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Wladimir I. Lenin 19180223 Rede in der Sitzung des Allrussischen Zentralexekutivkomitees

Wladimir I. Lenin: Rede in der Sitzung des Allrussischen Zentralexekutivkomitees

23. Februar 1918

[Zum ersten Mal veröffentlicht in N. Lenin, Gesammelte Werke, Bd. XX, T. 2 1926. Nach Sämtliche Werke, Band 22, Zürich 1934, S. 301-305]

Genossen!

Die Friedensbedingungen, die uns die Vertreter des deutschen Imperialismus angeboten haben, sind unerhört schwere, unendlich drückende, räuberische Bedingungen. Die deutschen Imperialisten machen sich die Schwäche Russlands zunutze und setzen uns das Knie auf die Brust. Und in dieser Situation muss ich, um euch nicht die bittere Wahrheit vorzuenthalten, von der ich tief überzeugt bin, sagen, dass wir keinen anderen Ausweg haben, als diese Bedingungen zu unterzeichnen. Jeder andere Vorschlag ist eine freiwillige oder unfreiwillige Heraufbeschwörung noch größerer Übel und einer weiteren vollständigen (wenn man hier überhaupt von Stufen reden kann) Unterwerfung, Versklavung der Sowjetrepublik durch den deutschen Imperialismus, oder aber ein trauriger Versuch, sich mit Worten über die bittere, ungeheuer schwere, aber unbestreitbare Wirklichkeit hinwegzutäuschen. Genossen! Ihr wisst alle sehr gut, und viele von euch auf Grund eigener Erfahrung, dass auf Russland aus Gründen, die euch allen bekannt, die unbestreitbar sind, die Last des imperialistischen Krieges drückender, schwerer als auf allen anderen Ländern lastete. Deshalb wisst ihr auch, dass unsere Armee durch den Krieg so zerschlagen, so erschöpft ist, wie keine andere, dass alle Verleumdungen der bürgerlichen Presse und der Parteien, die sie unterstützen oder der Sowjetmacht feindlich gesinnt sind, über die angebliche Zersetzung der Armee durch die Bolschewiki, Unsinn sind. Ich will euch nochmals an den Aufruf erinnern, den Krylenko, als er noch unter Kerenski Fähnrich war, bei seiner Abreise nach Petrograd an die Truppen schickte, der in der „Prawda" veröffentlicht wurde und in dem er folgendes erklärte: Keine Revolten! Wir fordern euch nicht dazu auf, wir fordern euch zu organisierten politischen Aktionen auf. Strebt danach, möglichst organisiert zu handeln.1 Das war die Propaganda eines der temperamentvollsten und mit der Armee eng verbundenen Vertreter der Bolschewiki. Alles, was nur möglich war, um diese unglaublich, unendlich erschöpfte Armee zusammenzuhalten, alles, was nur möglich war, um sie zu stärken, ist getan worden. Und wenn wir jetzt sehen, obwohl ich z. B. im letzten halben Monat mich jeder Darlegung meiner Auffassungen enthalten habe, die man für pessimistisch hätte halten können, wenn wir gesehen haben, dass wir in Bezug auf die Armee im Laufe des letzten Monats alles gesagt haben, was man nur sagen konnte, und alles getan haben, was man nur tun konnte, um die Lage zu erleichtern, so hat uns die Wirklichkeit gezeigt, dass unsere Armee nach drei Jahren Krieg absolut nicht imstande ist zu kämpfen, nicht kämpfen will. Das ist die Hauptursache, die einfache, augenscheinliche, im höchsten Grade bittere und schwere, aber ganz klare Ursache dafür, dass wir, die wir neben einem räuberischen Imperialisten leben, gezwungen sind, Friedensbedingungen in einem Augenblick zu unterzeichnen, wo er uns das Knie auf die Brust setzt. Deshalb sage ich im vollen Bewusstsein meiner Verantwortung, deshalb wiederhole ich, dass kein einziger Vertreter der Sowjetmacht das Recht hat, sich vor dieser Verantwortung zu drücken. Gewiss, es ist angenehm und leicht, zu beobachten und den Arbeitern, Bauern und Soldaten zu sagen, wie die Revolution nach dem Oktoberumsturz sich vorwärts entwickelte, aber wenn man die bittere, schwere, unbestreitbare