht in ihrer Organisation tatsächlich die Demokratie, trotz der ungeheuren Schwierigkeiten, sogar der schweren Opfer, mit denen das für eine illegale Partei verbunden ist. Nur die Sozialdemokratische Arbeiterpartei erwägt vor jedem wichtigen politischen Schritt seine prinzipielle Bedeutung, ohne Augenblickserfolgen nachzujagen, denn sie ordnet ihre praktische Politik dem Endziel der völligen Befreiung der Arbeit von jeder Ausbeutung unter. Nur die Arbeiterpartei verlangt, wenn sie in den Kampf zieht, von allen ihren Mitgliedern eine durchdachte, gerade und klare Antwort auf die Frage, ob ein bestimmter Schritt getan und wie er getan werden soll.

Auch die letzte Konferenz der Petersburger Organisation beruhte auf der demokratischen Vertretung aller Parteimitglieder. Dabei erfolgte die Wahl der Delegierten auf Grund der allen Wählern vorgelegten Frage nach ihrer Stellung zu einem Abkommen mit den Kadetten. Ohne bewusste Antwort auf die brennendste Frage unserer Taktik wären demokratische Wahlen zur Konferenz ein leeres Wort und ein des Proletariats unwürdiges Spiel gewesen.

Hier die auf der Konferenz angenommene Resolution:

In der Erwägung, 1. dass die Sozialdemokratie als die Klassenpartei des Proletariats in allen Fällen, wo keine besonderen und außerordentlichen Bedingungen vorliegen, die Wahlkampagne unbedingt selbständig durchführen muss; 2. dass die St. Petersburger Sozialdemokratie mit ihrem Petersburger Komitee an der Spitze bis jetzt die Wahlkampagne ganz selbständig geführt und dabei auf alle Schichten der werktätigen Bevölkerung ihren Einfluss ausgeübt hat, sowohl auf diejenigen, die einen konsequenten proletarischen Standpunkt einnehmen, als auch auf diejenigen, die sich noch nicht völlig zu einem solchen Standpunkt durchgerungen haben; 3. dass gegenwärtig, zwei Wochen vor den Wahlen, schon offenkundig ist, dass die rechten Parteien in St. Petersburg nur geringe Aussichten haben, während man die Aussichten der Kadetten (hauptsächlich kraft der Tradition) für sehr gut hält, weswegen der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands die dringende Aufgabe zufällt, alle Kräfte anzuspannen, um die Hegemonie der Kadetten in der Hauptstadt, auf die die Aufmerksamkeit ganz Russlands gerichtet ist, zu brechen; 4. dass sich in breiten Schichten der werktätigen städtischen Armut, die noch nicht auf proletarischem Standpunkt stehen und die den Ausgang der Wahlen in der städtischen Kurie beeinflussen können, ein Schwanken bemerkbar macht zwischen dem Bestreben, für Parteien zu stimmen, die weiter links stehen als die Kadetten, d. h. sich von der Führung der verräterischen liberal-monarchistischen Bourgeoisie zu befreien, und dem Bestreben, sich durch einen Block mit den Kadetten wenigstens einige Trudowikiabgeordnete zu sichern; 5. dass sich bei den schwankenden Parteien der Werktätigen das Bestreben bemerkbar macht, den Block mit den Kadetten zu rechtfertigen unter der Bedingung, dass sie einen oder jedenfalls nicht mehr als zwei von den sechs Sitzen der Hauptstadt erhalten, damit zu rechtfertigen, dass die Sozialdemokraten unter keinen Umständen bereit seien, Abkommen mit nichtsozialdemokratischen Schichten der städtischen Armut gegen die liberale Bourgeoisie einzugehen, –

beschließt die Konferenz: 1. unverzüglich dem St. Petersburger Komitee der Partei der Sozialrevolutionäre und dem Komitee der Trudowikigruppe mitzuteilen, dass das Petersburger Komitee der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands bereit ist, ein Abkommen mit ihnen zu treffen, unter der Bedingung, dass sie keine Abkommen mit den Kadetten eingehen; 2. die Bedingungen des Abkommens lauten: völlige Selbständigkeit der vertragschließenden Parteien in Hinsicht auf Losungen, Programm und allgemeine Taktik. Die sechs Dumamandate werden folgendermaßen verteilt: zwei Mandate stehen der Arbeiterkurie zu, zwei den Sozialdemokraten, ein Mandat den Sozialrevolutionären und eins den Trudowiki; 3. die Konferenz beauftragt ihren Vollzugsausschuss, die Verhandlungen zu führen; 4. im Petersburger Gouvernement sind örtliche Wahlvereinbarungen mit den Sozialrevolutionären und den Trudowiki auf der Grundlage der gleichen prinzipiellen Erwägungen zulässig.

Anmerkung: Bezüglich der Partei der NS (Werktätige oder Volkssozialistische Partei) beschließt die Konferenz: Angesichts der Tatsache, dass diese Partei gegenüber den Grundfragen des außerparlamentarischen Kampfes einen ausweichenden Standpunkt einnimmt, hält die Konferenz eine Vereinbarung mit den Sozialrevolutionären und den Trudowiki nur unter der Bedingung für zulässig, dass keine Vereinbarung zwischen ihnen und der Partei der NS vorliegt.“

Diese Resolution enthält drei Hauptpunkte. 1. Unbedingte Ablehnung aller Wahlabkommen mit den Kadetten. 2. Unerschütterliche Entschlossenheit der Sozialdemokraten, unter allen Bedingungen selbständige Listen aufzustellen, und 3. Zulässigkeit von Abkommen mit den Sozialrevolutionären und den Trudowiki.

