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Wladimir I. Lenin 19180715 Erklärung in der Sitzung des Allrussischen Zentralexekutivkomitees

Wladimir I. Lenin: Erklärung in der Sitzung des

Allrussischen Zentralexekutivkomitees

15. Juli 19181

[Veröffentlicht 1919 in dem Buch: „Stenographischer Bericht der V. Session des Allrussischen Zentralexekutivkomitees". Verlag des Allrussischen Zentralexekutivkomitees, Moskau. Nach Sämtliche Werke, Band 23, Moskau 1940, S. 178-181]

Genossen, über einen Mangel an politischen Krisen und raschen politischen Veränderungen kann unsere Sowjetrepublik sich nicht beklagen. Wie einfach, wie elementar einfach auch alle jene imperialistischen Kräfte sind, die sich neben der Sozialistischen Sowjetrepublik freilich nicht ruhig fühlen können, so rufen die offenkundig führenden Kräfte, die Kombination der beiden imperialistischen Gruppen, doch in einem Augenblick, wie wir ihn gegenwärtig durchmachen, einem Augenblick, wo der Krieg in früherem Umfange fortgesetzt wird, weiterhin politische Krisen und ähnliche Erscheinungen hervor. Anlässlich eines solchen Ereignisses, das einer politischen Krise ähnelt, oder wirklich eine Krise ist, habe ich euch eine Mitteilung zu machen.

Gestern, am 14. Juli um 11 Uhr abends besuchte der provisorische diplomatische Vertreter Deutschlands, Dr. Ritzler, den Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten und übermittelte ihm den Inhalt eines eben aus Berlin eingetroffenen Telegramms, in dem die Deutsche Regierung Dr. Ritzler beauftragt, die Einwilligung der Russischen Regierung zu erbitten für die Zulassung eines Bataillons uniformierter deutscher Soldaten zum Schutze der Deutschen Botschaft, sowie für die schnellste Beförderung dieser Soldaten nach Moskau.

Hinzugefügt wurde, dass der Deutschen Regierung irgendwelche Okkupationsabsichten fern lägen.

Der Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten hat im Einvernehmen mit dem Vorsitzenden des Rates der Volkskommissare erwidert, dass die Volksmassen Russlands den Frieden wünschen, dass die Russische Regierung bereit ist, der Deutschen Botschaft, dem Konsulat und den Kommissionen einen völlig ausreichenden und zuverlässigen Schutz aus ihren eigenen Truppen zu stellen, dass sie aber auf keinen Fall sich damit einverstanden erklären kann, eine ausländische Militärformation nach Moskau zuzulassen. Die Russische Regierung gibt hierbei der festen Hoffnung Ausdruck, dass die Deutsche Regierung, erfüllt von den gleichen. Friedenswünschen, auf ihrem Verlangen nicht bestehen wird.

Tatsächlich steht das an die Russische Regierung gerichtete Verlangen in völligem Widerspruch zu der Erklärung, die der Reichskanzler im Reichstag abgegeben hat, die unselige Ermordung des Grafen Mirbach werde nicht zu einer Verschlechterung der Beziehungen zwischen den beiden Ländern führen. Es widerspricht auch den uns wohl bekannten Wünschen der führenden Handels- und Industriekreise Deutschlands, enge, für beide Länder vorteilhafte Wirtschaftsbeziehungen herzustellen und zu entwickeln, sowie den erfolgreich vorwärtsschreitenden Verhandlungen. Davon zeugen auch zahlreiche Erklärungen, die unserem Vertreter in Berlin über die politische Lage und über das Verhältnis zu Russland abgegeben wurden.

Noch haben wir vollen Grund zu hoffen, dass es gelingen wird, diesen unerwarteten Zwischenfall glücklich beizulegen, aber jedes Mal, wenn eine Verschärfung in unseren internationalen Beziehungen eintritt, halten wir es für notwendig, offen darüber zu berichten und die Fragen geradeheraus zu stellen.

Ich halte es daher für meine Pflicht, folgende Regierungserklärung abzugeben:

Die Regierung der Sowjetrepublik war sich beim Abschluss des Brester Friedens sehr wohl bewusst, welch schwere Aufgabe die Arbeiter und Bauern Russlands angesichts der entstandenen internationalen Lage auf sich nehmen mussten. Der Wille der überwiegenden Mehrheit des IV. Sowjetkongresses war durchaus klar: die werktätigen Klassen verlangten Frieden, da sie eine Ruhepause brauchten für die Arbeit, für die Organisierung der sozialistischen Wirtschaft, für die Sammlung und Festigung ihrer durch den qualvollen Krieg erschöpften Kräfte.

In Erfüllung des Willens des Sowjetkongresses hat die Regierung die Bedingungen des Brester Friedens strikt eingehalten, auch sind in der letzten Zeit unsere Verhandlungen mit der Deutschen Regierung über die genaueste Festsetzung der Höhe der auf uns entfallenden Zahlungen und über die Methoden der Bezahlung, welche wir in der kürzesten möglichen Frist vornehmen wollen, schon ziemlich weit fortgeschritten.

