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Wladimir I. Lenin 19101229 Die Differenzen in der europäischen Arbeiterbewegung

Wladimir I. Lenin: Die Differenzen in der europäischen Arbeiterbewegung

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[Veröffentlicht am 16./29. Dezember 1910 in der Zeitung „Swesda“ Nr. 1. Gezeichnet: W. Iljin. Nach Sämtliche Werke, Band 15, Moskau 1941, S. 3-8]

Die grundlegenden taktischen Differenzen in der modernen Arbeiterbewegung Europas und Amerikas laufen auf den Kampf gegen zwei größere Richtungen hinaus, die vom Marxismus abweichen, der faktisch zur herrschenden Theorie in dieser Bewegung geworden ist. Diese zwei Richtungen sind der Revisionismus (Opportunismus, Reformismus) und der Anarchismus (Anarchossyndikalismus, Anarchosozialismus). Diese beiden Abweichungen von der in der Arbeiterbewegung herrschenden marxistischen Theorie und marxistischen Taktik sind im Verlaufe der mehr als fünfzigjährigen Geschichte der proletarischen Massenbewegung in verschiedenen Formen und verschiedenen Schattierungen in allen zivilisierten Ländern zu beobachten.

Schon aus dieser Tatsache allein erhellt, dass sich diese Abweichungen weder aus Zufälligkeiten noch aus Irrtümern einzelner Personen oder Gruppen, noch selbst aus dem Einfluss nationaler Besonderheiten oder Traditionen usw. erklären lassen. Es muss tiefer liegende Ursachen geben, die in der Wirtschaftsordnung und im Charakter der Entwicklung aller kapitalistischen Länder wurzeln und diese Abweichungen ständig erzeugen. Die im vorigen Jahr erschienene kleine Schrift des holländischen Marxisten Anton Pannekoek „Die taktischen Differenzen in der Arbeiterbewegung“ (Hamburg, Erdmann Dubber, 1909) stellt einen interessanten Versuch der wissenschaftlichen Erforschung dieser Ursachen dar. Wir wollen in den weiteren Ausführungen den Leser mit Pannekoeks Schlussfolgerungen bekannt machen, die man als durchaus richtig anerkennen muss.

Eine der tiefsten Ursachen, die periodisch taktische Differenzen erzeugen, ist eben die Tatsache des Wachstums der Arbeiterbewegung. Misst man diese Bewegung nicht mit dem Maß irgendeines phantastischen Ideals, sondern betrachtet man sie als reale Bewegung gewöhnlicher Menschen, so wird es einleuchten, dass die Gewinnung immer neuer „Rekruten“, die Einbeziehung neuer Schichten der werktätigen Masse unvermeidlich begleitet sein muss von Schwankungen in Theorie und Taktik, von Wiederholungen alter Fehler, von einer zeitweiligen Rückkehr zu veralteten Anschauungen und veralteten Methoden usw. Auf die „Ausbildung“ der Rekruten verwendet die Arbeiterbewegung jedes Landes periodisch größere oder kleinere Mengen von Energie, Aufmerksamkeit und Zeit.

Weiter. Die Entwicklung des Kapitalismus geht in den verschiedenen Ländern und auf den verschiedenen Gebieten der Volkswirtschaft nicht gleich schnell vor sich. Die Arbeiterklasse und ihre Ideologen machen sich den Marxismus am leichtesten, schnellsten, vollständigsten und festesten zu eigen unter den Bedingungen der stärksten Entwicklung der Großindustrie. Rückständige oder in ihrer Entwicklung zurückbleibende ökonomische Verhältnisse führen stets dazu, dass Anhänger der Arbeiterbewegung auftauchen, die sich lediglich gewisse Seiten des Marxismus, lediglich einzelne Teile der neuen Weltanschauung oder einzelne Losungen und Forderungen zu eigen machen, ohne imstande zu sein, mit allen Traditionen der bürgerlichen Weltanschauung im Allgemeinen und der bürgerlich-demokratischen Weltanschauung im Besonderen entschieden zu brechen.

Eine ständige Quelle der Differenzen bildet ferner der dialektische Charakter der gesellschaftlichen Entwicklung, die sich in Widersprüchen und durch Widersprüche vollzieht. Der Kapitalismus ist fortschrittlich, denn er vernichtet die alten Produktionsweisen und entwickelt die Produktivkräfte, zugleich aber hemmt er auf einer bestimmten Entwicklungsstufe das Wachstum der Produktivkräfte. Er entwickelt, organisiert und diszipliniert die Arbeiter – und er unterdrückt, unterjocht, führt zu Entartung, Elend usw. Der Kapitalismus erzeugt selbst seinen Totengräber, schafft selbst die Elemente der neuen Ordnung, gleichzeitig aber ändern diese einzelnen Elemente ohne einen „Sprung“ nichts an der allgemeinen Sachlage, rühren sie nicht an die Herrschaft des Kapitals. Der Marxismus als Theorie des dialektischen Materialismus vermag diese Widersprüche des lebendigen Lebens, der lebendigen Geschichte des Kapitalismus und der Arbeiterbewegung zu erfassen. Aber es versteht sich von selbst, dass die Massen aus dem Leben und nicht aus Büchern lernen, und darum pflegen einzelne Personen oder Gruppen bald diesen, bald jenen Zug der kapitalistischen Entwicklung, bald die eine, bald die andere „Lehre“ dieser Entwicklung aufzubauschen und zu einer einseitigen Theorie, zu einem einseitigen System der Taktik zu erheben.

