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Wladimir I. Lenin 19180629 Prophetische Worte

Wladimir I. Lenin: Prophetische Worte

[Geschrieben am 29. Juni 1918. Veröffentlicht am 2. Juli 1918 in der „Prawda" Nr. 133. . Gezeichnet: N. Lenin. Nach Sämtliche Werke, Band 23, Moskau 1940, S. 132-138 f.]

An Wunder glaubt man heute, Gott sei Dank, nicht mehr. Wunderbare Prophezeiungen sind Ammenmärchen. Doch die wissenschaftliche Voraussage ist eine Tatsache. Und in unseren Tagen, da man ringsum nicht selten schändlicher Mutlosigkeit, ja selbst Verzweiflung begegnen kann, ist es nützlich, an eine in Erfüllung gegangene wissenschaftliche Voraussage zu erinnern.

Im Jahre 1887 geschah es, dass Friedrich Engels in der Einleitung zu der Broschüre von Sigismund Borkheim „Zur Erinnerung für die deutschen Mordspatrioten 1806–1807" (diese Broschüre bildet den XXIV. Band der „Soz.-dem. Bibliothek", erschienen 1888 in Hottingen-Zürich) über den kommenden Weltkrieg schrieb.

Man höre, wie Friedrich Engels vor mehr als dreißig Jahren über den zukünftigen Weltkrieg urteilte:

„… Und endlich ist kein anderer Krieg für Preußen-Deutschland mehr möglich, als ein Weltkrieg, und zwar ein Weltkrieg von einer bisher nie geahnten Ausdehnung und Heftigkeit. Acht bis zehn Millionen Soldaten werden sich untereinander abwürgen und dabei ganz Europa so kahl fressen, wie noch nie ein Heuschreckenschwarm. Die Verwüstungen des dreißigjährigen Kriegs zusammengedrängt in drei bis vier Jahre und über den ganzen Kontinent verbreitet; Hungersnot, Seuchen, allgemeine, durch akute Not hervorgerufene Verwilderung der Heere wie der Volksmassen; rettungslose Verwirrung unseres künstlichen Getriebes in Handel, Industrie und Kredit, endend im allgemeinen Bankrott; Zusammenbruch der alten Staaten und ihrer traditionellen Staatsweisheit, derart, dass die Kronen zu Dutzenden über das Straßenpflaster rollen und Niemand sich findet, der sie aufhebt; absolute Unmöglichkeit, vorherzusehen, wie das alles enden und wer als Sieger aus dem Kampf hervorgehen wird; nur ein Resultat absolut sicher: die allgemeine Erschöpfung und die Herstellung der Bedingungen des schließlichen Siegs der Arbeiterklasse. – Das ist die Aussicht, wenn das auf die Spitze getriebene System der gegenseitigen Überbietung in Kriegsrüstungen endlich seine unvermeidlichen Früchte trägt. Das ist es, meine Herren Fürsten und Staatsmänner, wohin Sie in Ihrer Weisheit das alte Europa gebracht haben. Und wenn Ihnen nichts Andres mehr übrig bleibt, als den letzten großen Kriegstanz zu beginnen, – uns kann es recht sein. Der Krieg mag uns vielleicht momentan in den Hintergrund drängen, mag uns manche schon eroberte Position entreißen. Aber wenn Sie die Mächte entfesselt haben, die Sie dann nicht wieder werden bändigen können, so mag es gehen wie es will: am Schluss der Tragödie sind Sie ruiniert und ist der Sieg des Proletariats entweder schon errungen oder doch unvermeidlich.

London, 15. Dezember 1887

Friedrich Engels"

Was für eine geniale Prophezeiung! Und wie unendlich reich an Gedanken jeder Satz dieser genauen, klaren, knappen, auf dem Klassenstandpunkt stehenden wissenschaftlichen Analyse! Wie viel könnten daraus jene schöpfen, die sich jetzt schändlichem Kleinglauben, Mutlosigkeit, Verzweiflung hingeben, wenn … ja, wenn diese Leute, denen Lakaientum gegenüber der Bourgeoisie zur Gewohnheit geworden ist, oder die sich durch sie haben einschüchtern lassen, zu denken verstünden, fähig wären zu denken.

