Wladimir I. Lenin: Thesen zum Referat über die Stellung der

sozialdemokratischen Arbeiterpartei zur III. Duma

erstattet auf der Petersburger Stadtkonferenz vom 21. (8.) Juli¹

[Geschrieben im Juli 1907 Veröffentlicht als Einzelflugblatt im Juli 1907. Nach Sämtliche Werke, Band 12, Wien-Berlin 1933, S. 49-51]

1. Der Boykott der Duma ist, wie die Erfahrungen der russischen Revolution gezeigt haben, die einzig richtige Entscheidung für die revolutionäre Sozialdemokratie unter solchen historischen Verhältnissen, wo er tatsächlich ein aktiver Boykott ist, d. h. wo er die Kraft eines unmittelbar zum Ansturm gegen die alte Ordnung (und folglich zum bewaffneten Aufstand) vorwärtsschreitenden breiten und allgemeinen revolutionären Aufschwungs zum Ausdruck bringt. Der Boykott erfüllt eine große geschichtliche Aufgabe, wenn sein Inhalt eine vom Proletariat an das ganze Volk gerichtete Warnung ist, sich nicht in kleinbürgerlicher Weise hinreißen zu lassen von Verfassungsillusionen und von den ersten von der alten Macht bewilligten pseudokonstitutionellen Institutionen.

2. Den Boykott an und für sich, ohne breiten, allgemeinen, starken und raschen revolutionären Aufschwung, ohne direkten, auf den Sturz der alten Macht gerichteten Ansturm des ganzen Volkes und ohne Zusammenhang mit der Aufgabe des Kampfes gegen eine übertriebene Bewertung der gnädigst gewährten Verfassung von Seiten des Volkes, als ein wirksames Mittel betrachten, heißt unter dem Einfluss des Gefühls, nicht aber der Vernunft handeln.

3. Die Proklamierung des Dumaboykotts mit der Begründung, dass ein den Kadetten günstiges Wahlgesetz durch ein anderes, den Oktobristen günstiges, ersetzt wurde, mit der Begründung, dass an Stelle der II. Duma, die kadettisch geredet und oktobristisch gehandelt und an der sich die Sozialdemokratie nicht ohne Nutzen für die revolutionäre Sache beteiligt hat, eine offen oktobristische Duma trete, – eine Proklamierung des Boykotts mit dieser Begründung wäre nicht nur gleichbedeutend mit der Ersetzung konsequenter revolutionärer Arbeit durch revolutionäre Nervosität, sondern würde auch zeigen, dass die Sozialdemokraten selbst von den schlimmsten Illusionen über eine kadettische Duma und eine kadettische Verfassung beherrscht sind.

4. Der Zentralpunkt der ganzen Agitationsarbeit der revolutionären Sozialdemokratie muss die Aufklärung des Volkes darüber sein, dass der Staatsstreich vom 3. Juni 1907 eine direkte und absolut unausbleibliche Folge der Niederlage des Dezemberaufstandes von 1905 ist. Die Lehren der zweiten Periode der russischen Revolution, der Jahre 1906 und 1907, bestehen darin, dass eine ähnliche systematische Offensive der Reaktion und ein ähnlicher Rückzug der Revolution, wie wir sie während dieser ganzen Periode gesehen haben, unvermeidlich sind, solange der Glaube an die Verfassung und an die angeblich verfassungsmäßigen Kampfmethoden herrscht, – dass sie unvermeidlich sind, solange das Proletariat sich nicht von seinen Niederlagen erholt, neue Kräfte sammelt und sich nicht in ungleich breiteren Massen zu einem entschlosseneren, auf den Sturz der Zarenmacht gerichteten Ansturm erhebt.

5. Die Streikbewegung, die sich gegenwärtig im Moskauer Industriegebiet entwickelt und auch auf andere Gebiete Russlands hinüber zu greifen beginnt, ist die beste Gewähr für einen in nächster Zukunft möglichen revolutionären Aufschwung. Daher muss die Sozialdemokratie ihre ganze Kraft einsetzen, nicht nur um den Wirtschaftskampf des Proletariats zu unterstützen und zu fördern, sondern auch um diese, vorläufig noch gewerkschaftliche Bewegung in einen breiten revolutionären Aufschwung und in einen unmittelbaren Kampf der Arbeitermassen gegen die bewaffnete Macht des Zarismus zu verwandeln. Erst wenn die Bestrebungen der Sozialdemokratie nach dieser Richtung hin von Erfolg gekrönt sein werden, erst auf dem Boden einer bereits vorhandenen offensiven revolutionären Bewegung kann die Losung des Boykotts, in unlöslichem Zusammenhang mit der direkten Aufforderung der Massen zum bewaffneten Aufstand, zum Sturz des Zarismus, zu seiner Ersetzung durch eine provisorische revolutionäre Regierung mit dem Ziel der Einberufung einer konstituierenden Versammlung auf Grund der allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Abstimmung, ernste Bedeutung erlangen.