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Internationaler Sozialistenkongress zu Basel 19121125 Manifest

Manifest des Internationalen Sozialistenkongresses zu Basel

(24. und 25. November 1912)

[Außerordentlicher Internationaler Sozialistenkongress zu Basel am 24. und 25. November 1912. Verlag „Vorwärts“, Berlin, 1912. S. 23-27. Nach Lenin, Sämtliche Werke, Band 18, Wien-Berlin 1929, S. 475-479]

Die Internationale hat auf ihren Kongressen von Stuttgart und Kopenhagen für das Proletariat aller Länder als leitende Grundsätze für den Kampf gegen den Krieg festgestellt:

Manifest der Internationale zur gegenwärtigen Lage

Droht der Ausbruch eines Krieges, so sind die arbeitenden Klassen und deren parlamentarische Vertretungen in den beteiligten Ländern verpflichtet, unterstützt durch die zusammenfassende Tätigkeit des Internationalen Büros, alles aufzubieten, um durch die Anwendung der ihnen am wirksamsten erscheinenden Mittel den Ausbruch des Krieges zu verhindern, die sich je nach der Verschärfung des Klassenkampfes und der Verschärfung der allgemeinen politischen Situation naturgemäß ändern.

Falls der Krieg dennoch ausbrechen sollte, ist es die Pflicht, für dessen rasche Beendigung einzutreten und mit allen Kräften dahin zu streben, die durch den Krieg herbeigeführte wirtschaftliche und politische Krise zur Aufrüttelung des Volkes auszunutzen und dadurch die Beseitigung der kapitalistischen Klassenherrschaft zu beschleunigen.“

Die Ereignisse der letzten Zeit haben mehr als jemals dem Proletariat die Pflicht auferlegt, seinen planmäßigen und gemeinsamen Aktionen die größte Kraft und Energie zu geben. Auf der einen Seite hat der allgemeine Rüstungswahnsinn die Lebensmittelteuerung verschärft und dadurch die Klassengegensätze zugespitzt und in die Arbeiterklasse eine unbezwingbare Empörung getragen. Die Arbeiter wollen diesem System von Beunruhigung und Verschwendung eine Grenze setzen. Andererseits wirken die unaufhörlich wiederkehrenden Kriegsdrohungen immer aufreizender. Die großen Völker Europas sind beständig auf dem Punkte, gegeneinander getrieben zu werden, ohne dass diese Attentate gegen Menschlichkeit und Vernunft auch nur durch den geringsten Vorwand eines Volksinteresses gerechtfertigt werden könnten.

Die Balkankrise, die bereits bis heute so schreckliche Gräuel herbeigeführt hat, würde, wenn sie weiter greift, die furchtbarste Gefahr für die Zivilisation und das Proletariat sein. Sie wäre zugleich die größte Schandtat der Weltgeschichte durch den schreienden Gegensatz zwischen der Größe der Katastrophe und der Geringfügigkeit der ins Spiel kommenden Interessen.

Darum stellt der Kongress mit Genugtuung fest die vollständige Einmütigkeit der sozialistischen Parteien und der Gewerkschaften aller Länder im Kriege gegen den Krieg.

Indem die Proletarier aller Länder sich gleichzeitig zum Kampfe gegen den Imperialismus erhoben, jede Sektion der Internationale aber der Regierung ihres Landes den Widerstand des Proletariats entgegenstellte und die öffentliche Meinung ihrer Nation gegen alle kriegerischen Gelüste mobilisierte, ergab sich eine grandiose Kooperation der Arbeiter aller Länder, die schon bisher sehr viel dazu beigetragen hat, den bedrohten Weltfrieden zu retten. Die Furcht der herrschenden Klassen vor einer proletarischen Revolution im Gefolge eines Weltkrieges hat sich als eine wesentliche Bürgschaft des Friedens erwiesen.