Während aber die Regierung der Sowjetrepublik die Brester Bedingungen aufs Strikteste erfüllt und dadurch dem Friedenswillen der Arbeiter und Bauern Rechnung trägt, hat sie niemals aus dem Auge verloren, dass es Grenzen gibt, über die hinaus selbst die von größter Friedensliebe erfüllten Massen der Werktätigen gezwungen sein werden, sich zu erheben, und sich wie ein Mann mit der Waffe in der Hand zur Verteidigung ihres Landes erheben werden.

Das sinnlose und verbrecherische Abenteuer der linken Sozialrevolutionäre hätte uns um ein Haar in den Krieg gestürzt. Unvermeidlich mussten sich unsere Beziehungen zur Deutschen Regierung – entgegen unserem Wunsche – zuspitzen. Da wir das Verlangen der Deutschen Regierung auf Verstärkung des Schutzes ihrer Botschaft als berechtigt anerkennen, sind wir weit gegangen und gehen weit, um diesem Verlangen zu entsprechen.

Als uns aber das Verlangen der Deutschen Regierung, das noch nicht den Charakter einer unbedingten Forderung trägt, mitgeteilt wurde, dass wir ein Bataillon bewaffneter und uniformierter deutscher Soldaten nach Moskau hereinließen, haben wir geantwortet – und wir wiederholen jetzt diese Antwort vor dem höchsten Organ der Sowjetmacht der Arbeiter und Bauern, vor dem Allrussischen Zentralexekutivkomitee –, dass wir einem derartigen Verlangen in keinem Falle und unter keinen Bedingungen entsprechen können, denn objektiv wäre das der Beginn der Okkupation Russlands durch fremde Truppen.

Einen solchen Schritt wären wir gezwungen so zu beantworten, wie wir den Aufruhr der Tschechoslowaken und die militärischen Aktionen der Engländer im Norden beantworten, nämlich: mit einer verstärkten Mobilisierung, mit dem Aufruf an sämtliche erwachsenen Arbeiter und Bauern, bewaffneten Widerstand zu leisten, sowie im Falle der Notwendigkeit eines zeitweiligen Rückzuges, alle Magazine ohne irgendwelche Ausnahmen zu zerstören, insbesondere aber die Lebensmittel durch Verbrennen der Lager zu vernichten, damit diese nicht dem Gegner in die Hände fallen. Der Krieg würde dann für uns zu einer verhängnisvollen aber unbedingten und unbestreitbaren Notwendigkeit werden, aber diesen revolutionären Krieg werden die Arbeiter und Bauern Russlands Schulter an Schulter mit der Sowjetmacht bis zum letzten Atemzuge führen.

Die innere Politik der Sowjetmacht bleibt in strikter Befolgung der Beschlüsse des V. Sowjetkongresses ebenso wie die auswärtige Politik die frühere. Das verbrecherische Abenteuer der linken Sozialrevolutionäre, die sich als Helfershelfer der Weißgardisten, Gutsbesitzer und Kapitalisten erwiesen haben, wird jetzt, wo sich die Wolken zusammenziehen und sich die Gefahr des Krieges vergrößert, in den Augen des Volkes noch verbrecherischer dastehen, und wir werden die erbarmungslose Bestrafung der durch den Willen des V. Sowjetkongresses unwiderruflich verurteilten Verräter voll und ganz, auf jede Weise unterstützen und durchführen. Wird der Krieg trotz aller unserer Bemühungen zur Tatsache, dann werden wir zu der Bande der linkssozialrevolutionären Verräter, die fähig sind, den Willen der Sowjets zu missachten und militärischen Verrat und dergleichen zu begehen, keine Spur von Vertrauen haben können. Aus der unbarmherzigen Unterdrückung sowohl der sinnlos-abenteuerlichen linkssozialrevolutionären als auch der im Interesse ihrer Klasse handelnden feudalen, kapitalistischen und kulakischen Agenten der Konterrevolution werden wir neue Kräfte für den Krieg schöpfen.

An die Arbeiter und Bauern ganz Russlands wenden wir uns: „Dreifache Wachsamkeit, Vorsicht und Standhaftigkeit, Genossen! Alle müssen auf ihrem Posten sein! Alle müssen, wenn es notwendig wird, ihr Leben hingeben für die Verteidigung der Sowjetmacht, für die Verteidigung der Interessen der Werktätigen, Ausgebeuteten und Armen, für die Verteidigung des Sozialismus."

1 Nach Entgegennahme der Erklärung W. I. Lenins nahm das Allrussi-» sehe Zentralexekutivkomitee folgende Resolution an: „Das Allrussische Zentralexekutivkomitee billigt voll und ganz die Erklärung des Vorsitzenden des Rates der Volkskommissare und beschließt, diese Erklärung den breiten Massen der Werktätigen zur Kenntnis zu bringen."

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