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Wladimir I. Lenin 19180604 Bericht über den Kampf gegen die Hungersnot

Wladimir I. Lenin: Bericht über den Kampf gegen die Hungersnot

Gemeinsame Sitzung des Allrussischen Zentralexekutivkomitees, des Moskauer Sowjets der Arbeiter-, Bauern- und Rotarmistendeputierten und der Gewerkschaften. 4. Juni 1918

[Veröffentlicht 1918 in dem Buch: „Protokolle der Sitzungen des Allrussischen Zentralexekutivkomitees, IV. Session. Stenographischer Bericht". Staatsverlag. Nach Sämtliche Werke, Band 23, Moskau 1940, S. 58-79]

Genossen, das Thema, worüber ich heute zu sprechen habe, ist die gewaltige Krise, die gegenwärtig über alle Länder hereingebrochen ist und die im Augenblick wohl am schwersten auf Russland lastet, jedenfalls aber sich in Russland unermesslich stärker fühlbar macht als in anderen Ländern. Und über diese Krise, über die Hungersnot, die uns heimgesucht hat, möchte ich gemäß der vor uns stehenden Aufgabe in Verbindung mit der allgemeinen Lage sprechen. Wo aber von der allgemeinen Lage die Rede ist, kann man sich natürlich nicht auf Russland allein beschränken, um so mehr, als gegenwärtig alle Länder der modernen kapitalistischen Zivilisation drückender denn je, qualvoller denn je untereinander verbunden sind.

Überall, sowohl in den kriegführenden als auch in den neutralen Ländern, brachte der Krieg, der imperialistische Krieg zweier Gruppen riesiger Räuber eine völlige Erschöpfung der Produktivkräfte mit sich. Der Ruin und die Verelendung gingen so weit, dass in den fortgeschrittensten, zivilisiertesten, kulturell höchststehenden Ländern, die schon seit Jahrzehnten, ja seit Jahrhunderten nicht mehr wussten, was Hunger ist, der Krieg zum Hunger im wahrsten, im buchstäblichen Sinne des Wortes geführt hat. Gewiss, in den fortgeschrittensten Ländern, besonders in denjenigen, wo der entwickeltste Großkapitalismus die Bevölkerung schon längst an die unter ihm höchstmögliche Art wirtschaftlicher Organisation gewöhnt hatte, in diesen fortgeschrittenen Ländern hat man es zwar verstanden, den Hunger richtig zu verteilen, ihn länger hinauszuzögern, ihn minder akut zu machen, doch leiden z. B. Deutschland und Österreich schon seit langem Hunger, allerrichtigsten Hunger, von den niedergeworfenen und versklavten Ländern schon gar nicht zu reden. Wir können jetzt kaum auch nur eine einzige Zeitung aufschlagen, ohne auf eine ganze Reihe von Nachrichten zu stoßen, aus den verschiedensten fortgeschrittenen, kulturell hochstehenden, nicht nur kriegführenden, sondern auch neutralen Ländern, wie aus der Schweiz, aus manchen skandinavischen Ländern, auf Meldungen über den Hunger, über das entsetzliche Elend, das im Zusammenhang mit dem Krieg über die Menschheit hereingebrochen ist.

Genossen, für jene, die die Entwicklung der europäischen Gesellschaft beobachteten, war es schon längst außer allem Zweifel, dass der Kapitalismus nicht friedlich enden kann, dass er entweder unmittelbar zum Aufstand der breiten Massen gegen das Joch des Kapitals führen wird, oder dass er auf dem viel schwereren, qualvolleren und blutigeren Wege des Krieges das gleiche Ergebnis zeitigen wird.

Schon viele Jahre vor dem Krieg haben die Sozialisten aller Länder darauf hingewiesen und feierlich auf ihren Kongressen erklärt, dass ein Krieg zwischen den fortgeschrittenen Ländern nicht nur das größte Verbrechen sein wird, dass dieser Krieg um die Aufteilung der Kolonien, um die Teilung der Beute der Kapitalisten nicht nur den völligen Bruch mit den Errungenschaften der modernen Zivilisation und Kultur bedeuten wird, sondern dass er zur Zerstörung der Existenzbedingungen der menschlichen Gesellschaft selbst führen kann und unausbleiblich führen wird. Denn zum ersten Mal in der Geschichte werden die gewaltigsten technischen Errungenschaften in so großen Ausmaßen, so zerstörend und mit solcher Energie zur Massenvernichtung von Millionen Menschenleben verwendet. Wir sehen, dass nun, wo alle Produktionsmittel in den Dienst des Krieges gestellt werden, die bittersten Prophezeiungen in Erfüllung gehen, dass Verwilderung, Hunger und vollständiger Niedergang aller Produktivkräfte immer mehr Länder erfassen.

Ich erinnere mich deshalb daran, wie recht einer der großen Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus, Engels, hatte, als er 1887 schrieb, der europäische Krieg werde nicht nur dazu führen, dass die Kronen, wie er sich ausdrückte, zu Dutzenden von den gekrönten Häuptern rollen werden und niemand sich finden wird, der sie aufhebt, sondern dass dieser Krieg auch unerhörte Vertierung, Verwilderung und Rückständigkeit ganz Europas nach sich ziehen wird, zugleich aber entweder die Herrschaft der Arbeiterklasse mit sich bringen oder die Bedingungen schaffen werde, die diese Herrschaft zur Notwendigkeit machen. Der Begründer des Marxismus drückte sich hier doppelt vorsichtig aus, denn er sah klar, dass es zum Zusammenbruch des Kapitalismus, zur Ausbreitung des Sozialismus führen wird, wenn die Geschichte diesen Weg einschlägt, dass man sich jedoch einen qualvolleren, schwereren Übergang, eine schlimmere Not, eine härtere, alle Produktivkräfte zerstörende Krise überhaupt nicht vorstellen kann.

Und nun sehen wir anschaulich, was die Folgen des sich nunmehr das vierte Jahr hinziehenden imperialistischen Völkergemetzels bedeuten, wenn man in allen, selbst den fortgeschrittenen Ländern fühlt, dass der Krieg in eine Sackgasse geraten ist, dass es auf dem Boden des Kapitalismus keinen Ausweg aus ihm gibt, dass er zum qualvollen Ruin führen wird. Und wenn wir, Genossen, wenn die russische Revolution – die gar nicht durch ein besonderes Verdienst des russischen Proletariats, sondern durch den allgemeinen Gang der geschichtlichen Ereignisse hervorgerufen worden ist, durch die dieses Proletariat entsprechend dem Willen der Geschichte einstweilen auf den ersten Platz gerückt und zeitweise zur Vorhut der Weltrevolution wurde –, wenn wir die Qualen des Hungers, der immer schwerer und schwerer auf uns lastet, besonders schwer, besonders akut zu durchleben haben, so müssen wir uns fest einprägen, dass diese Nöte vor allem und in erster Linie ein Erbe dieses verfluchten imperialistischen Gemetzels sind, das in allen Ländern zu unerhörtem Elend geführt hat, einem Elend, das vor den Massen und vor der übergroßen Mehrheit der Völker nur einstweilen noch geheimgehalten wird.

