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Wladimir I. Lenin 19180522 Rede auf dem Kongress der Arbeitskommissare

Wladimir I. Lenin: Rede auf dem Kongress der Arbeitskommissare

22. Mai 1918

[„Prawda" Nr. 101. 24. Mai 1918. Nach Sämtliche Werke, Band 23, Moskau 1940, S. 42-47]

Genossen! Gestattet mir vor allem, im Namen des Rats der Volkskommissare den Kongress der Arbeitskommissare zu begrüßen.

Auf der gestrigen Sitzung des Rats der Volkskommissare hat Genosse Schljapnikow berichtet, dass euer Kongress sich der Resolution der Gewerkschaften über die Arbeitsdisziplin und die Produktivitätsnormen angeschlossen hat. Genossen, ich glaube, dass ihr mit diesem Beschluss einen überaus bedeutsamen Schritt getan habt, der nicht nur die Arbeitsproduktivität und die Produktionsbedingungen betrifft, sondern dem auch vom Standpunkt der gegenwärtigen Lage überhaupt hervorragende prinzipielle Bedeutung zukommt. Ihr seid in ständiger beruflicher und nicht zufälliger Verbindung mit der ganzen breiten Arbeitermasse und ihr wisst, dass unsere Revolution gegenwärtig einen der wichtigsten und kritischsten Momente ihrer Entwicklung durchmacht.

Ihr wisst ausgezeichnet, dass unsere Feinde, die Imperialisten des Westens, gegen uns auf der Lauer stehen und dass vielleicht der Augenblick kommen wird, wo sie ihre Horden auf uns loslassen werden. Jetzt gesellt sich zu diesen äußeren Feinden ein gefährlicher, ein innerer Feind: der Verfall, das Chaos und die Desorganisation, die von der Bourgeoisie überhaupt und vom Kleinbürgertum im Besonderen, sowie von den verschiedenen Helfershelfern und Nachläufern der Bourgeoisie verstärkt werden. Ihr wisst, Genossen, dass uns nach dem überaus qualvollen Krieg, in den uns das zaristische Regime, sowie die Kompromissler mit Kerenski an der Spitze hineingeführt hatten, Zersetzung und äußerste Zerrüttung als unmittelbares Erbe zufielen. Jetzt nähern wir uns dem kritischsten Augenblick, wo Hunger und Arbeitslosigkeit an die Tür einer immer größeren Zahl von Arbeiterwohnungen pochen, wo Hunderte und Tausende von Menschen Hungerqualen erdulden, wo die Lage dadurch verschärft wird, dass kein Brot da ist, obzwar es da sein könnte, wo wir wissen, dass die geregelte Brotverteilung von der geregelten Zufuhr abhängt. Der Brennstoffmangel, der einsetzte, nachdem wir von dem brennstoffreichen Gebiet abgeschnitten waren, die katastrophale Lage der Eisenbahnen, denen möglicherweise Stilllegung droht – das sind die Umstände, aus denen die Schwierigkeiten für die Revolution hervorwachsen, das sind die Umstände, die die Herzen der Kornilowianer aller Sorten und aller Färbungen mit Jubel erfüllen. Sie beratschlagen jetzt täglich, vielleicht sogar stündlich darüber, wie die Schwierigkeiten der Sowjetrepublik und der proletarischen Macht auszunutzen wären, um von neuem einen Kornilow auf den Thron zu erheben. Ihr Streit geht darum, welcher Nationalität dieser Kornilow sein soll, er muss aber jedenfalls derart sein, dass er für die Bourgeoisie von Vorteil ist – mag es nun ein Kornilow mit der Krone auf dem Kopf oder ein republikanischer Kornilow sein. Heute wissen die Arbeiter schon, worum es sich handelt, und nach allem, was die russische Revolution seit Kerenski durchlebt hat, wundert sie das nicht im Geringsten. Aber die Stärke der Arbeiterorganisation, der Arbeiterrevolution bestand auch darin, sich stets genaueste Rechenschaft über die Lage der Dinge zu geben, ohne jemals den Kopf in den Sand zu stecken.