Der Kongress fordert daher die sozialdemokratischen Parteien auf, ihre Aktion mit allen ihnen zweckmäßig erscheinenden Mitteln fortzusetzen. Er weist in dieser gemeinsamen Aktion jeder sozialistischen Partei ihre besondere Aufgabe zu.

Die sozialdemokratischen Parteien der Balkanhalbinsel haben eine schwierige Aufgabe. Die Großmächte Europas haben durch die systematische Hintertreibung aller Reformen dazu beigetragen, in der Türkei unerträgliche ökonomische, nationale und politische Zustände herbeizuführen, die notwendig zur Empörung und zum Kriege führen mussten. Gegenüber der Ausbeutung dieser Zustände im Interesse der Dynastien und Bourgeoisien haben die sozialdemokratischen Parteien des Balkans mit heroischem Mute die Forderung nach einer demokratischen Föderation erhoben. Der Kongress fordert sie auf, in ihrer bewunderungswürdigen Haltung zu verharren; er erwartet, dass die Sozialdemokratie des Balkans nach dem Kriege alles daransetzen wird, zu verhindern, dass die mit so furchtbaren Opfern erkauften Errungenschaften des Balkankrieges von den Dynastien, vom Militarismus, von der expansionslüsternen Bourgeoisie der Balkanstaaten für ihre Zwecke missbraucht werden. Insbesondere aber fordert der Kongress die Sozialisten am Balkan auf, sich nicht nur der Erneuerung der alten Feindschaften zwischen Serben, Bulgaren, Rumänen und Griechen, sondern auch jeder Vergewaltigung der gegenwärtig im anderen Kriegslager stehenden Balkanvölker, der Türken und der Albaner, zu widersetzen. Die Sozialisten des Balkans haben daher die Pflicht, jede Entrechtung dieser Völker zu bekämpfen und gegen den entfesselten nationalen Chauvinismus die Verbrüderung aller Balkanvölker, einschließlich der Albaner, der Türken und der Rumänen, zu proklamieren.

Die sozialdemokratischen Parteien Österreichs, Ungarns, Kroatiens und Slawoniens, Bosniens und der Herzegowina haben die Pflicht, ihre wirkungsvolle Aktion gegen einen Angriff der Donaumonarchie auf Serbien mit aller Kraft fortzusetzen. Es ist ihre Aufgabe, sich wie bisher auch fürderhin dem Plane zu widersetzen, Serbien mit Waffengewalt der Ergebnisse des Krieges zu berauben, es in eine Kolonie Österreichs zu verwandeln, und um dynastischer Interessen willen die Völker Österreich-Ungarns selbst und mit ihnen alle Nationen Europas in die größten Gefahren zu verstricken. Ebenso werden die sozialdemokratischen Parteien Österreich-Ungarns auch in Zukunft darum kämpfen, dass den vom Hause Habsburg beherrschten Teilen des südslawischen Volkes innerhalb der Grenzen der österreichisch-ungarischen Monarchie selbst das Recht auf demokratische Selbstregierung errungen werde.

Besondere Aufmerksamkeit haben die sozialdemokratischen Parteien Österreich-Ungarns ebenso wie die Sozialisten Italiens der albanischen Frage zuzuwenden. Der Kongress erkennt das Recht des albanischen Volkes auf Autonomie an. Er verwahrt sich aber dagegen, dass unter dem Deckmantel der Autonomie Albanien zum Opfer österreichisch-ungarischer und italienischer Herrschaftsgelüste werde. Darin erblickt der Kongress nicht nur eine Gefahr für Albanien selbst, sondern in nicht ferner Zeit auch eine Bedrohung des Friedens zwischen Österreich-Ungarn und Italien. Nur als autonomes Glied einer demokratischen Balkanföderation kann Albanien ein wirklich selbständiges Leben führen. Der Kongress fordert daher die Sozialdemokraten Österreich-Ungarns und Italiens auf, jeden Versuch ihrer Regierungen, Albanien in ihre Einflusssphäre einzubeziehen, zu bekämpfen und ihre Bemühungen um die Festigung der friedlichen Beziehungen zwischen Österreich-Ungarn und Italien fortzusetzen.