Solange noch der Druck des Krieges, solange noch der Krieg fortdauert, solange mit dem Krieg einerseits noch Hoffnungen auf den Sieg und auf die Möglichkeit, diese Krise durch den Sieg einer der imperialistischen Gruppierungen zu überwinden, verbunden sind, solange der Krieg anderseits durch das Wüten der Militärzensur und durch die infolge des Kriegstaumels hervorgerufene Berauschung des ganzen Volkes charakterisiert ist, wird eben nur dadurch vor den Bevölkerungsmassen der meisten Länder verdeckt, in welchen Abgrund sie hinab sinken, in welchen Abgrund sie schon zur Hälfte hinab gesunken sind. Wir bekommen das heute besonders scharf zu fühlen, denn nirgends gibt es so wie in Russland solch schreiende Widersprüche in der Fülle der Aufgaben, die sich das aufständische Proletariat gestellt hat, das begriffen hat, dass man den Krieg, den Weltkrieg der mächtigsten imperialistischen Weltriesen nicht ohne die gewaltigste, ebenfalls die ganze Welt erfassende proletarische Revolution besiegen kann.

Und da wir durch den Gang der Ereignisse eine der hervorragendsten Stellungen in dieser Revolution einzunehmen hatten und für lange Zeit, mindestens seit Oktober 1917, eine abgeschnittene Abteilung bleiben mussten, der die genügend schnelle Hilfe der anderen Abteilungen des internationalen Sozialismus durch die Ereignisse versagt bleibt, müssen wir heute eine zehnmal schwerere Lage durchleben. Obgleich wir alles getan haben, was in den Kräften des sich unmittelbar erhebenden Proletariats und der es unterstützenden armen Bauernschaft lag, um ihren Hauptgegner zu stürzen, um die Wacht der sozialistischen Revolution zu übernehmen, sehen wir zur gleichen Zeit, wie mit jedem Schritt der Druck der Russland umringenden imperialistischen Raubmächte und der Hinterlassenschaft des Krieges immer schwerer und schwerer auf uns lastet. Diese Kriegsfolgen haben sich noch nicht in vollem Umfange ausgewirkt. Jetzt, im Sommer 1918, stehen wir vielleicht vor einem der schwersten, der schlimmsten, der kritischsten Übergänge unserer Revolution – dem schwersten nicht nur auf internationalem Gebiet, wo wir unvermeidlich zur Rückzugspolitik verurteilt sind, solange unser treuer und einziger Bundesgenosse, das internationale Proletariat, erst zum Aufstand rüstet, erst reif für ihn wird, aber noch nicht imstande ist, offen und geschlossen aufzutreten, obwohl alle Ereignisse in Westeuropa, die ganze maßlose Erbitterung der jüngsten Schlachten an der Westfront, die ganze in den kriegführenden Ländern zunehmende Krise zeigen, dass es bis zum Aufstand der europäischen Arbeiter nicht mehr weit ist, dass er trotz aller Verzögerung unausbleiblich kommen wird.

Gerade in dieser Situation müssen wir im Innern des Landes die größten Schwierigkeiten durchmachen, in deren Folge eine Reihe von Schwankungen hervorgerufen wird vor allem durch die qualvolle Ernährungskrise, durch den quälenden Hunger, der uns heimgesucht hat, der uns vor eine Aufgabe stellt, die von uns ein Maximum an Kraftanspannung, die größte Organisiertheit verlangt, und der zugleich uns nicht erlaubt, an die Lösung dieser Aufgabe mit alten Methoden heranzugehen. Wir werden an die Lösung dieser Aufgabe zusammen mit jener Klasse herangehen, mit der wir gegen den imperialistischen Krieg auftraten, mit der wir sowohl die imperialistische Monarchie als auch die imperialistische republikanische russische Bourgeoisie gestürzt haben, mit jener Klasse, die im Verlauf wachsender Schwierigkeiten, wachsender Aufgaben, bei zunehmendem Schwung der Revolution ihre Waffen schmieden, ihre Kräfte entwickeln, ihre Organisation schaffen muss.

Heute steht vor uns die elementarste Aufgabe aller menschlichen Gemeinschaft – den Hunger zu besiegen, unverzüglich zumindest den direkten, quälenden Hunger zu mildern, der die beiden Hauptstädte und Dutzende von Kreisen des ackerbauenden Russland ergriffen hat. Diese Aufgabe haben wir unter den Verhältnissen des Bürgerkrieges, des erbittertsten, verzweifeltsten Widerstandes der Ausbeuter aller Grade, aller Schattierungen, aller Färbungen und Orientierungen zu lösen. Angesichts einer solchen Lage befinden sich diese Elemente der politischen Parteien, die mit dem Alten nicht zu brechen, an das Neue nicht zu glauben vermögen, unzweifelhaft im Zustand des Krieges, der für ein einziges Ziel: für die Wiederherstellung der Macht der Ausbeuter, ausgenutzt wird.

Auf diese Frage, auf diesen Zusammenhang der Hungersnot mit dem Kampf gegen die Ausbeuter und gegen die ihr Haupt erhebende Konterrevolution verweist uns jede Nachricht aus jedem beliebigen Winkel Russlands. Wir stehen vor der Aufgabe, vor der Notwendigkeit, den Hunger zu bezwingen oder ihn wenigstens bis zur neuen Ernte zu mildern, das Getreidemonopol zu behaupten, das Recht des Sowjetstaates, das Recht des proletarischen Staates zu behaupten. Alle Getreideüberschüsse müssen wir sammeln und müssen durchsetzen, dass alle Vorräte dorthin gebracht werden, wo man Not leidet, und dass sie richtig verteilt werden. Das ist die Hauptaufgabe – die Erhaltung der menschlichen Gesellschaft, und das ist zugleich eine unglaubliche Mühe, die nur auf einem Weg bewältigt werden kann: durch gemeinsame, verstärkte Steigerung der Arbeitsleistung.