Die Ablehnung eines Abkommens mit den Kadetten war für die Arbeiterpartei eine Selbstverständlichkeit. Sobald die Wahlversammlungen in Petersburg begannen, stellte es sich sofort für jedermann heraus, wie recht die revolutionären Sozialdemokraten hatten, als sie erklärten: Mit dem Geschrei über die Schwarzhundert-Gefahr haben unsere Liberalen Hohlköpfen und prinzipienlosen Leuten den Kopf verdreht, um die wirkliche Gefahr, die ihnen von links drohte, von sich abzulenken. Die kleinen Polizeimachenschaften der Regierung, der Diebstahl an den Wählern der Armut durch die Senatserläuterungen, – das alles vermochte nicht die Stimmung der Wählermassen (100, 120 oder 150 Tausend Wähler, wie viel immer es auch sein mögen) zu ändern. Diese Stimmung aber tritt deutlich bei den Versammlungen in Erscheinung, die Massen sind radikaler gestimmt als die Kadetten.

Natürlich braucht die Schwarzhundert-Gefahr nicht darin zu bestehen, dass die Wählermassen für die Schwarzhunderter stimmen, sie kann auch in der reaktionären Maßnahme der polizeilichen Verhaftung der linken Wähler und Wahlmänner bestehen. Hartnäckig wird davon gesprochen, dass die gegenwärtige relative ..Freiheit" (man hat erlaubt aufzuatmen – das bezeichnet man in Russland schon als Freiheit!) der Wahlversammlungen eine Provokation der Regierung sei, die beabsichtigt, alle bekannten Redner und Wahlmänner zu verhaften. Aber es ist nicht schwer zu verstehen, dass gegen eine solche Schwarzhundert-Gefahr ganz und gar nicht Blocks mit den Kadetten erforderlich sind, sondern die Bereitschaft der Massen zum Kampf, der sich nicht in den Rahmen des sogenannten Parlamentarismus einfügt.

Zweitens. Die Konferenz hat, wie zu erwarten stand, beschlossen, dass die Sozialdemokraten in der Hauptstadt unter allen Umständen eine selbständige Wahlkampagne führen. Sie können einer anderen Partei das eine oder andere Abkommen vorschlagen, aber auf völlige Selbständigkeit haben wir uns früher vorbereitet und sind auch jetzt dazu bereit. Unter solchen Umständen ist ein Abkommen vom Standpunkt der Wahlkampagne als Ganzes genommen in Wirklichkeit eine Ausnahme; die Selbständigkeit der Sozialdemokratie ist die Regel.

Drittens. Die Konferenz hat den Sozialrevolutionären und den Trudowiki ein Abkommen vorgeschlagen mit der Bedingung, dass sie sich von den Kadetten und den kadettischen Volkssozialisten trennen, und der weiteren Bedingung, dass zwei Mandate der Arbeiterkurie zur Verfügung gestellt und die übrigen vier Mandate geteilt werden.

Dieser Vorschlag geht von dem Grundsatz aus, dass die Parteien gemäß ihrer Stellung zum außerparlamentarischen Kampf behandelt werden, der morgen schon zu einer brennenden Tagesaufgabe werden kann. Die Sozialdemokratie, die ihre Vereinbarung mit anderen Parteien von prinzipiellen Bedingungen abhängig macht, liefert somit Material über den wahren Charakter der verschiedenen Parteien für die Propaganda und Agitation unter den Massen. Die Sozialdemokratie trägt den besonderen Umständen der Lage in Petersburg Rechnung, wo die Kadetten die Massen des städtischen Kleinbürgertums, die „trudowikisch" gestimmt sind, am Gängelband haben. Unter diesen Bedingungen dürfen wir nicht die Aufgabe vernachlässigen: diese Hegemonie der Kadetten zu brechen, dem werktätigen Volk zu helfen, einen Schritt – einen kleinen natürlich, aber von zweifellos politischer Bedeutung – zu entschlossenerem Kampfe zu tun, zu klareren politischen Auffassungen und zur Herausarbeitung eines deutlicher ausgeprägten Klassenbewusstseins.

Dies Ergebnis werden wir durch unsere Agitation und durch die ganze Führung unserer Wahlkampagne erreichen, wir werden es unter allen Umständen erreichen, wie immer auch die Antwort der Trudowiki und der Sozialrevolutionäre auf unseren Vorschlag lauten mag. Wir brauchen uns gar nicht den Kopf darüber zu zerbrechen, ob eine bejahende oder eine ablehnende Antwort wahrscheinlich ist, unser Augenmerk darf nicht darauf gerichtet sein. Wichtig für uns sind die politischen Grundsätze des Proletariats, die bei den einen wie den anderen Teilmöglichkeiten unverändert bleiben: den trügerischen Illusionen des friedlichen Kampfes und der konstitutionellen Spielereien stellen wir die klare Analyse der Aufgaben des außerparlamentarischen Kampfes entgegen, der kraft des Ganges der Ereignisse heranreift. Den kleinbürgerlichen Schichten des werktätigen Volkes in Stadt und Land sagen wir: Es gibt nur ein Mittel, der Unbeständigkeit und den Schwankungen des Kleinbesitzers ein Ende zu machen. Dieses Mittel ist die selbständige Klassenpartei des revolutionären Proletariats.

Kommentare