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Wladimir I. Lenin 19181231 Ein kleines Bild zur Klärung großer Fragen

Wladimir I. Lenin: Ein kleines Bild zur Klärung großer Fragen

[Geschrieben Ende 1918 oder Anfang 1919. Zum ersten Mal veröffentlicht am 12. November 1925 in der „Prawda" Nr. 258. Nach Sämtliche Werke, Band 23, Moskau 1940, S. 591-595]

Genosse Sosnowski, ein Redakteur der „Bednota", brachte mir ein bemerkenswertes Buch. Mit diesem Buch muss man so viel Arbeiter und Bauern als möglich bekannt machen. Aus ihm muss man die ernstesten Lehren ziehen in Bezug auf die wichtigsten Fragen des sozialistischen Aufbaus, die an lebendigen Beispielen ausgezeichnet erläutert werden. Es ist das Buch des Genossen Alexander Todorski: „Ein Jahr mit Gewehr und Pflug", das im Städtchen Wessjegonsk vom dortigen Kreisexekutivkomitee anlässlich des Jahrestags der Oktoberrevolution herausgegeben worden ist.

Der Verfasser schildert die Erfahrung, die die Leiter des Aufbaus der Sowjetmacht im Wessjegonsker Kreis bei ihrer Arbeit im Verlauf eines Jahres gesammelt haben; er schildert zuerst den Bürgerkrieg, den Aufstand der örtlichen Kulaken und seine Niederwerfung und dann den „friedlichen Aufbau des Lebens". Die Schilderung des Verlaufs der Revolution in dem abgelegenen Kreis ist dem Verfasser so einfach und gleichzeitig so lebendig gelungen, dass ihre Nacherzählung nur eine Schwächung des Eindrucks bedeuten würde. Dieses Buch muss möglichst weit verbreitet werden und dabei wäre zu wünschen, dass eine möglichst große Zahl von Funktionären, die in der Masse und mit der Masse, im wirklichen Strudel des lebendigen Lebens gewirkt haben, daran gehen möchten, ihre Erfahrungen niederzuschreiben. Die Herausgabe von einigen Hundert oder wenigstens einigen Dutzenden der besten, wirklichkeitstreuesten, schlichtesten, an wertvollem Tatsachenmaterial reichsten unter diesen Schilderungen wäre für die Sache des Sozialismus unendlich nützlicher als viele der in Zeitungen,, Zeitschriften und Büchern veröffentlichten Arbeiten von Berufsschriftstellern, die durchweg vor lauter Papier das Leben nicht sehen.

Ich greife ein einziges kleines Beispiel aus der Erzählung des Genossen A. Todorski heraus. Es handelte sich darum, die „Kaufmannshände" nicht „arbeitslos" zu lassen, sondern sie anzueifern, „sich an die Arbeit zu machen".

„ … Zu diesem Zweck wurden drei junge, energische und besonders tüchtige Industrielle: E. E. Jefremow, A. K. Loginow und N. M. Koslow ins Exekutivkomitee gerufen und unter Androhung der Freiheitsentziehung und Konfiszierung des ganzen Eigentums zur Gründung eines Sägewerks und einer Chromlederfabrik herangezogen, mit deren Einrichtung denn auch sofort begonnen wurde.

Die Sowjetmacht hat sich in der Auswahl der Mitarbeiter nicht geirrt und die Industriellen haben – zu ihrer Ehre sei es gesagt – beinahe als erste begriffen,, dass sie es nicht mit ,zweiwöchentlichen zufälligen Gästen' zu tun haben, sondern mit den wirklichen Herren, welche die Macht fest in ihre Hand genommen haben.

In dieser durchaus richtigen Einsicht haben sie sich energisch an die Ausführung der Anordnungen des Exekutivkomitees gemacht, so dass Wessjegonsk gegenwärtig schon ein in vollem Gang befindliches Sägewerk besitzt, das den ganzen Bedarf der örtlichen Bevölkerung deckt und die Aufträge der im Bau befindlichen neuen Eisenbahn ausführt.