In jenen Ländern, wo man diese Aufgabe auf dem Wege des Krieges zu lösen versucht, geschieht dies auf dem Wege der militärischen Sklaverei, durch die militärische Versklavung der Arbeiter und der Bauern, auf dem Wege der Gewährung neuer, erhöhter Vorteile an die Ausbeuter. In Deutschland z. B., wo die Öffentlichkeit unterdrückt ist, wo jeder Versuch, gegen den Krieg zu protestieren, im Keim erstickt wird, wo aber die sozialistische Feindschaft gegen den Krieg dennoch fortbesteht, werdet ihr keine gebräuchlichere Methode zur Rettung der Lage finden, als das rasche Emporkommenlassen neuer Millionäre, die sich am Kriege bereichert haben. Diese neuen Millionäre haben sich unerhört und rasend bereichert.

Der Hunger der Massen bildet heute in allen imperialistischen Ländern den günstigsten Boden für die Entfaltung der tollsten Spekulation, für eine unerhörte Bereicherung an Not und Hunger.

Die imperialistischen Länder begünstigen das, so z. B. Deutschland, wo der Hunger am besten organisiert ist. Nicht umsonst wird gesagt, dort sei das Zentrum des organisierten Hungers, dort seien Rationen und Brotrinden am besten unter der Bevölkerung verteilt. Wir sehen, dass dort die Neureichen zu einer alltäglichen Erscheinung des imperialistischen Staates werden; anders kann man dort den Hunger nicht bekämpfen. Man gibt doppelten, dreifachen, vierfachen Gewinn demjenigen, der viel Getreide hat, der zu spekulieren versteht, der es versteht, Organisation, Rationierung, Regelung, Verteilung in Spekulation zu verwandeln. Diesen Weg wünschen wir nicht zu gehen, wer immer uns auch bewusst oder unbewusst dazu drängen sollte. Wir sagen: Wir standen und wir werden stehen Schulter an Schulter mit der Klasse, mit der wir uns gegen den Krieg erhoben, mit der gemeinsam wir die Bourgeoisie gestürzt haben, und mit der gemeinsam wir alle Lasten der gegenwärtigen Krise tragen. Wir müssen für das Getreidemonopol bis zum Letzten einstehen, aber nicht in der Weise, dass wir kapitalistische Spekulation großen oder kleinen Maßstabes legalisieren, sondern im Sinne der Bekämpfung der bewussten Ausplünderung.

Und hier sehen wir große Schwierigkeiten, sehen schwerere Kampfgefahren, als zu jener Zeit, da der gegen das Volk bis an die Zähne bewaffnete Zarismus oder die bis an die Zähne bewaffnete russische Bourgeoisie uns gegenüberstand, die es nicht als Verbrechen ansah, bei der Junioffensive des vorigen Jahres das Blut von Tausenden und aber Tausenden russischer Arbeiter und Bauern zu vergießen, und die dabei ihre Geheimverträge, die ihr einen Anteil an der Beute sicherten, in der Tasche hatte, die aber den Krieg der Werktätigen gegen ihre Unterdrücker für ein Verbrechen hält, jenen einzig gerechten, heiligen Krieg, von dem wir schon bei Beginn des imperialistischen Kriegsgemetzels sprachen, und den jetzt alle Ereignisse auf Schritt und Tritt unvermeidlich mit dem Hunger verknüpfen.

Wir wissen, wie die zaristische Selbstherrschaft gleich am Anfang feste Getreidepreise einführte und sie dann erhöhte. Kein Wunder! Sie blieb ihren Bundesgenossen treu: den Getreidehändlern, den Spekulanten, den Bankmagnaten, die dabei Millionen verdienten.

Wir wissen, wie die Kompromissler aus der Kadettenpartei gemeinsam mit den Sozialrevolutionären und den Menschewiki, sowie Kerenski das Getreidemonopol einführten, weil ganz Europa erklärte, ohne Monopolisierung könne man sich nicht länger halten, und wie derselbe Kerenski im August 1917 das damalige demokratische Gesetz umging. Demokratische Gesetze und schlau ausgelegte Verordnungen sind ja dazu da, umgangen zu werden, und wir wissen, wie derselbe Kerenski im August diese Preise verdoppelte und wie damals die Sozialisten aller Richtungen gegen diese Maßnahme protestierten und über sie empört waren. Damals gab es kein einziges Presseorgan, das sich über dieses Verhalten Kerenskis nicht entrüstet und das nicht enthüllt hätte, dass hier unter der Deckung der republikanischen Minister, des menschewistischen und sozialrevolutionären Kabinetts, die Spekulanten Schiebungen machten, dass man ihnen durch die Verdoppelung der Getreidepreise ein Zugeständnis machte, dass es sich hier um nichts anderes als um Zugeständnisse an die Spekulanten handelte. Wir kennen diese Geschichte.

Die Art, wie die Sache mit dem Getreidemonopol und der Bekämpfung des Hungers in den kapitalistischen Ländern Europas verlief, vergleichen wir jetzt mit ihrem Verlauf bei uns. Wir sehen, wie jetzt die Konterrevolutionäre das ausschlachten. Aus dieser Lehre müssen wir feste und unerschütterliche Schlüsse ziehen. Ja, der Gang der Ereignisse hat es dahin gebracht, dass die zum quälenden Hunger gediehene Krise nur zu einer noch größeren Verschärfung des Bürgerkrieges geführt hat, nur zur Entlarvung solcher Parteien geführt hat, wie die der rechten Sozialrevolutionäre und der Menschewiki, die sich von der unverhohlen kapitalistischen Partei der Kadetten dadurch unterscheiden, dass diese eine Partei der offenen Schwarzhunderter ist. Die Kadetten haben dem Volk nichts zu sagen, sie brauchen sich nicht an das Volk zu wenden, sie brauchen ihre Ziele nicht zu verschleiern, aber diese Parteien, die mit Kerenski paktierten, die mit ihm die Macht und die Geheimverträge teilten, sie müssen sich an das Volk wenden. Und darum müssen sie sich von Zeit zu Zeit, entgegen ihren Wünschen und ihren Plänen, selbst entlarven.

Wenn wir sehen, wie auf dem Boden des Hungers einerseits Aufstände und Revolten der vom Hunger geplagten Menschen ausbrechen und anderseits sich von einem Ende Russlands zum anderen konterrevolutionäre Aufstände wie ein Lauffeuer ausbreiten, die anerkanntermaßen sowohl durch die klingende Münze der englischen und französischen Imperialisten genährt, als auch durch die Anstrengungen der rechten Sozialrevolutionäre und der Menschewiki geschürt werden, dann sagen wir uns: das Bild ist klar, wer Lust hat, mag fortfahren, von irgendwelchen Einheitsfronten zu schwärmen.