Mit großer Freude begrüßt der Kongress die Proteststreiks der russischen Arbeiter, als eine Bürgschaft dafür, dass das Proletariat Russlands und Polens sich zu erholen beginnt von den Schlägen, die die zarische Konterrevolution ihm versetzt hat. Darin erblickt der Kongress die stärkste Bürgschaft gegen die verbrecherischen Intrigen des Zarismus, der, nachdem er die Völker seines eigenen Landes blutig niedergeworfen, nachdem er die Balkanvölker selbst unzählige Male verraten und ihren Feinden preisgegeben hat, nunmehr schwankt zwischen der Furcht vor den Folgen eines Krieges für ihn selbst und der Furcht vor dem Drängen einer nationalistischen Bewegung, die er selbst geschaffen hat. Wenn sich aber der Zarismus nunmehr wieder anschickt, sich als Befreier der Nationen des Balkans zu gebärden, so geschieht es nur, um unter diesem heuchlerischen Vorwände im blutigen Kriege die Vorherrschaft am Balkan wieder zu erobern. Der Kongress erwartet, dass das erstarkende städtische und ländliche Proletariat Russlands, Finnlands und Polens dieses Lügengewebe zerreißen, sich jedem kriegerischen Abenteuer des Zarismus widersetzen, jeden Anschlag des Zarismus, sei es auf Armenien, sei es auf Konstantinopel, bekämpfen und seine ganze Kraft auf die Erneuerung des revolutionären Befreiungskampfes gegen den Zarismus konzentrieren wird. Ist doch der Zarismus auch die Hoffnung aller reaktionären Mächte Europas, der grimmigste Feind der Demokratie der von ihm beherrschten Völker selbst, dessen Untergang herbeizuführen die gesamte Internationale als eine ihrer vornehmsten Aufgaben ansehen muss.

Die wichtigste Aufgabe innerhalb der Aktion der Internationale fällt aber der Arbeiterklasse Deutschlands, Frankreichs und Englands zu. Im Augenblicke ist es die Aufgabe der Arbeiter dieser Länder, von ihren Regierungen zu verlangen, dass sie sowohl Österreich-Ungarn als auch Russland jede Unterstützung verweigern, sich jeder Einmengung in die Balkanwirren enthalten und unbedingte Neutralität bewahren. Ein Krieg zwischen den drei großen führenden Kulturvölkern wegen des serbisch-österreichischen Hafenstreites wäre verbrecherischer Wahnsinn. Die Arbeiter Deutschlands und Frankreichs können nicht anerkennen, dass irgendeine durch geheime Verträge herbeigeführte Verpflichtung besteht, in den Balkankonflikt einzugreifen.

Sollte aber in weiterer Folge der militärische Zusammenbruch der Türkei zur Erschütterung der osmanischen Herrschaft in Vorderasien führen, dann ist es die Aufgabe der Sozialisten Englands, Frankreichs und Deutschlands, sich mit aller Kraft der Eroberungspolitik in Vorderasien zu widersetzen, die geraden Weges zum Weltkriege führen müsste. Als die größte Gefahr für den Frieden Europas betrachtet der Kongress die künstlich genährte Gegnerschaft zwischen Großbritannien und dem Deutschen Reich. Der Kongress begrüßt daher die Bemühungen der Arbeiterklasse der beiden Länder, diesen Gegensatz zu überbrücken. Er betrachtet als das beste Mittel zu diesem Zwecke die Abschließung eines Übereinkommens zwischen Deutschland und England über die Einstellung der Flottenrüstungen und über die Abschaffung des Seebeuterechtes. Der Kongress fordert die Sozialisten Englands und Deutschlands auf, ihre Agitation für ein solches Übereinkommen fortzusetzen.

