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Wladimir I. Lenin 19180118 Leute von jener Welt

Wladimir I. Lenin: Leute von jener Welt

[Abgefasst am 18. (5.) oder 19. (6.) Januar 1918 Zum ersten Mal veröffentlicht in „Prawda" Nr. 17, 21. Januar 1926. Nach Sämtliche Werke, Band 22, 1934, S. 181-183]

Meine Freunde, ich habe vergeblich einen Tag verloren" – lautet ein alter lateinischer Ausspruch. Man erinnert sich unwillkürlich daran, wenn man an den verlorenen Tag vom 18. (5.) Januar denkt.

Nach der lebendigen, wirklichen Arbeit der Räte unter den Arbeitern und Bauern, die mit ernster Arbeit, mit dem Abholzen des Waldes und dem Ausroden der Baumstümpfe der gutsherrlichen und kapitalistischen Ausbeutung beschäftigt sind, musste man sich auf einmal in eine „fremde Welt" versetzen, zu irgendwelchen fremden Menschen aus jener Welt, aus dem Lager der Bourgeoisie und ihrer freiwilligen und unfreiwilligen, bewussten und unbewussten Verteidiger, Kostgänger, Lakaien und Beschützer. Aus der Welt des Kampfes der werktätigen Massen und ihrer Räteorganisation gegen die Ausbeuter – in die Welt der schönen Phrasen, der gedrechselten, hohlen Deklamationen, der endlosen Versprechungen, die nach wie vor sich auf die Zusammenarbeit mit den Kapitalisten gründen.

Als ob die Geschichte versehentlich oder irrtümlich die Zeiger zurückgedreht hätte und wir nicht im Januar 1918, sondern im Mai oder Juni 1917 wären!

Ein entsetzliches Gefühl! Aus dem Kreise lebendiger Menschen in eine Gesellschaft von Leichen zu geraten, Leichengeruch zu atmen, dieselben Mumien des „sozialen" Geschwätzes a la Louis Blanc, die Tschernow und Zereteli, zu hören – etwas Unerträgliches!

Recht hatte Genosse Skworzow, der in zwei, drei kurzen, präzisen, einfachen, ruhigen und gleichzeitig erbarmungslos scharfen Sätzen den rechten Sozialrevolutionären erklärte: „Zwischen uns ist alles aus. Wir führen die Oktoberrevolution gegen die Bourgeoisie bis zu Ende durch. Wir stehen auf verschiedenen Seiten der Barrikade".1

Und als Antwort darauf – ein Strom von aalglatten Phrasen der Tschernow und Zereteli, die nur (nur!) eine Frage, die Frage der Sowjetmacht, die Frage der Oktoberrevolution, sorgsam umgehen. „Keinen Bürgerkrieg, keine Sabotage!" – beschwört Tschernow die Revolution im Namen der rechten Sozialrevolutionäre. Und die rechten Sozialrevolutionäre, als ob sie -– wie Leichname im Sarge – ein halbes Jahr lang, vom Juni 1917 bis zum Januar 1918, geschlafen hätten, erheben sich und klatschen Beifall, mit Erbitterung und Hartnäckigkeit. Es ist ja so leicht und so angenehm, die Fragen der Revolution durch Beschwörungen zu entscheiden. „Keinen Bürgerkrieg, keine Sabotage, alle sollen die Konstituante anerkennen". Wodurch unterscheidet sich das im Grunde genommen von der Beschwörungsformel: „Arbeiter und Kapitalisten, versöhnt euch"? Durch nichts. Die Kaledin und Rjabuschinski, zusammen mit ihren imperialistischen Freunden aller Länder, werden weder durch die Beschwörungen des süßlichen Redners Tschernow noch durch die langweiligen Belehrungen Zeretelis, die wie ein unverständliches, nicht durchdachtes, groteskes Büchlein anmuten, verschwinden oder ihre Politik ändern.

Entweder muss man die Kaledin und Rjabuschinski besiegen oder die Revolution aufgeben. Entweder Sieg im Bürgerkrieg über die Ausbeuter oder Untergang der Revolution. So stand die Frage in allen Revolutionen, sowohl in der englischen Revolution des 17. Jahrhunderts als auch in der französischen des 18. Jahrhunderts und der deutschen des 19. Jahrhunderts. Ist es etwa denkbar, dass die Frage in der russischen Revolution des 20. Jahrhunderts nicht so stehen sollte? Können etwa diese Wölfe zu Lämmern werden?

Nicht die Spur eines Gedankens bei den Zereteli und Tschernow, nicht der geringste Wunsch, die Tatsache des Klassenkampfes anzuerkennen, der nicht zufällig, nicht auf einmal, nicht infolge einer Laune oder des bösen Willens von irgend jemand, sondern unvermeidlich in dem langen Prozess der revolutionären Entwicklung sich in den Bürgerkrieg verwandelt hat.

Ein schwerer, langweiliger, verdrießlicher Tag in den eleganten Räumen des Taurischen Palais, das sich auch äußerlich von dem Smolny-Institut etwa so unterscheidet, wie der elegante, aber tote bürgerliche Parlamentarismus von dem proletarischen, einfachen, in vieler Hinsicht noch ungeregelten und unfertigen, aber lebendigen und lebensfähigen Räteapparat. Dort, in der alten Welt des bürgerlichen Parlamentarismus, haben die Führer der feindlichen Klassen und der feindlichen Gruppen der Bourgeoisie ihre Kämpfe untereinander ausgefochten. Hier, in der neuen Welt des proletarisch-bäuerlichen sozialistischen Staates leisten die unterdrückten Klassen in etwas grober, ungeschickter Form2

1 W. Tschernow erklärte in der Sitzung der Konstituante: „Die Konstituante stellt die lebendigste Einheit aller Völker Russlands dar, deshalb bedeutet allein die Tatsache der Eröffnung der Konstituante die Beendigung des Bürgerkriegs zwischen den Völkern Russlands."

2 Das Manuskript ist nicht zu Ende geführt worden. Die Red.

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