Wir sehen jetzt besonders anschaulich, dass selbst nach der Niederlage der russischen Bourgeoisie im offenen militärischen Kampf, nachdem alle offenen Zusammenstöße zwischen den revolutionären und den konterrevolutionären Kräften von Oktober 1917 bis Februar-März 1918 den Konterrevolutionären, ja sogar den Anführern der Donkosaken, auf welche man am meisten rechnete, gezeigt hatten, dass ihre Sache verloren ist, weil die Mehrheit des Volkes überall gegen sie ist, auch jeder neue Versuch der Konterrevolutionäre, selbst in den patriarchalischsten Gegenden, in Gegenden mit den wohlhabendsten und am meisten ständisch abgeschlossenen Landwirten, wie es die Kosaken sind, überall ohne Ausnahme nur dazu geführt hat, dass neue Schichten der unterdrückten Werktätigen sich nicht mit Worten, sondern in der Tat gegen sie gewandt haben.

Die Lehren des Bürgerkrieges von Oktober bis März haben gezeigt, dass die werktätigen Massen der Arbeiterklasse Russlands und die von ihrer Hände Arbeit lebenden, keine fremde Arbeit ausbeutenden Bauern überall, in ganz Russland, in ihrer erdrückenden Mehrheit wie ein Mann für die Sowjetmacht einstehen. Wer da aber glaubte, dass wir den Weg einer organischeren Entwicklung beschritten hätten, der musste sich von seinem Irrtum überzeugen.

Die Bourgeoisie sah sich besiegt. Es gebricht ihr an Kraft, sie ist nicht genügend im Leben verankert, und andere Kräfte werden ihr nicht helfen. Hier beginnt nun die Spaltung des russischen Kleinbürgertums: die einen neigen zu den Deutschen, die anderen zur englisch-französischen Orientierung, und beide Richtungen stimmen darin überein, dass die Orientierung auf den Hunger sie vereinigt.

Um euch anschaulich zu zeigen, Genossen, wie nicht unsere Partei, sondern ihre Feinde und die Feinde der Sowjetmacht die zwischen der deutschen und der englisch-französischen Orientierung Streitenden auf ein Programm einigen: Sturz der Sowjetmacht mit Hilfe des Hungers -– um euch zu zeigen, wie das vor sich geht, erlaube ich mir, den Bericht über die jüngste Beratung der Menschewiki kurz zu zitieren. Dieser Bericht wurde in der Zeitung „Schisn" veröffentlicht.,

Aus diesem in Nr. 26 der „Schisn" veröffentlichten Bericht erfahren wir, wie Tscherewanin, der Berichterstatter über die Wirtschaftspolitik, an der Politik der Sowjetmacht Kritik übte und eine Kompromisslösung der Frage vorschlug, nämlich als praktische Mitarbeiter Vertreter des Handelskapitals auf Grund für sie besonders vorteilhafter Kommissionsbedingungen heranzuziehen. Aus dem gleichen Bericht erfahren wir, wie der in der Sitzung anwesende Vorsitzende des Ernährungsausschusses für Nordrussland, Groman, gestützt, wie es dort heißt, auf reiche persönliche Beobachtungen und auf die Lehren aller möglichen Beobachtungen – nur in bürgerlichen Kreisen, füge ich von mir aus hinzu – folgende Schlüsse zog: „Es müssen", meinte er, „zwei Mittel angewandt werden: erstens müssen die gegenwärtigen Preise erhöht werden, zweitens muss eine besondere Prämie für schnelle Getreidelieferung ausgesetzt werden'' usw. (Zwischenruf: „Warum ist das denn schlimm?") Ja, man wird noch zu hören bekommen, wie schlimm das ist, obwohl der Redner, der zwar nicht das Wort erhalten hat, es aber von jener Ecke aus ergreift, euch zu überzeugen glaubt, dass daran nichts Schlimmes sei; er hat aber wahrscheinlich den Verlauf der menschewistischen Konferenz vergessen. In der gleichen Zeitung „Shisn" heißt es, dass nach Groman der Delegierte Kolokolnikow einen solchen Standpunkt vertrat: „Man schlägt uns vor, uns an den bolschewistischen Ernährungsorganisationen zu beteiligen." Nicht wahr, das ist schlimm, muss man da wohl sagen in Erinnerung an die Worte des Zwischenrufers. Und wenn dieser Redner, der sich nicht beruhigen will, und der, obwohl er das Wort nicht hat, es sich trotzdem nimmt, wenn dieser Redner ruft, das sei Lüge, denn Kolokolnikow habe das niemals gesagt, so nehme ich dies zur Kenntnis und fordere Sie auf, in artikulierter Rede diese Widerlegung so zu wiederholen, dass alle sie hören. Ich erlaube mir, Sie an jene Resolution der Konferenz zu erinnern, die dort der nicht unbekannte Martow einbrachte und die zur Frage der Sowjetmacht mit anderen Worten und in anderen Redewendungen genau das gleiche sagt. Ja, wie sehr Sie auch darüber lachen mögen, es bleibt doch Tatsache – die Vertreter der Menschewiki bezeichnen im Zusammenhang mit dem Bericht über die Ernährungslage die Sowjetmacht nicht als proletarische, sondern als untaugliche Organisation.

In einem Augenblick, wo der Aufstand der Konterrevolutionäre in Verbindung mit dem Hunger und unter Ausnutzung des Hungers auf die Tagesordnung gesetzt wurde, werden keine Dementis und keine Finten helfen – die Tatsache liegt auf der Hand. In dieser Frage haben wir eine Politik vor uns, die sowohl Tscherewanin als auch Groman und Kolokolnikow ausgezeichnet entwickelt haben. Wir sehen uns einer Belebung des Bürgerkrieges gegenüber, wir sehen, wie die Konterrevolution ihr Haupt erhebt, und ich bin überzeugt, dass neunundneunzig von hundert der russischen Arbeiter und Bauern aus diesen Ereignissen ihren Schluss gezogen haben – nicht allen ist das schon bekannt –, ziehen und noch ziehen werden, und dieser Schluss wird eben dieser sein: nur wenn wir die Konterrevolution aufs Haupt schlagen, nur wenn wir in der Frage des Hungers die sozialistische Politik fortführen, werden wir in dem Kampf gegen den Hunger sowohl den Hunger als auch die Konterrevolutionäre besiegen, die sich diesen Hunger zunutze machen.

Genossen, wir kommen jetzt gerade in eine Zeit, wo die Sowjetmacht nach langem und schwerem Kampf gegen gewichtige und bedeutende konterrevolutionäre Gegner diese in offenen Zusammenstößen besiegt hat, und nachdem sie sowohl den militärischen Widerstand der Ausbeuter als auch die Sabotage aller überwunden, die organisatorische Arbeit energisch in Angriff genommen hat. Der ganze schwere Kampf gegen den Hunger, diese ganze gewaltige Aufgabe erklärt sich eben daraus, dass wir hier unmittelbar an eine organisatorische Aufgabe herangetreten sind.