Einiges von dem, was Engels voraussagte, ist anders gekommen: wie sollte sich auch die Welt und der Kapitalismus in den dreißig Jahren wahnsinnig schneller imperialistischer Entwicklung nicht geändert haben. Aber am wunderbarsten ist, dass so vieles von dem, was Engels vorausgesagt hat, „wie vorgeschrieben" verläuft. Denn Engels hat eine tadellos genaue Klassenanalyse gegeben, und die Klassen sowie ihre Wechselbeziehungen sind die früheren geblieben.

„ … Der Krieg mag uns vielleicht momentan in den Hintergrund drängen…" Die Sache verlief eben auf dieser Linie, aber noch weiter und noch schlimmer: ein Teil der „zurückgedrängten" Sozialchauviniisten und ihre charakterlosen „halben Gegner", die Kautskyaner, begannen, ihre Rückwärtsbewegung zu rühmen und verwandelten sich in direkte Überläufer, in Verräter des Sozialismus.

„ … Der Krieg mag uns manche schon eroberte Position entreißen…" Eine ganze Reihe „legaler" Positionen wurde der Arbeiterklasse entrissen. Dafür ist sie durch die Prüfungen gestählt und empfängt die harten aber nützlichen Lehren der illegalen Organisation, des illegalen Kampfes, der Vorbereitung ihrer Kräfte für den revolutionären Sturm.

„ … Die Kronen werden zu Dutzenden rollen…" Einige Kronen sind schon gerollt, und unter ihnen ist eine, die Dutzende anderer wert ist: die Krone des allrussischen Selbstherrschers: Nikolaus Romanow.

„ … Absolute Unmöglichkeit vorherzusehen, wie das alles enden wird…" Nach vier Jahren Krieg ist diese absolute Unmöglichkeit, wenn man sich so ausdrücken darf, eine noch absolutere.

„ … Rettungslose Verwirrung unseres künstlichen Getriebes in Handel, Industrie und Kredit…" Am Ende des vierten Kriegsjahres trat das in einem der größten, einem der zurückgebliebensten Länder, das von den Kapitalisten in den Krieg hineingezogen worden war – in Russland –, in aller Vollständigkeit in Erscheinung. Aber zeigt nicht vielleicht die wachsende Hungersnot in Deutschland und Österreich, der Mangel an Bekleidung, an Rohstoffen, die Abnutzung der Produktionsmittel, dass auch in anderen Ländern eine ebensolche Lage mit ungeheurer Schnelligkeit heraufzieht?

Engels schildert lediglich die Folgen, die durch einen „äußeren" Krieg hervorgerufen werden, er berührt nicht den inneren, d. h. den Bürgerkrieg, ohne den noch keine große Revolution in der Geschichte ausgekommen ist, ohne den kein ernsthafter Marxist sich den Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus vorgestellt hat. Und wenn der äußere Krieg sich noch eine gewisse Zeit hinziehen kann, ohne eine „rettungslose Verwirrung" in dem „künstlichen Getriebe" des Kapitalismus hervorzurufen, so ist es doch handgreiflich, dass der Bürgerkrieg ohne solche Folgen schon ganz und gar undenkbar ist.

Welchen Stumpfsinn, welche Charakterlosigkeit – um nicht von gewinnsüchtiger Dienstbeflissenheit gegenüber der Bourgeoisie zu sprechen – offenbaren jene, die ähnlich unseren Anhängern der „Nowaja Schisn", unseren Menschewiki, rechten Sozialrevolutionäre usw. fortfahren, sich „Sozialisten" zu nennen, dabei aber voller Bosheit auf die Erscheinungen der „rettungslosen Verwirrung" hinweisen, und an allem dem revolutionären Proletariat, der Sowjetmacht, der „Utopie" des Übergangs zum Sozialismus die Schuld geben. Die „Verwirrung" oder, auf gut russisch ausgedrückt, die Zerrüttung ist durch den Krieg hervorgerufen. Einen schweren Krieg ohne Zerrüttung kann es nicht geben. Ein Bürgerkrieg, die notwendige Voraussetzung und Begleiterscheinung der sozialistischen Revolution, ist ohne Zerrüttung unmöglich. Sich von der Revolulion, dem Sozialismus „aus Anlass" der Zerrüttung lossagen, bedeutet lediglich, seine Prinzipienlosigkeit zu offenbaren und faktisch auf die Seite der Bourgeoisie überzugehen.