Die Überwindung des Gegensatzes zwischen Deutschland auf der einen, Frankreich und England auf der anderen Seite, würde die größte Gefahr für den Weltfrieden beseitigen, die Machtstellung des Zarismus, der diesen Gegensatz ausbeutet, erschüttern, einen Überfall Österreich-Ungarns auf Serbien unmöglich machen und der Welt den Frieden sichern. Auf dieses Ziel vor allem sind daher die Bemühungen der Internationale zu richten.

Der Kongress stellt fest, dass die ganze sozialistische Internationale über diese Grundsätze der auswärtigen Politik einig ist. Er fordert die Arbeiter aller Länder auf, dem kapitalistischen Imperialismus die Kraft der internationalen Solidarität des Proletariats entgegenzustellen. Er warnt die herrschenden Klassen aller Staaten, das Massenelend, das die kapitalistische Produktionsweise herbeiführt, durch kriegerische Aktionen noch zu verschärfen. Er fordert nachdrücklich den Frieden. Die Regierungen mögen nicht vergessen, dass sie bei dem gegenwärtigen Zustand Europas und der Stimmung der Arbeiterklasse nicht ohne Gefahr für sie selbst den Krieg entfesseln können, sie mögen sich daran erinnern, dass der deutsch-französische Krieg den revolutionären Ausbruch der Kommune im Gefolge hatte, dass der russisch-japanische Krieg die revolutionären Kräfte der Völker des russischen Reiches in Bewegung gesetzt hat, dass die militärischen und maritimen Wettrüstungen den Klassenkonflikten in England und auf dem Kontinent eine unerhörte Zuspitzung gegeben und riesige Arbeitseinstellungen entfesselt haben. Es wäre Wahnwitz, wenn die Regierungen nicht begreifen würden, dass schon der bloße Gedanke der Ungeheuerlichkeit eines Weltkrieges die Entrüstung und Empörung der Arbeiterklasse hervorrufen muss. Die Proletarier empfinden es als ein Verbrechen, aufeinander zu schießen, zum Vorteile des Profits der Kapitalisten, des Ehrgeizes der Dynastien oder zu höherer Ehre diplomatischer Geheimverträge.

Wenn die Regierungsgewalten jede Möglichkeit der normalen Fortentwicklung abschneiden und dadurch das Proletariat zu verzweifelten Schritten treiben sollten, würden sie selbst die ganze Verantwortung für die Folgen der durch sie herbeigeführten Krise zu tragen haben.

Die Internationale wird ihre Anstrengungen verdoppeln, um diese Krise zu verhindern, sie wird ihren Protest mit immer stärkerem Nachdruck erheben, ihre Propaganda immer energischer und umfassender gestalten. Der Kongress beauftragt darum das Internationale sozialistische Büro, mit um so größerer Aufmerksamkeit die Ereignisse zu verfolgen und, was immer eintreten möge, die Verbindung zwischen den proletarischen Parteien aufrechtzuerhalten und zu verstärken.

Das Proletariat ist sich bewusst, in diesem Augenblick der Träger der ganzen Zukunft der Menschheit zu sein. Um die Vernichtung der Blüte aller Völker zu verhindern, die von allen Gräueln des Massenmordes, der Hungersnot und Pestilenz bedroht ist, wird das Proletariat all seine Energie aufwenden.

So wendet sich der Kongress an euch, Proletarier und Sozialisten aller Länder, dass ihr in dieser entscheidenden Stunde eure Stimme vernehmen lasset! Verkündet euren Willen in allen Formen und in allen Orten, erhebt euren Protest mit voller Wucht in den Parlamenten, vereinigt euch in Massen zu großen Kundgebungen, nützt alle Mittel aus, die euch die Organisation und die Stärke des Proletariats in die Hand geben! Sorgt dafür, dass die Regierungen beständig den wachsamen und leidenschaftlichen Friedenswillen des Proletariats vor Augen haben! Stellt so der kapitalistischen Welt der Ausbeutung und des Massenmordes die proletarische Welt des Friedens und der Verbrüderung der Völker entgegen!“

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