Im Aufstand zu siegen, ist unermesslich leichter. Der Sieg über den Widerstand der Konterrevolution ist Millionen mal leichter als die Bewältigung des organisatorischen Problems, besonders dort, wo wir eine Aufgabe lösten, bei der sowohl der aufständische Prolelarier als auch der Kleinbesitzer, die breiten Schichten des Kleinbürgertums in beträchtlichem Maße zusammengehen konnten, eine Aufgabe, die noch zahlreiche allgemein-demokratische und allen Werktätigen gemeinsame Elemente enthielt. Nunmehr sind wir von dieser Aufgabe zu einer anderen übergegangen. Der qualvolle Hunger hat uns mit Gewalt vor eine rein kommunistische Aufgabe gestellt. Hier sind wir der Realisierung einer revolutionär-sozialistischen Aufgabe von Angesicht zu Angesicht gegenübergestellt worden, hier haben sich vor uns außergewöhnliche Schwierigkeiten erhoben.

Wir fürchten diese Schwierigkeiten nicht, wir kannten sie, wir haben niemals erklärt, dass es leicht sei, vom Kapitalismus zum Sozialismus überzugehen. Das ist eine ganze Epoche eines höchst erbitterten Bürgerkrieges, es sind qualvolle Schritte, da zu der einen Abteilung des aufständischen Proletariats eines Landes das Proletariat eines anderen Landes stoßen wird, um in gemeinsamen Anstrengungen die Fehler zu korrigieren. Hier haben wir es mit organisatorischen Aufgaben zu tun, die die Produkte des allgemeinen Bedarfs betreffen, die an die tiefsten Wurzeln der Spekulation rühren, die nach den Spitzen der bürgerlichen Welt und der kapitalistischen Ausbeutung greifen, die Spitzen, die durch den Massensturm allein nicht so leicht zu beseitigen sind. Wir haben es hier zu tun mit den kleinen und in allen Ländern tief verschlungenen Wurzeln und Wurzelfasern der bürgerlichen Ausbeutung in Gestalt der Kleineigentümer, in Gestalt dieser ganzen Lebensordnung, all der Gewohnheiten und Stimmungen der Kleinbesitzer und der Kleinunternehmer, da sich vor uns der kleine Spekulant erhebt, da man an die neue Lebensordnung nicht gewöhnt ist, an sie nicht glaubt und verzweifelt.

Denn es ist Tatsache, dass sehr viele Vertreter der werktätigen Massen angesichts der außerordentlichen Schwierigkeiten, vor die uns die Revolution gestellt hat, sich der Verzweiflung hingegeben haben. Wir fürchten das nicht. Es hat noch niemals irgendwo eine Revolution gegeben, in der nicht bestimmte Schichten von Verzweiflung erfasst worden wären.

Wenn die Masse eine bestimmte disziplinierte Avantgarde hervorbringt, wenn die Avantgarde weiß, dass die Diktatur, diese feste Macht, helfen wird, die ganze arme Bevölkerung heranzuziehen – das ist ein langwieriger Prozess, ein schwieriger Kampf –, so ist das der Beginn der sozialistischen Revolution im wahrsten Sinne des Wortes. Wenn jetzt, da wir sehen, dass die vereinigten Arbeiter, die Masse der Armen sich gegen die Reichen wenden, gegen die Spekulanten, gegen die Unzahl der Leute, denen die Menge der Intellektuellen bewusst oder unbewusst Spekulantenlosungen vorplappert, wie das die Tscherewanin und Groman tun, wenn jetzt irregeführte Arbeiter von freiem Getreideverkauf, von der Einfuhr von Transportmitteln reden, so antworten wir: das bedeutet, den Kulaken zu Hilfe zu kommen! Diesen Weg werden wir nicht gehen. Wir sagen: wir werden uns auf die Werktätigen stützen, mit denen wir den Oktobersieg errungen haben, und nur mit unserer Klasse, nur durch Einführung proletarischer Disziplin in allen Schichten des werktätigen Volkes werden Wir die vor uns stehende geschichtliche Aufgabe lösen.

:Wir haben gewaltige Schwierigkeiten durchzumachen, wir müssen alle Überschüsse und Vorräte sammeln, sie richtig verteilen und die Zufuhr von Lebensmitteln für Dutzende Millionen Menschen richtig organisieren, wir müssen eine absolut regelmäßige Arbeit durchsetzen, damit die Arbeit wie ein Uhrwerk funktioniert, wir müssen die Zerrüttung besiegen, die von den Spekulanten und den Kleinmütigen, den Panikmachern gefördert wird. Nur klassenbewusste Arbeiter, die den praktischen Schwierigkeiten von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen, sind fähig, diese organisatorische Aufgabe durchzuführen. Es lohnt sich, dieser Aufgabe alle Kräfte hinzugeben und den letzten, den Entscheidungskampf aufzunehmen. Und in diesem Kampf werden wir siegen.

Genossen, die letzten Dekrete über die Maßnahmen der Sowjetmacht zeigen uns, dass der Weg der proletarischen Diktatur für jeden Sozialisten, der sich nicht zum Spott als Sozialist bezeichnet, zweifellos und unbestreitbar ein Weg schwerer Prüfungen ist.

Die letzten Dekrete haben die Grundfrage des Lebens, die Brotfrage, aufgeworfen. Sie alle weisen drei leitende Ideen auf: die Idee der Zentralisation oder des Zusammenschlusses aller zu gemeinsamer Arbeit unter Leitung des Zentrums, man erweise sich als ernst und überwinde jede Mutlosigkeit, man lehne die Einzeldienste jeglicher Schleichhändler ab; man fasse alle proletarischen Kräfte zusammen, denn in der Frage des Kampfes gegen den Hunger stützen wir uns auf eben diese unterdrückten Klassen und sehen den Ausweg nur in ihrem energischen Kampf gegen die Ausbeuter, in der Zusammenfassung ihrer ganzen Tätigkeit.

Ja, man verweist uns darauf, wie das Getreidemonopol auf Schritt und Tritt durch Schleichhandel und Spekulation durchbrochen wird. Immer häufiger müssen wir von der Intelligenz hören: die Schleichhändler erweisen ihnen ja Dienste, und sie alle werden mit ihrer Hilfe ernährt. Ja, aber die Schleichhändler ernähren einen auf Kulakenart, sie handeln gerade so, wie man handeln muss, um die Macht des Kulaken zu festigen, wiederaufzurichten und zu verewigen, damit derjenige, der die Macht besitzt, sie mit Hilfe seines Profits durch Einzelpersonen auf seine Umgebung ausdehne. Wir aber behaupten, dass der Kampf um vieles leichter wäre, wenn diejenigen, die sich gegenwärtig zumeist nur des Kleinmuts schuldig machen, ihre Kräfte vereinigten. Gäbe es irgendwo einen Revolutionär, der ohne Schwierigkeiten zur sozialistischen Ordnung überzugehen hoffte, so könnten wir sagen, dass solch ein Revolutionär, solch ein Sozialist keinen roten Heller wert ist.