Wir sagten, dass ein so unerhört qualvoller Krieg von solchen Ausmaßen den vollständigen Untergang der europäischen Kultur befürchten lässt. Die einzige Rettung kann nur darin liegen, dass die Macht in die Hände der Arbeiter übergeht, damit diese eine eiserne Ordnung organisieren. Durch den Verlauf der russischen Revolution und infolge der besonderen historischen Situation erwies sich unser russisches Proletariat nach dem Jahre 1905 für eine gewisse Zeit den anderen internationalen Armeen des Proletariats weit voraus. Wir durchleben jetzt jenen Zeitabschnitt, wo in allen westeuropäischen Ländern die Revolution heranreift und wo den Arbeiterarmeen Deutschlands die völlige Ausweglosigkeit ihrer Lage klar wird. Wir wissen, dass dort, im Westen, den Werktätigen nicht das verfaulte Regime des Romanow und der leeren Prahlhänse gegenübersteht, sondern die bis auf den letzten Mann organisierte Bourgeoisie, die sich auf alle Errungenschaften der modernen Kultur und Technik stützt. Eben darum war es für uns so leicht, die Revolution zu beginnen, aber schwerer, sie weiterzuführen, und eben darum ist es dort, im Westen, schwerer, die Revolution zu beginnen, aber leichter wird sie weiterzuführen sein. Unsere Schwierigkeiten beruhen darauf, dass wir alles durch die Anstrengungen des russischen Proletariats vollbringen und die Stellung halten müssen, bis unser Verbündeter, das internationale Proletariat aller Länder, genügend erstarkt ist. Mit jedem Tag wird es fühlbarer, dass es keinen anderen Ausweg gibt. Wir für unseren Teil haben die Hauptschwierigkeiten zu erleiden, weil wir, ohne Verstärkungen zu besitzen, noch der Zerrüttung des Eisenbahn-, Transport- und Ernährungswesens von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen. Hier muss die Frage klar für alle gestellt werden.

Ich hoffe, dass der Kongress der Arbeitskommissare, die mehr als andere unmittelbare Berührung mit den Arbeitern haben, nicht nur eine Etappe in der unmittelbaren Verbesserung derjenigen Arbeitsordnung sein wird, die wir dem Sozialismus zugrunde legen müssen, sondern dass dieser Kongress für die Arbeiter auch als eine Etappe dienen wird für die klare Erkenntnis des Augenblicks, den wir durchleben. Die Arbeiterklasse steht vor einer schweren, aber dankbaren Aufgabe, von deren Lösung das Schicksal des Sozialismus in Russland und vielleicht auch in anderen Ländern abhängt. Gerade aus diesem Grunde ist die Resolution über die Arbeitsdisziplin so wichtig.

Jetzt, wo die Macht in den Händen der Arbeiter gefestigt ist, jetzt hängt alles von der proletarischen Disziplin und Organisiertheit ab. Es handelt sich um die Disziplin und die Diktatur des Proletariats, um eine eiserne Macht. Die Macht, die die heißeste Sympathie, die entschlossenste Unterstützung der Armut findet, diese Macht muss eisern sein, weil unerhörtes Elend im Anzug ist. Die Masse der Arbeiter lebt im Banne des Alten und hofft, dass wir uns schon irgendwie aus dieser Lage herausreißen werden.

Aber von Tag zu Tag schwinden diese Illusionen immer mehr, und es wird immer offensichtlicher, dass der Weltkrieg ganzen Ländern mit Hunger und Entartung droht, wenn nicht die Arbeiterklasse diese Zerrüttung durch ihre Organisiertheit überwindet. Neben der klassenbewussten Arbeiterschaft, deren ganze Tätigkeit darauf gerichtet ist, dass die neue Disziplin der Kameradschaftlichkeit zur Grundlage werde, sehen wir die vielmillionenköpfige Masse der Kleineigentümer und kleinbürgerlichen Elemente, die alles unter dem Gesichtswinkel ihrer eigenen engen Interessen betrachten. Es ist unmöglich, den Hunger und die Katastrophe, die gegen uns im Anzug sind, anders zu bekämpfen als durch die Aufrichtung einer eisernen Ordnung der klassenbewussten Arbeiter – sonst werden wir nichts machen können. Infolge der gigantischen Ausdehnung Russlands leben wir unter solchen Bedingungen, dass an einem Ende des Landes viel Getreide vorhanden ist, am anderen aber gar keines. Man soll nicht glauben, dass es nicht zu einem Verteidigungskrieg kommen könnte, den man uns aufzwingen kann. Aber es ist nicht daran zu denken, dass die Städte und die gewaltigen Industriezentren ohne geregelte Zufuhr ernährt werden können. Jedes Pud Getreide muss registriert werden, damit kein einziges Pud Getreide verlorengeht. Wir wissen aber, dass diese Registration in Wirklichkeit nicht durchgeführt wird, dass sie nur auf dem Papier bleibt. Im Leben zersetzen die kleinen Spekulanten die Dorfarmut nur, indem sie ihr einreden, der Mangel könne durch den Privathandel behoben werden. Unter solchen Bedingungen kann man aus der Krise nicht herauskommen. In Russland kann das Brot für die Menschen und das Brot für die Maschinen, d. h. der Brennstoff für die Industrie, ausreichen, wenn alles, was wir haben, peinlich genau unter alle Bürger verteilt wird, damit niemand auch nur ein einziges Pfund Brot zu viel nehmen kann, damit kein einziges Pfund Brennstoff unausgenutzt bleibt. Nur so kann das Land vor der Hungersnot gerettet werden. Diese Lehre der kommunistischen Verteilung, dass über alles Rechnung geführt werde, damit Brot für die Menschen und Brennstoff für die Industrie da sei, diese Lehre stammt nicht aus Büchern, – wir sind zu ihr durch bittere Erfahrung gekommen.