Was die Fabrik zur Herstellung von Chromleder betrifft, so ist das Gebäude jetzt schon eingerichtet worden, während der Motor, die Trommeln und sonstigen Maschinen, welche aus Moskau herangeschafft wurden, eben montiert werden, so dass Wessjegonsk nicht später als in 1½ bis 2 Monaten Chromleder eigener Erzeugung haben wird.

Die Einrichtung von zwei Sowjetfabriken durch ,nichtsowjetische' Hände kann als gutes Beispiel dafür dienen, wie gegen die uns feindliche Klasse gekämpft werden muss.

Wenn wir die Ausbeuter auf die Finger klopfen, wenn wir sie unschädlich oder ihnen ,den Garaus machen', so ist das erst das halbe Werk. Unser Werk wird erst dann erfolgreich durchgeführt sein, wenn wir sie zwingen, zu arbeiten und durch das von ihren Händen geschaffene Werk helfen, das neue Leben zu verbessern und die Sowjetmacht zu stärken."

Diese ausgezeichnete und zutiefst richtige Erwägung müsste in Stein gemeißelt und in jedem Volkswirtschaftsrat, in jeder Behörde für das Verpflegungswesen, in jeder beliebigen Fabrik, Landabteilung und so weiter aufgestellt werden. Denn das, was die Genossen in dem abgelegenen Wessjegonsk begriffen haben, das wollen die Sowjetfunktionäre der Hauptstädte samt und sonders hartnäckig nicht begreifen. Es ist keine Seltenheit, einem Sowjetintellektuellen oder einem Arbeiter, einem Kommunisten, zu begegnen, der bei der Erwähnung der Genossenschaften verächtlich die Nase rümpft und mit außerordentlich großer Wichtigkeit – und mit ebenso großer Dummheit – erklärt, dass das keine Sowjethände seien, dass das Bourgeois, Krämer, Menschewiki seien, dass die Genossenschaftler zu der und der Zeit und an der und der Stelle durch ihre Finanzgeschäfte die Hilfe für die Weißgardisten maskiert hatten, dass der Versorgungs- und Verteilungsapparat in unserer sozialistischen Republik von reinen Sowjethänden errichtet werden müsste.

Erwägungen dieser Art sind dadurch typisch, dass die Wahrheit hier mit der Lüge so vermengt wird, dass eine höchst gefährliche Verzerrung der Aufgaben des Kommunismus entsteht, die unserer Sache unheimlich viel Schaden bringt.

Gewiss, die Genossenschaft ist ein Apparat der bürgerlichen Gesellschaft, der in der Atmosphäre des „Krämertums" groß geworden ist, der Führer im Geiste der bürgerlichen Politik und der bürgerlichen Weltanschauung erzogen hat und deshalb einen hohen Prozentsatz von Weißgardisten oder Helfershelfern der weißgardistischen Konterrevolution liefert. Das ist unbestreitbar. Schlecht ist jedoch, wenn man beginnt, aus einer unbestreitbaren Wahrheit durch Versimpelung und durch ihre plumpe Anwendung unsinnige Schlüsse zu ziehen. Wir können den Kommunismus nicht anders aufbauen, als mit dem vom Kapitalismus geschaffenen Material, nicht anders als mit dem Kulturapparat, der unter den bürgerlichen Verhältnissen aufgebaut worden ist und der daher unvermeidlich – falls vom Menschenmaterial als Teil des Kulturapparats die Rede ist – von bürgerlicher Psychologie durchtränkt ist. Darin liegt die Schwierigkeit des Aufbaus der kommunistischen Gesellschaft, doch liegt darin auch die Garantie für die Möglichkeit und das Gelingen ihres Aufbaus. Dadurch eben unterscheidet sich der Marxismus von dem alten utopischen Sozialismus, dass der letztere die neue Gesellschaft nicht aus jenen Massen des Menschenmaterials bauen wollte, die durch den blutigen, schmutzigen, räuberischen, von Krämergeist durchdrungenen Kapitalismus geschaffen werden, sondern aus besonders tugendhaften Menschen, die in besonderen Mistbeeten und Treibhäusern zu züchten sind. Dieser lächerliche Gedanke ist jetzt allen lächerlich und ist von allen aufgegeben worden, doch wollen oder können nicht alle die umgekehrte Lehre des Marxismus zu Ende denken, wollen und können nicht überlegen, wie man den Kommunismus aus den Massen des Menschenmaterials bauen kann (und muss), das verdorben worden ist durch jahrhunderte- und jahrtausendelange Sklaverei, durch Leibeigenschaft, Kapitalismus, zersplitterte Kleinwirtschafterei, durch den Krieg aller gegen alle um ein Plätzchen auf dem Markt, um einen höheren Preis für Produkt oder Arbeit.