Wir wissen, dass der Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus ein im höchsten Grade schwieriger Kampf ist. Doch wir sind bereit, Tausende von Schwierigkeiten zu ertragen, Tausende Versuche zu unternehmen, und nach tausend Versuchen werden wir zum tausendundersten schreiten. Wir ziehen jetzt alle Sowjetorganisationen zu neuem schöpferischem Leben, zum Aufstieg neuer Kräfte heran. Wir gedenken, die neuen Schwierigkeiten durch Heranziehung neuer Schichten, durch Organisierung der Dorfarmut zu überwinden, und hier komme ich zu der zweiten Hauptaufgabe.

Ich habe gesagt, dass unsere erste Idee die sich durch alle Dekrete hindurchziehende Idee der Zentralisierung ist. Erst wenn wir das ganze Getreide in die gemeinsamen Säcke gefüllt haben, können wir den Hunger besiegen, und auch dann wird das Brot nur knapp reichen. Den früheren Überfluss gibt es in Russland nicht mehr, und es ist notwendig, dass der Kommunismus tief in das Bewusstsein eines jeden eindringe, dass alle jeden Getreideüberschuss als Volksgut betrachten, dass alle vom Bewusstsein der Interessen der Werktätigen durchdrungen werden. Damit das aber erreicht werde, bedarf es lediglich des Mittels, das die Sowjetmacht vorschlägt.

Wenn man uns von anderen Mitteln spricht, dann antworten wir so, wie wir in der Sitzung des Zentralexekutivkomitees geantwortet haben, als man uns von anderen Wegen sprach: Geht zu Skoropadski! Lehrt sie solche Methoden wie Erhöhung der Getreidepreise, Block mit den Kulaken, – dort werdet ihr willige Ohren finden. Die Sowjetmacht aber wird das eine sagen: die Schwierigkeiten sind unermesslich, beantwortet jede Schwierigkeit mit neuer und neuer Verstärkung von Organisation und Disziplin. Derlei Schwierigkeiten werden nicht in einem Monat überwunden. Die Geschichte der Völker kennt Jahrzehnte, die der Überwindung geringerer Schwierigkeiten gewidmet waren, und diese Jahrzehnte sind als die größten und fruchtbarsten Jahrzehnte in die Geschichte eingegangen. Niemals werdet ihr durch die Misserfolge des ersten Halbjahres und des ersten Jahres der großen Revolution Mutlosigkeit in uns säen. Wir werden an unserer alten Losung der Zentralisation, des Zusammenschlusses, der proletarischen Disziplin im gesamtrussischen Maßstab festhalten.

Wenn man uns, wie das Groman in seinem Bericht tut, sagen wird: „Eure Abteilungen, die Getreide beschaffen sollen, ergeben sich dem Trunk und verwandeln sich selber in Schnapsbrenner, in Plünderer", so werden wir antworten: wir wissen ausgezeichnet, wie, oft das vorkommt, in solchen Fällen verheimlichen wir das nicht, beschönigen es nicht, gehen nicht mit angeblich linken Phrasen und Einschätzungen darüber hinweg. Ja, die Arbeiterklasse ist durch keine chinesische Mauer von der alten bürgerlichen Gesellschaft getrennt. Und wenn die Revolution kommt, so geht es nicht so zu wie nach dem Tode eines einzelnen Menschen, wo die Leiche einfach weggeschafft wird. Wenn die alte Gesellschaft zugrunde geht, kann man den Leichnam der bürgerlichen Gesellschaft nicht in einen Sarg legen, den Sarg zunageln und ins Grab senken. Dieser Leichnam geht mitten unter uns in Verwesung über, er verfault und steckt uns selbst an.

Anders ist es noch in keiner großen Revolution auf der Welt zugegangen, und kann es auch nicht zugehen. Eben das, was wir bekämpfen müssen, um die Keime des Neuen in einer von den Miasmen des verwesenden Leichnams verpesteten Atmosphäre zu erhalten und zur Entwicklung zu bringen: jene Verhältnisse in Literatur und Politik, jenes Spiel der politischen Parteien, die – von den Kadetten bis zu den Menschewiki – von diesen Miasmen des verwesenden Leichnams durchsetzt sind, das alles schicken sie sich an, uns als Knüppel zwischen die Beine zu werfen. Anders kann die sozialistische Revolution nie geboren werden, und anders als unter den Verhältnissen des verwesenden Kapitalismus und eines qualvollen Kampfes gegen ihn wird kein Land vom Kapitalismus zum Sozialismus übergehen. Und darum sagen wir: unsere erste Losung ist die Zentralisation, unsere zweite Losung der Zusammenschluss der Arbeiter. Arbeiter, vereinigt euch, und nochmals: vereinigt euch! Das ist alt, es scheint nicht effektvoll, nicht neu, es verspricht keine solche Schwindlererfolge wie die, mit denen euch Leute wie Kerenski locken, der im August 1917 die Preise verdoppelte, so wie sie von den deutschen Bourgeois verdoppelt und verzehnfacht wurden – Leute, die euch sofortige und unmittelbare Erfolge versprechen, wenn ihr nur immer von neuem den Kulaken Nachsicht erweist. Selbstverständlich werden wir diesen Weg nicht einschlagen, sondern wir sagen: unser zweites Mittel, ein altes, aber zugleich ewig wirksames Mittel ist: Vereinigt euch!

Wir sind in einer schwierigen Lage: die Sowjetrepublik macht vielleicht eine ihrer schwersten Zeiten durch. Neue Arbeiterschichten werden uns zu Hilfe kommen. Wir haben keine Polizei, wir werden keine besondere Militärkaste haben, wir haben keinen anderen Apparat als den bewussten Zusammenschluss der Arbeiter. Sie werden Russland aus seiner verzweifelten und ungeheuer schwierigen Lage herausführen. Vereinigung der Arbeiter, Organisierung von Arbeiterabteilungen, Organisierung der Hungernden aus den nichtlandwirtschaftlichen Hungerkreisen – sie rufen wir zu Hilfe, an sie wendet sich unser Ernährungskommissariat, ihnen sagen wir: auf zum Kreuzzug für das Getreide, zum Kreuzzug gegen Spekulanten, gegen die Kulaken, für die Wiederherstellung der Ordnung.