Bürgerliche Ideologen – Liberale und Demokraten –, die den Marxismus und die moderne Arbeiterbewegung nicht verstehen, fallen ständig hilflos von einem Extrem ins andere. Bald suchen sie alles daraus zu erklären, dass böse Menschen eine Klasse gegen die andere „aufhetzen“, bald trösten sie sich damit, dass die Arbeiterpartei eine „friedliche Reformpartei“ sei. Als direktes Produkt dieser bürgerlichen Weltanschauung und ihres Einflusses sind sowohl der Anarchosyndikalismus als auch der Reformismus zu betrachten; sie greifen eine Seite der Arbeiterbewegung heraus, erheben die Einseitigkeit zur Theorie, und solche Tendenzen oder solche Züge dieser Bewegung, die eine spezifische Besonderheit dieser oder jener Periode, dieser oder jener Bedingungen des Wirkens der Arbeiterklasse darstellen, erklären sie für einander ausschließend. Das wirkliche Leben aber, die wirkliche Geschichte, schließt diese verschiedenen Tendenzen in sich ein, ähnlich wie das Leben und die Entwicklung in der Natur sowohl langsame Evolution als auch jähe Sprünge, Unterbrechungen der Stetigkeit in sich einschließen.

Die Revisionisten halten alle Betrachtungen über „Sprünge“ und über den prinzipiellen Gegensatz der Arbeiterbewegung zur ganzen alten Gesellschaftsordnung für Phrasen. Sie halten Reformen für eine teilweise Verwirklichung des Sozialismus. Der Anarchosyndikalist lehnt die „Kleinarbeit“, insbesondere die Ausnutzung der Parlamentstribüne, ab. In Wirklichkeit läuft die Taktik des letzteren darauf hinaus, „große Tage“ abzuwarten, ohne zu verstehen, die Kräfte zu sammeln, die die großen Ereignisse hervorbringen. Die einen wie die anderen hemmen die wichtigste, die aktuellste Arbeit: den Zusammenschluss der Arbeiter zu großen, starken, gut funktionierenden Organisationen, die es verstehen, unter allen Bedingungen gut zu funktionieren, die vom Geist des Klassenkampfes durchdrungen sind, die klar ihre Ziele erkennen und die in wirklich marxistischer Weltanschauung erzogen werden.

Hier erlauben wir uns eine kleine Abschweifung und bemerken in Parenthese, um eventuellen Missverständnissen vorzubeugen, dass Pannekoek seine Analyse ausschließlich mit Beispielen aus der westeuropäischen Geschichte, besonders der Geschichte Deutschlands und Frankreichs, illustriert, ohne im geringsten an Russland zu denken. Wenn es mitunter scheint, als spiele er auf Russland an, so kommt dies nur daher, dass die Grundtendenzen, die bestimmte Abweichungen von der marxistischen Taktik erzeugen, auch bei uns in Erscheinung treten, ungeachtet der gewaltigen Unterschiede, die in Kultur und Lebensformen sowie in Geschichte und Ökonomik zwischen Russland und dem Westen bestehen.

Eine außerordentlich wichtige Ursache, die unter den Teilnehmern der Arbeiterbewegung Differenzen erzeugt, sind schließlich die Veränderungen in der Taktik der herrschenden Klassen im Allgemeinen und der Bourgeoisie im Besonderen. Wäre die Taktik der Bourgeoisie immer gleichförmig oder zumindest immer gleichartig, so würde die Arbeiterklasse rasch lernen, sie mit einer ebenso gleichförmigen oder gleichartigen Taktik zu beantworten. In Wirklichkeit bildet die Bourgeoisie in allen Ländern unvermeidlich zwei Systeme des Regierens heraus, zwei Methoden des Kampfes für ihre Interessen und für die Verteidigung ihrer Herrschaft, wobei diese zwei Methoden bald einander ablösen, bald sich miteinander in verschiedenartigen Kombinationen verflechten. Die erste Methode ist die Methode der Gewalt, die Methode der Verweigerung aller Zugeständnisse an die Arbeiterbewegung, die Methode der Unterstützung aller alten und überlebten Institutionen, die Methode der unversöhnlichen Negation von Reformen. Darin besteht das Wesen der konservativen Politik, die in Westeuropa immer mehr aufhört, die Politik der Grundbesitzerklassen zu sein, die immer mehr zu einer der Spielarten der allgemeinen bürgerlichen Politik wird. Die zweite Methode ist die Methode des „Liberalismus“, die Methode der Schritte in der Richtung auf die Entfaltung politischer Rechte, in der Richtung auf Reformen, Zugeständnisse usw.