Wahrheit – die Unmöglichkeit eines revolutionären Kriegs –anerkennen muss, so ist es jetzt nicht erlaubt, sich vor dieser Verantwortung zu drücken, und man muss sie offen auf sich nehmen. Ich halte mich für verpflichtet, ich halte es für notwendig, meine Pflicht zu erfüllen und offen auszusprechen, was ist. Deshalb bin ich überzeugt, dass die werktätigen Klassen Russlands, die wissen, was ein Krieg bedeutet, was er den Werktätigen gekostet hat, bis zu welchem Grade der Erschöpfung und Entkräftung er sie gebracht hat, mit uns zusammen – daran zweifle ich keinen Augenblick – die ganze unerhörte Schwere, Brutalität, Schändlichkeit dieser Friedensbedingungen verstehen und nichtsdestoweniger unsere Haltung billigen werden. Die Werktätigen werden sagen: ihr musstet Bedingungen für einen sofortigen und gerechten Frieden vorschlagen, ihr habt es getan; ihr musstet alles nur mögliche tun, um den Friedensschluss hinauszuschieben, um zu sehen, ob sich nicht andere Länder anschließen, ob uns nicht das europäische Proletariat zur Hilfe kommt, ohne dessen Hilfe wir nicht imstande sind, einen dauernden sozialistischen Sieg zu erlangen. Wir haben alles, was möglich war, getan, um die Verhandlungen in die Länge zu ziehen, wir haben sogar mehr getan, als möglich war; wir haben nach den Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk den Kriegszustand für beendet erklärt, weil wir der Überzeugung waren, wie viele unter uns, dass Deutschland infolge seiner Lage nicht imstande sein werde, eine brutale Offensive gegen Russland zu eröffnen. Diesmal haben wir eine schwere Niederlage erlitten, und einer Niederlage muss man verstehen, gerade ins Antlitz zu schauen. Jawohl, die Revolution hatte sich bisher in einer aufsteigenden Linie entwickelt: von Sieg zu Sieg. Jetzt aber hat sie eine schwere Niederlage erlitten. Die Bewegung der deutschen Arbeiter, die so rasch begonnen hatte, ist zeitweilig unterbrochen worden. Wir wissen, dass die Hauptursachen dieser Bewegung nicht beseitigt sind und dass sie wieder verstärkt in Erscheinung treten und sich unvermeidlich vertiefen werden und vertiefen müssen, weil der qualvolle Krieg sich in die Länge zieht, weil der Imperialismus immer mehr und immer frecher seine Brutalität enthüllt und den der Politik scheinbar am fernsten stehenden oder für das Verständnis der sozialistischen Politik unfähigen Massen die Augen öffnet. Das ist der Grund dafür, dass eine so verzweifelte, tragische Situation entstanden ist, die uns zwingt, sofort den Frieden anzunehmen, und die werktätigen Massen veranlassen wird, zu sagen: ja, sie haben richtig gehandelt, sie haben alles getan, was sie konnten, um einen gerechten Frieden anzubieten und den Friedensschluss hinauszuschieben, sie mussten den drückendsten, unglücklichsten Frieden annehmen, weil es keinen anderen Ausweg für das Land gibt. Die deutschen Imperialisten befinden sich in einer Lage, wo sie gezwungen sind, mit der Sowjetrepublik einen Kampf um Tod und Leben zu führen. Wenn sie jetzt ihre Pläne des Vormarsches auf Petrograd und Moskau nicht ausführen, so nur deshalb, weil sie durch den blutigen und räuberischen Krieg gegen England gebunden sind, weil sie außerdem eine Krise im Innern haben. Wenn man mich darauf hinweist, dass die deutschen Imperialisten morgen, übermorgen noch schlechtere Bedingungen stellen können, so sage ich, dass man darauf gefasst sein muss. Es ist klar, dass die Sowjetrepublik, deren Nachbarn brutale Räuber sind, mit einem Überfall rechnen muss. Wenn wir jetzt nicht mit einem Krieg antworten können, so deshalb, weil wir keine Kräfte haben, weil man nur mit dem Volke kämpfen kann. Wenn die Erfolge der Revolution viele Genossen veranlassen, das Gegenteil zu behaupten, so