Die Genossenschaft ist ein bürgerlicher Apparat. Daraus folgt, dass er kein politisches Vertrauen verdient, daraus folgt jedoch durchaus nicht, dass man auf die Aufgabe verzichten darf, diesen Apparat für die Zwecke der Verwaltung und des Aufbaus auszuwerten. Politisches Misstrauen hat zur Folge, dass man nichtsowjetischen Menschen keine politisch verantwortlichen Posten geben darf. Es hat zur Folge, dass die Außerordentlichen Kommissionen die Vertreter der Klassen, Schichten oder Gruppen, die zu den Weißgardisten neigen, aufmerksam überwachen. (Hierbei – das sei in Klammern bemerkt – ist es keineswegs notwendig, sich zu solchem Unsinn zu versteigen, wie ihn Genosse Lazis, einer der besten, erprobtesten Kommunisten, in seiner Kasaner Zeitschrift „Roter Terror" geschrieben hat. Er wollte sagen, der rote Terror sei die gewaltsame Niederhaltung der Ausbeuter, die versuchen, ihre Herrschaft wiederaufzurichten, und anstatt dessen schrieb er auf Seite 2, Heft 1 seiner Zeitschrift: „sucht nicht [!!?] in den Akten nach belastenden Indizien dafür, ob er sich gegen die Sowjets mit Waffen oder mit Worten empört hat.")

Das politische Misstrauen gegen die Vertreter des bürgerlichen Apparats ist berechtigt und notwendig. Die Weigerung, sie für die Sache der Verwaltung und des Aufbaus auszunutzen, ist die größte Dummheit, die dem Kommunismus den größten Schaden bringt. Wer einen Menschewik als Sozialisten, als politischen Leiter oder auch nur als politischen Ratgeber empfehlen wollte, der würde einen ungeheuren Fehler begehen, denn die Geschichte der Revolution in Russland hat endgültig bewiesen, dass die Menschewiki (und die Sozialrevolutionäre) keine Sozialisten sind, sondern kleinbürgerliche Demokraten, die es fertigbringen, sich bei jeder ernsten Zuspitzung des Klassenkampfes zwischen Proletariat und Bourgeoisie auf die Seite der Bourgeoisie zu schlagen. Aber die kleinbürgerliche Demokratie ist kein zufälliges politisches Gebilde, nicht irgendeine Ausnahme, sondern ein notwendiges Produkt des Kapitalismus, wobei nicht nur die alte, vorkapitalistische, ökonomisch reaktionäre Mittelbauernschaft der „Lieferant“ dieser Demokratie ist, sondern auch die ihrer Kultur nach kapitalistische, auf dem Boden des Großkapitalismus aufwachsende Genossenschaft, die Intelligenz usw. Haben sich doch sogar im rückständigen Russland neben den Kolupajew und Rasuwajew Kapitalisten gefunden, welche die kultivierte menschewistische, sozialrevolutionäre und parteilose Intelligenz in ihren Dienst zustellen verstanden. Sollten wir etwa dümmer als diese Kapitalisten sein und ein solches „Baumaterial" für den Aufbau des kommunistischen Russland nicht auszunutzen verstehen?

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