Nicht aus böser Absicht einzelner Personen und nicht zufällig geht die Bourgeoisie von der einen Methode zur anderen über, sondern infolge des von Grund auf widerspruchsvollen Charakters ihrer eigenen Lage. Die normale kapitalistische Gesellschaft kann sich nicht erfolgreich entwickeln ohne ein gefestigtes Repräsentativsystem, ohne gewisse politische Rechte der Bevölkerung, die unbedingt mit Ansprüchen hervortreten muss, welche in „kultureller“ Hinsicht verhältnismäßig hoch sind. Diese Ansprüche auf ein bestimmtes Minimum an Kultur werden erzeugt durch die Verhältnisse der kapitalistischen Produktionsweise selbst mit ihrer hohen Technik, ihrer Kompliziertheit, Elastizität, Beweglichkeit, mit der raschen Entwicklung der Weltkonkurrenz usw. Schwankungen in der Taktik der Bourgeoisie, Übergänge vom System der Gewaltanwendung zum System von Scheinzugeständnissen sind infolgedessen charakteristisch für die Geschichte aller europäischen Länder im Verlauf des letzten halben Jahrhunderts, wobei die verschiedenen Länder im Laufe bestimmter Perioden vorwiegend die eine oder die andere Methode entwickeln. So war z. B. England in den sechziger und siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts das klassische Land der „liberalen“ bürgerlichen Politik, das Deutschland der siebziger und achtziger Jahre hielt sich an die Methode der Gewalt usf.

Als diese Methode in Deutschland herrschte, da war der einseitige Widerhall dieses einen der beiden Systeme des Regierens der Bourgeoisie das Wachstum des Anarchosyndikalismus – oder, wie es damals hieß, des Anarchismus – in der Arbeiterbewegung (die „Jungen“ zu Beginn der neunziger, Johann Most zu Beginn der achtziger Jahre). Als 1890 eine Wendung zu „Zugeständnissen“ eintrat, erwies sich – wie immer – diese Wendung für die Arbeiterbewegung noch gefährlicher, da sie den ebenso einseitigen Widerhall des bürgerlichen „Reformertums“ hervorrief: den Opportunismus in der Arbeiterbewegung. „Das positive, reale Ziel der liberalen Politik der Bourgeoisie ist die Irreführung der Arbeiter“, sagt Pannekoek, „ist das Erzeugen von Spaltung in ihrer Mitte, ist das Verwandeln ihrer Politik in ein ohnmächtiges Anhängsel des ohnmächtigen, stets ohnmächtigen und ephemeren Scheinreformertums.“

Nicht selten erreicht die Bourgeoisie für eine gewisse Zeit ihr Ziel mit Hilfe der „liberalen“ Politik, die – wie Pannekoek richtig bemerkt – eine „schlauere“ Politik darstellt. Ein Teil der Arbeiter, ein Teil ihrer Vertreter lässt sich mitunter durch Scheinzugeständnisse irreführen. Die Revisionisten erklären die Lehre vom Klassenkampf für „veraltet“ oder schlagen eine Politik ein, die die Abkehr vom Klassenkampf in die Praxis umsetzt. Die Zickzackwege der bürgerlichen Taktik haben eine Stärkung des Revisionismus in der Arbeiterbewegung zur Folge und führen nicht selten die Differenzen innerhalb der Arbeiterbewegung bis zur direkten Spaltung.

Alle Ursachen der genannten Art erzeugen innerhalb der Arbeiterbewegung, innerhalb der proletarischen Reihen Differenzen über die Taktik. Zwischen dem Proletariat und den Schichten des Kleinbürgertums einschließlich der Bauernschaft, die sich mit dem Proletariat berühren, gibt es aber keine chinesische Mauer und kann auch keine geben. Es ist begreiflich, dass der Übergang einzelner Personen, Gruppen und Schichten vom Kleinbürgertum zum Proletariat seinerseits Schwankungen in der Taktik des Proletariats hervorrufen muss.

Die Erfahrung der Arbeiterbewegung der verschiedenen Länder hilft, an Hand konkreter Fragen der Praxis Klarheit zu schaffen über das Wesen der marxistischen Taktik; sie hilft den jüngeren Ländern, die wahre Klassenbedeutung der Abweichungen vom Marxismus klarer zu unterscheiden und diese Abweichungen erfolgreicher zu bekämpfen.

1 Diesen Artikel brachte die Zeitung „Swesda“ in der Rubrik: „Briefe aus dem Ausland“. Die Bezifferung (I) lässt vermuten, dass der Verfasser des Artikels, W. I. Lenin, die Absicht hatte, eine ganze Serie von Artikeln über das gleiche Thema zu schreiben, doch sind weiterhin keine Artikel unter diesem Titel erschienen.

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