ist das keine Massenerscheinung, so ist das nicht der Ausdruck des Willens und der Ansichten der wirklichen Massen. Wenn ihr zu den wirklichen werktätigen Klassen geht, zu den Arbeitern und Bauern, so werdet ihr nur die Antwort hören, dass wir auf keinen Fall Krieg führen können, dass keine physischen Kräfte vorhanden sind, dass wir bereits im Blut ersaufen, wie ein Soldat gesagt hat. Diese Massen werden uns verstehen und werden es billigen, dass wir diesen erzwungenen, unerhört schweren Frieden unterzeichnen. Vielleicht wird die Ruhepause bis zum Aufschwung der Massen ziemlich lange dauern, aber diejenigen, die die langen Jahre revolutionärer Kämpfe in der Epoche des Aufschwungs der Revolution und in der Epoche erlebt haben, wo die Revolution in einen Abgrund geriet, wo die revolutionären Aufrufe an die Massen bei ihnen keinen Widerhall fanden, wissen, dass die Revolution sich trotzdem immer von neuem erhoben hat. Deshalb sagen wir: jawohl, die Massen sind jetzt nicht imstande, Krieg zu führen, jetzt ist jeder Vertreter der Sowjetmacht verpflichtet, dem Volke die ganze bittere Wahrheit offen zu sagen, die unerhört schwere Zeit des dreijährigen Krieges und der entsetzlichen Zerrüttung durch den Zarismus wird vorübergehen, und das Volk wird in sich die Kraft finden und die Möglichkeit des Widerstandes erkennen. Vor uns steht jetzt der Unterdrücker. Die beste Antwort auf die Unterdrückung ist natürlich der revolutionäre Krieg, der Aufstand, aber leider hat die Geschichte gezeigt, dass man nicht immer auf die Unterdrückung mit einem Aufstand antworten kann; der Verzicht auf den Aufstand bedeutet jedoch nicht den Verzicht auf die Revolution, lasst euch nicht durch die bürgerlichen Zeitungen, die Gegner der Sowjetmacht, provozieren. Sie haben keine anderen Worte für diesen Frieden als: „Schandfrieden", „Schande"! In Wirklichkeit aber begrüßt diese Bourgeoisie die deutschen Eroberer mit Begeisterung. Sie sagt: „Endlich! Die Deutschen kommen and bringen uns Ordnung". Das ist ihr Wunsch, und deswegen treiben sie ihre Hetze mit dem Geschrei vom „schmählichen, schändlichen Frieden". Sie wollen, dass die Sowjetmacht einen Kampf, einen unerhörten Kampf aufnehme, weil sie wissen, dass wir keine Kräfte haben, sie treiben uns zur völligen Versklavung an die deutschen Imperialisten, um dann selbst mit den deutschen Polizisten einen Pakt zu schließen, aber sie bringen damit nur ihre eigenen Klasseninteressen zum Ausdruck, denn sie wissen, dass die Sowjetmacht erstarkt. Diese Stimmen und dieses Geschrei gegen den Frieden sind für mich der beste Beweis dafür, dass die Gegner dieses Friedens nicht nur unverbesserliche Illusionen hegten, sondern auf eine Provokation hereingefallen sind. Nein! Man muss der tödlichen Wahrheit gerade ins Antlitz schauen. Vor uns steht der Unterdrücker, der uns die Knie auf die Brust gesetzt hat, und wir werden mit allen Mitteln den revolutionären Kampf führen. Aber jetzt befinden wir uns in einer verzweifelten Lage, unser Bundesgenosse kann uns nicht gleich zu Hilfe eilen, das internationale Proletariat kann uns jetzt nicht helfen, wird uns aber zu Hilfe kommen. Diese revolutionäre Bewegung, die jetzt nicht die Möglichkeit hat, dem Feind militärischen Widerstand zu leisten, ist im Aufstieg begriffen und wird diesen Widerstand, wenn auch später, organisieren.

1 Der Aufruf N. Krylenkos an die Soldaten wurde am 16. (3.) Juni in der „Prawda" Nr. 72 in dem Artikel Lenins: „Der Bolschewismus und die ,Zersetzung' der Armee" nachgedruckt. Diesen Aufruf meint auch Lenin in dem Schlusswort zu seinem Referat über die Ratifikation des Friedensvertrags auf dem IV. Außerordentlichen Allrussischen Rätekongress.

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