Die Kreuzzüge waren solche Feldzüge, wo zur physischen Kraft der Glaube an Dinge hinzukam, die heilig zu halten die Menschen vor Jahrhunderten durch Folterungen gezwungen wurden. Wir aber wollen und glauben, wir sind überzeugt und wissen, dass die Oktoberrevolution bewirkt hat, dass die fortgeschrittenen Arbeiter und die fortgeschrittenen Bauern aus den Reihen der armen Bauernschaft nunmehr die Aufrechterhaltung ihrer Macht über die Gutsbesitzer und Kapitalisten für etwas Heiliges halten. Sie wissen, dass keine physische Kraft zur Einwirkung auf die Bevölkerungsmassen genügt; wir errichten die Diktatur, wir richten Gewalt gegen die Ausbeuter auf, und jeden, der das nicht begreift, werfen wir voller Verachtung von uns, damit wir nicht Worte vergeuden, um über die Form des Sozialismus zu diskutieren.

Aber wir sagen: wir stehen vor einer neuen geschichtlichen Aufgabe. Wir müssen dieser neuen geschichtlichen Klasse Verständnis dafür geben, dass wir Trupps von Agitatoren aus den Reihen der Arbeiter brauchen. Wir brauchen Arbeiter aus den verschiedenen Kreisen der landwirtschaftlichen Zuschussgebiete. Es ist für uns notwendig, dass sie von dort als bewusste Propagandisten der Sowjetmacht kommen, dass sie unseren Ernährungskrieg, unseren Krieg gegen die Kulaken, unseren Krieg gegen die Missstände heiligsprechen, für rechtmäßig erklären und die Durchführung sozialistischer Propaganda ermöglichen, dass sie jenen Unterschied von Arm und Reich ins Dorf tragen, der jedem Bauer begreiflich und der der tiefste Quell unserer Kraft ist. Es ist nicht leicht, diese Quelle zu erschließen und sprudeln zu lassen, mit voller Kraft strömen zu lassen, denn zahlreich sind bei uns noch die Ausbeuter, und sie unterwerfen sich die Masse mit Hilfe der verschiedensten Methoden, angefangen mit der Bestechung der Armen, dadurch, dass man sie, die Vertreter der Armen, sich am Schnapsbrennen bereichern oder Getreide auf dem Wege der Spekulation verkaufen lässt, wobei sie pro Rubel mehrere Rubel Gewinn herausschlagen. Mit solchen Mitteln wirken Kulaken und Bourgeoisie im Dorfe auf die Massen ein!

Der Dorfarmut können wir daraus keinen Vorwurf machen, denn wir wissen, dass sie Jahrzehnte, Jahrtausende versklavt war, dass sie sowohl die Leibeigenschaft als auch jene Zustände erduldet hat, die Russland nach der Leibeigenschaft bestehen ließ. Wir müssen zur Dorfarmut nicht nur mit den gegen die Kulaken gerichteten Waffen kommen, sondern auch mit der Propaganda klassenbewusster Arbeiter, die ihre Organisationskraft ins Dorf tragen müssen. Vertreter der Dorfarmut vereinigt euch, – das ist unsere dritte Losung. Das ist kein Liebäugeln mit den Kulaken und nicht die unsinnige Maßnahme der Preiserhöhung. Verdoppelten wir die Preise, so würden sie sagen: Man erhöht uns die Preise, sie sind ausgehungert; warten wir ab, man wird sie noch mehr erhöhen.

Der Weg der Gefälligkeiten gegenüber den Kulaken und den Spekulanten – das ist ein ausgetretener Weg; es ist leicht, diesen Weg zu betreten und ein verlockendes Bild zu entwerfen. Intellektuelle, die sich Sozialisten nennen, sind bereit, uns solche Bilder an die Wand zu malen, und solcher Intellektuellen gibt es in Hülle und Fülle. Wir aber sagen euch: wer mit der Sowjetmacht gehen will, wer sie schätzt und sie als Macht der Werktätigen, als Macht der ausgebeuteten Klasse betrachtet, den rufen wir auf, einen anderen Weg einzuschlagen. Diese neue geschichtliche Aufgabe ist eine schwierige Sache. Sie lösen, heißt eine neue Schicht aufrütteln, heißt eine neue Form der Organisation jenen Vertretern der Werktätigen und Ausgebeuteten geben, die in ihrer Mehrheit geduckt, unwissend sowie am allerwenigsten zusammengeschlossen sind und denen der Zusammenschluss erst noch bevorsteht.

Die Vorhuten der städtischen Arbeiter, der Industriearbeiter, haben sich in der ganzen Welt vereinigt, haben sich ausnahmslos vereinigt. Aber noch fast nirgends in der Welt wurden systematiche, selbstlose und opfermutige Versuche gemacht, jene zusammenzuschließen, die in den Dörfern, in der landwirtschaftlichen Kleinproduktion, in entlegenen Winkeln in Unwissenheit leben und du ich ihre ganzen Lebensverhältnisse abgestumpft sind. Hier stellen wir vor einer Aufgabe, die nicht nur den Kampf gegen den Hunger, sondern auch den Kampf für die ganze tiefgreifende und wichtige sozialistische Ordnung in ein einziges Ziel zusammenfasst. Wir haben hier einen solchen Kampf für den Sozialismus vor uns, für den es sich lohnt, alle Kräfte herzugeben und alles aufs Spiel zu setzen, weil das der Kampf für den Sozialismus ist.

Betrachten wir die Werktätigen als unsere Kampfgefährten auf diesem Wege. Auf ihm erwarten uns dauerhafte und nicht nur dauerhafte, sondern auch unveräußerliche Errungenschaften. Das ist unsere dritte bedeutsame Losung!

Das sind also unsere drei Grundlosungen: Zentralisierung des Ernährungswesens, Zusammenschluss des Proletariats, Organisierung der Dorfarmut. Und unser Aufruf, der Aufruf unseres Ernährungskommissariats an jede Gewerkschaft, an jeden Betriebsrat besagt: Ihr habt es schwer, Genossen; so helft uns, vereint eure Anstrengungen mit den unsrigen, verfolgt jede Verletzung der Ordnung, jede Abweichung vom Getreidemonopol. Das ist eine schwierige Aufgabe; aber wendet euch trotzdem immer und immer wieder, zum hundertsten und zum tausendsten Male, gegen Schleichhandel, Spekulation und Kulakentum, und wir werden siegen, weil die Mehrheit der Arbeiter durch den ganzen Verlauf ihres Lebens und durch all die schweren Lehren unserer Misserfolge und Prüfungen im Ernährungswesen auf diesen Weg gewiesen wird. Sie wissen: wenn zu der Zeit, als es in Russland noch keinen absoluten Getreidemangel gab, die Mängel der Ernährungsorganisationen durch isoliertes, individuelles Vorgehen wettgemacht wurden, so wird das weiterhin nicht mehr der Fall sein. Nur gemeinsame Anstrengungen, nur der Zusammenschluss aller derjenigen, die in den hungernden Städten und Gouvernements am schwersten leiden, wird uns helfen. Und das ist der Weg, auf den die Sowjetmacht euch ruft: Zusammenschluss der Arbeiter, ihrer fortgeschrittenen Abteilungen zur Agitation überall im Lande, zum Krieg um das Getreide gegen die Kulaken.