„… Hungersnot, Seuchen, allgemeine, durch akute Not hervorgerufene Verwilderung der Heere wie der Volksmassen …"

Wie einfach und klar zieht Engels diese unbestreitbare Schlussfolgerung, die offensichtlich für jeden ist, der auch nur im Geringsten fähig ist, über die objektiven Folgen eines mehrjährigen, schweren, qualvollen Krieges nachzudenken. Und wie erschütternd dumm sind jene zahlreichen „Sozialdemokraten" und traurigen „Sozialisten", die sich nicht in diese höchst einfache Überlegung hineindenken wollen oder können.

Ist ein mehrjähriger Krieg ohne Verwilderung sowohl der Heere als auch der Volksmassen denkbar? Selbstverständlich nicht. Eine solche Folge eines mehrjährigen Krieges ist für mehrere Jahre, wenn nicht für eine ganze Generation, absolut unvermeidlich. Aber unsere „Männer im Futteral", die Jammerlappen aus der bürgerlichen Intelligenz, die sich „Sozialdemokraten" und „Sozialisten" nennen, blasen in dasselbe Horn wie die Bourgeoisie, indem sie die Erscheinungen der Verwilderung oder die unvermeidliche Härte der Kampfmaßnahmen gegen besonders krasse Fälle von Verwilderung auf die Revolution abwälzen, – obgleich es klar wie der Tag ist, dass diese Verwilderung durch den imperialistischen Krieg hervorgerufen worden ist, und dass keine Revolution ohne langen Kampf, ohne eine Reihe harter Repressionen imstande ist, sich von solchen Kriegsfolgen zu befreien.

Sie sind bereit, „theoretisch" die Revolution des Proletariats und der anderen unterdrückten Klassen zuzulassen, unsere süßlichen Schreiberlinge der Zeitungen „Nowaja Schisn", „Wperjod" oder „Djelo Naroda", nur soll diese Revolution vom Himmel herunterfallen, nicht aber geboren werden und wachsen auf der Erde, die in dem vierjährigen imperialistischen Völkergemetzel mit Blut getränkt worden ist, nicht inmitten der Millionen und aber Millionen Menschen, die in diesem Gemetzel gequält, gemartert wurden und verwildert sind.

Sie hörten und erkannten „theoretisch" an, dass die Revolution einem Geburtsakt zu vergleichen sei, doch als es zur Tat kam, schlotterten sie vor schmählicher Angst, und ihr Lamentieren einer lumpigen, niedrigen Seele verwandelte sich in ein Nachbeten der boshaften Ausfälle der Bourgeoisie gegen den Aufstand des Proletariats. Nehmen wir die Beschreibung des Geburtsaktes in der Literatur – jene Beschreibungen, wo die Autoren sich das Ziel setzten, die ganze Schwere, die ganze Qual, das ganze Grauen dieses Aktes wahrheitsgetreu darzustellen; wie z. B. in „La joie de vivre" von Emile Zola oder in den „Notizen eines Arztes" von Weressajew. Die Geburt des Menschen ist ein Akt, der die Frau in ein gequältes, gemartertes, vor Schmerz wahnsinnig gewordenes, blutiges, halbtotes Stück Fleisch verwandelt. Würde jedoch irgend jemand einverstanden sein, ein solches „Individuum" als Menschen anzuerkennen, das nur das in der Liebe, in ihren Folgen, in der Mutterwerdung der Frau sähe? Der aus diesem; Grunde der Liebe und der Kinderzeugung abschwüre?