Vielleicht wird die breite Arbeitermasse nicht mit einem Mal begreifen, dass wir vor einer Katastrophe stehen. Ein Kreuzzug der Arbeiter gegen die Desorganisation und die Getreideverheimlichung ist nötig. Ein Kreuzzug ist nötig, damit die Arbeitsdisziplin, über die ihr einen Beschluss gefasst habt, über die in den Fabriken und Werken gesprochen wurde, sich über das ganze Land ausdehne, damit die breitesten Massen begreifen, dass es keinen anderen Ausweg gibt. In der Geschichte unserer Revolution bestand die Stärke der klassenbewussten Arbeiter stets darin, der bittersten, gefahrvollsten Wirklichkeit absolut offen ins Auge zu sehen, dabei keinerlei Illusionen zu hegen, sondern die Kräfte genau abzuschätzen. Wir können nur auf die klassenbewussten Arbeiter rechnen; die Übrige Masse, die Bourgeoisie und die kleinen Eigentümer, ist gegen uns, sie glauben nicht an die neue Ordnung, sie greifen nach jeder Gelegenheit, um die Not des Volkes zu verschärfen. Als Beispiel kann dienen, was wir in der Ukraine und in Finnland sehen: unerhörte Bestialitäten und Ströme von Blut, mit dem die Bourgeoisie und ihre Anhänger, von den Kadetten bis zu den Sozialrevolutionären, die Städte überschwemmen, welche sie mit Unterstützung ihrer Verbündeten bezwingen. All das zeigt, was dem Proletariat in der Zukunft bevorsteht, wenn es seine historische Aufgabe nicht erfüllen wird. Wir wissen, wie dünn die Schicht der fortgeschrittenen und klassenbewussten Arbeiter in Russland ist. Wir wissen auch, wie groß die Not des Volkes ist; wir wissen, wir werden dahin kommen, dass die breiten Massen begreifen, dass mit halben Maßnahmen aus dieser Lage nicht herauszukommen ist und dass es ohne proletarische Umwälzung unmöglich abgehen wird. Wir leben in einer solchen Zeit, wo die Länder ruiniert und Millionen Menschen zum Untergang verurteilt und zur Kriegsfron gezwungen werden. Das eben ist die Umwälzung, die uns die Geschichte aufgezwungen hat, nicht nach dem bösen Willen einzelner Personen, sondern weil das ganze kapitalistische System in seinen Grundfesten kracht und einstürzt.

Genossen Arbeitskommissare, benutzt jede eurer Zusammenkünfte in jeder beliebigen Fabrik und in jedem beliebigen Werk, jede eurer Zusammenkünfte mit jeder beliebigen Arbeiterdelegation, benutzt jede Möglichkeit, diese Lage zu erklären, damit die Arbeiter wissen, dass uns entweder der Untergang bevorsteht oder die Möglichkeit, uns zu verteidigen; dass uns die Wiederkehr der russischen, japanischen oder deutschen Kornilowleute bevorsteht, die uns ein Achtel Pfund Brot in der Woche bescheren werden, wenn nicht die klassenbewussten Arbeiter an der Spitze der gesamten Armut einen Kreuzzug organisieren gegen das Chaos und die Desorganisation, die das Kleinbürgertum überall verstärkt und die wir besiegen müssen. Es handelt sich darum, dass der klassenbewusste Arbeiter sich nicht nur als Herr in seinem Betrieb, sondern auch als Vertreter des Landes fühle, dass er seine Verantwortung fühle. Der klassenbewusste Arbeiter muss wissen, dass er Vertreter seiner Klasse ist. Er muss siegen, wenn er sich an die Spitze der Bewegung gegen die Bourgeoisie und die Spekulanten stellt. Der klassenbewusste Arbeiter wird begreifen, worin die Hauptaufgabe eines Sozialisten besteht, und dann werden wir siegen. Dann werden sich Kräfte finden, und wir werden kämpfen können.

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