Unweit von Moskau, in den Nachbargouvernements Kursk, Orel und Tambow haben wir nach Berechnungen vorsichtiger Fachleute heute noch an 10 Millionen Pud Getreideüberschüsse. Wir sind bei weitem nicht imstande, diese Überschüsse einzusammeln und als staatlichen Vorrat aufzuspeichern.

Lasst uns dieses Werk aus allen Kräften in Angriff nehmen. In jeden Betrieb, in dem vorübergehend die Verzweiflung Oberhand gewinnt, in dem die Menschen, vom Hunger gepeinigt, nicht mehr aus noch ein wissen und bereit sind, sich auf die Schwindellosungen der Leute zu stürzen, die zu den Methoden von Kerenski, zur Erhöhung der festen Preise zurückkehren wollen – in jeden solchen Betrieb soll der klassenbewusste Arbeiter gehen und sagen: Wir sehen Menschen, die an der Sowjetmacht verzweifeln – tretet ein in unsere Abteilung kämpfender Agitatoren. Lasst euch nicht dadurch beirren, dass es so viele Beispiele gibt, wo diese Abteilungen zerfielen und sich dem Trunk ergaben. An Hand eines jeden solchen Beispiels werden wir beweisen, nicht dass die Arbeiterklasse untauglich ist, sondern dass sie die Mängel der alten, auf Ausplünderung aufgebauten Gesellschaft noch nicht abgestreift hat und nicht mit einem Schlage abstreifen wird. Lasst uns unsere Anstrengungen vereinen, lasst uns Dutzende von Abteilungen schaffen, lasst uns ihre Aktionen zusammenfassen, und wir werden mit diesen Mängeln aufräumen. Genossen, erlaubt mir zum Schluss, euch auf einige Telegramme zu verweisen, wie sie sowohl der Rat der Volkskommissare als auch besonders unser Ernährungskommissariat erhalten.

Genossen, in Verbindung mit der Ernährungskrise, mit der qualvollen Hungersnot, die alle Städte erfasst, haben wir Gelegenheit zu beobachten, wie sich das Sprichwort bewahrheitet: „Ein gutes Wort verborgen ruht, ein schlechtes seine Wirkung tut". Ich will Dokumente bekanntgeben, die den Organen und Institutionen der Sowjetmacht nach dem Erlass des Dekrets vom 13. Mai über die Ernährungsdiktatur zugegangen sind, in dem gesagt wird, dass wir nach wie vor nur auf das Proletariat rechnen. Die Telegramme geben Hinweise darauf, dass man in der Provinz schon jenen Weg des Kreuzzugs gegen das Kulakentum, jenen Weg der Organisierung der Dorfarmut betreten hat, den zu betreten wir aufrufen. Die Telegramme, die wir erhalten haben, sind ein Beweis dafür.

Mag man an allen Straßenecken trompeten, mag man vom Kirchturm der Tscherewanin und Groman Panik verbreiten, mögen von dort Stimmen laut werden, die zur Vernichtung, zum Sturz der Sowjetmacht aufrufen! Wer arbeitet, wird von dieser Panikmacherei am allerwenigsten beunruhigt sein: er wird auf die Tatsachen eingehen, er wird sehen, dass es mit der Arbeit vorwärtsgeht, und dass immer neue Reihen sich zusammenschließen, dass es solche Reihen gibt.

Es bildet sich eine neue Form des Kampfes gegen die Kulaken, die Form des Zusammenschlusses der Dorfarmut, der man helfen, die man vereinigen muss. Wir müssen helfen, wenn man uns Prämien für Getreidezufuhr in Vorschlag bringt. Wir sind bereit, den armen Bauern diese Prämien zu geben, und wir sind schon dazu übergegangen. Gegen die Kulaken aber, gegen die Verbrecher, die das Volk durch Hunger quälen, deretwegen Dutzende von Millionen leiden, gegen sie wenden wir Gewalt an. Der Dorfarmut geben wir alle möglichen Prämien, sie hat ein Recht darauf. Die armen Bauern haben zum ersten Male Zutritt zu den Gütern des Lebens erhalten, und wir sehen, dass ihr Leben kümmerlicher ist als das der Arbeiter. Dieser Dorfarmut werden wir alle möglichen Prämien geben, wir werden ihr helfen, wenn sie uns bei der Organisation der Getreideschüttung helfen wird, wenn sie uns helfen wird, von den Kulaken Getreide zu erhalten. Und damit das in Russland zur Wirklichkeit werde, dürfen wir keinerlei Aufwendungen scheuen.

Diesen Weg haben wir bereits beschritten. Jede Erfahrung der klassenbewussten Arbeiter sowie die neuen Abteilungen werden ihn weiter und weiter bahnen.

Genossen, die Arbeit hat begonnen, und sie geht weiter. Wir erwarten keinen schwindelerregenden Erfolg, aber der Erfolg wird sich einstellen. Wir wissen, dass wir jetzt in eine Periode neuer Verheerungen eintreten, in den Abschnitt der schwersten und schwierigsten Perioden der Revolution. Es wundert uns keineswegs, dass die Konterrevolution ihr Haupt erhebt, dass auf Schritt und Tritt die Zahl der Schwankenden, der Verzweifelnden in unseren Reihen zunimmt. Wir sagen: hört auf zu schwanken, lasst ab von eurer Verzweiflungsstimmung, die die Bourgeoisie ausnutzen will, denn es liegt in ihrem Interesse, Panik hervorzurufen. Geht an die Arbeit. Mit unseren Dekreten über das Ernährungswesen, mit unserem Plan, der sich auf die Dorfarmut stützt, befinden wir uns auf dem einzig richtigen Weg. Angesichts der neuen geschichtlichen Aufgaben rufen wir euch wieder und immer wieder zu neuem Elan auf. Es ist das eine Aufgabe von unermesslicher Schwierigkeit, aber, ich wiederhole es nochmals, es ist auch eine überaus dankbare Aufgabe. Wir kämpfen hier für die Grundlagen der kommunistischen Verteilung, für die wirkliche Schaffung fester Grundpfeiler der kommunistischen Gesellschaft. Auf zu gemeinsamer Arbeit! Wir werden den Hunger besiegen und den Sozialismus erkämpfen.

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