Es gibt leichte und es gibt schwere Geburten. Marx und Engels, die Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus sprachen stets von den langen Geburtswehen, die unvermeidlich mit dem Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus verbunden sind. Und indem Engels die Folgen eines Weltkrieges analysiert, schildert er einfach und klar die unbestreitbare und offensichtliche Tatsache, dass eine Revolution, die aus dem Krieg folgt, die mit dem Krieg verbunden ist (und die dazu noch – füge ich hinzu –, während des Krieges entflammt, die gezwungen ist, zu wachsen und sich zu behaupten während sie vom Weltkrieg umbrandet ist), dass eine solche Revolution ein besonders schwerer Fall einer Geburt ist.

In klarer Erkenntnis dieser Tatsache spricht Engels besonders vorsichtig von der Geburt des Sozialismus durch die in einem Weltkrieg untergehende kapitalistische Gesellschaft. „Nur ein Resultat" (des Weltkrieges) – sagt er – ist „absolut sicher: die allgemeine Erschöpfung und die Herstellung der Bedingungen des schließlichen Sieges der Arbeiterklasse."

Noch klarer wird dieser Gedanke am Schluss der von uns behandelten Einleitung ausgedrückt:

„… Am Schluss der Tragödie sind Sie" (die Kapitalisten und Gutsbesitzer, die Könige und Staatsmänner der Bourgeoisie) „ruiniert und ist der Sieg des Proletariats entweder schon errungen oder doch unvermeidlich."

Schwere Geburten erhöhen um ein Vielfaches die Gefahr einer tödlichen Erkrankung oder eines tödlichen Ausgangs. Aber wenn auch einzelne Menschen bei der Geburt sterben, die neue Gesellschaft, geboren aus der alten Ordnung, kann nicht umkommen, ihre Geburt wird lediglich qualvoller, langwieriger sein, ihr Wachstum und ihre Entwicklung wird sich langsamer vollziehen.

Das Ende des Krieges ist noch nicht eingetreten, eingetreten ist aber schon die allgemeine Erschöpfung. Von den zwei unmittelbaren Resultaten des Krieges, die von Engels bedingt vorausgesagt wurden (entweder ist der Sieg der Arbeiterklasse schon errungen, oder es sind, entgegen allen Schwierigkeiten, die Voraussetzungen für seine Unvermeidlichkeit geschaffen), von diesen zwei Bedingungen sind heute, Mitte 1918, beide Wirklichkeit geworden.

In einem der am wenigsten entwickelten kapitalistischen Länder ist der Sieg der Arbeiterklasse schon errungen. In den übrigen werden durch unerhörte Anstrengungen, unerhörte Qualen die Voraussetzungen geschaffen, die diesen Sieg „doch unvermeidlich" machen.

Mögen die „sozialistischen" Jammerlappen unken, mag die Bourgeoisie wüten und toben. Nur Menschen, die die Augen schließen, um nicht zu sehen, und sich die Ohren verstopfen, um nicht zu hören, sind imstande, nicht zu bemerken, dass auf der ganzen Welt für die alte, kapitalistische Gesellschaft, die mit dem Sozialismus schwanger geht, die Geburtswehen begonnen haben. Auf unser Land, das durch den Gang der Ereignisse zeitweise in die Vorhut der sozialistischen Revolution vorgerückt ist, entfallen heute die besonders großen Qualen des ersten Abschnitts der begonnenen Geburt. Wir haben allen Grund, mit vollkommener Festigkeit und absoluter Zuversicht in die Zukunft zu blicken, die uns neue Bundesgenossen, neue Siege der sozialistischen Revolution in einer Reihe der fortgeschritteneren Länder vorbereitet. Wir haben ein Recht, stolz zu sein und uns glücklich zu schätzen, dass es uns als den ersten zufiel, in einem Winkel des Erdballs diese wilde Bestie, den Kapitalismus, zur Strecke zu bringen, der die Erde in Blut ertränkte, der die Menschheit bis zu Hunger und Verwilderung geführt hat, und der unausbleiblich und bald sterben wird, wie ungeheuer bestialisch auch seine Raserei in der Agonie sein mag.

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