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Wladimir I. Lenin 19180823 Rede in einer Volksversammlung im Polytechnischen Museum

Wladimir I. Lenin: Rede in einer Volksversammlung im

Polytechnischen Museum

23. August 1918

[Zum ersten Mal veröffentlicht im Jahre 1926 in der 1. Ausgabe der Sämtl. Werke, Bd. XX, II. Teil. Nach Sämtliche Werke, Band 23, Moskau 1940, S. 244-250]

Worin besteht unser Programm? In der Erkämpfung des Sozialismus. Im gegenwärtigen Augenblick des Weltkriegs gibt es keinen Ausweg aus diesem Kriege außer dem Siege des Sozialismus. Das begreifen jedoch viele nicht. Heute ist der größte Teil der Menschheit gegen das blutige Gemetzel, aber seinen unmittelbaren Zusammenhang mit der kapitalistischen Gesellschaftsordnung vermögen sie nicht zu begreifen. Die Gräuel des jetzigen Krieges springen sogar der Bourgeoisie in die Augen, doch nicht die Bourgeoisie ist dazu berufen, die Beendigung des Krieges mit dem Ende des kapitalistischen Systems zu verbinden … Dieser Grundgedanke aber unterschied immer die Bolschewiki und die revolutionären Sozialisten aller übrigen Länder von denen, die der Welt Frieden bescheren und dabei die kapitalistische Ordnung unangetastet lassen wollen.

Warum werden Kriege geführt? Wir wissen, dass die Mehrzahl der Kriege dynastischer Interessen wegen geführt und dynastische Kriege genannt wurden. Manchmal jedoch wurden Kriege für die Interessen der Unterdrückten geführt. So hat Spartakus einen Krieg zur Verteidigung der Sklavenklasse entfacht. Ebensolche Kriege wurden geführt in der Epoche der kolonialen Unterdrückung, die auch heute noch nicht aufgehört hat zu existieren, sowie in der Epoche der Sklaverei usw. Das waren gerechte Kriege, diese Kriege dürfen nicht verurteilt werden.

Wenn wir aber vom gegenwärtigen europäischen Krieg sprechen und ihn verurteilen, so nur deshalb, weil er von der Klasse der Unterdrücker geführt wird.

Welchem Zweck dient der gegenwärtige Krieg? Wollte man den Diplomaten aller Länder Glauben schenken, so wird der Krieg von Frankreich und England geführt, um die kleinen Völker gegen die Barbaren, die Hunnen – die Deutschen – zu schützen; von Deutschland wird er geführt gegen die barbarischen Kosaken, die das Kulturvolk Deutschlands bedrohen, und zur Verteidigung des Vaterlands gegen die angreifenden Feinde.

Uns ist aber bekannt, dass dieser Krieg von langer Hand vorbereitet wurde, dass er heranreifte und unvermeidlich war. Er war ebenso unvermeidlich, wie ein Krieg zwischen Amerika und Japan unvermeidlich ist. Worin besteht nun diese Unvermeidlichkeit?

Sie besteht darin, dass der Kapitalismus die Reichtümer der Erde in den Händen einzelner Staaten konzentrierte, dass er die Erde restlos aufgeteilt hat; eine weitere Teilung, eine weitere Bereicherung kann nur noch auf Kosten anderer, auf Kosten eines Staates im Interesse eines anderen erfolgen. Die Entscheidung dieser Frage kann ausschließlich durch Gewalt erfolgen – und deshalb wurde der Krieg zwischen den räuberischen Weltmächten unvermeidlich.

An der Spitze des gegenwärtigen Krieges standen bisher zwei Hauptfirmen – England und Deutschland. England stellte die stärkste Kolonialmacht dar. Trotzdem die Bevölkerung von England selbst nicht mehr als 40 Millionen beträgt, beläuft sich die Bevölkerung seiner Kolonien auf über 400 Millionen. Seit langem schon hat England mit dem Recht des Stärkeren fremde Kolonien annektiert, eine Menge Länder annektiert und aus deren Ausbeutung Nutzen gezogen. Aber ökonomisch ist es in den letzten 50 Jahren hinter Deutschland zurückgeblieben. Die Industrie Deutschlands hat die Industrie Englands überholt. Der mächtige Staatskapitalismus Deutschlands hat sich mit dem Bürokratismus vereint, und Deutschland hat den Rekord geschlagen.

Zwischen diesen beiden Giganten konnte der Streit um den Vorrang nicht anders als durch Gewalt entschieden werden.

Wenn England einst mit dem Recht des Stärkeren Holland, Portugal und anderen Staaten Länder entrissen hatte, so trat jetzt Deutschland auf den Plan und erklärte: jetzt bin ich an der Reihe, mich auf Kosten anderer zu bereichern.

Darin eben besteht die Frage: Kampf um die Aufteilung der Welt zwischen den Stärksten. Und weil beide Parteien Kapitalien von Hunderten von Millionen besitzen, ist der Kampf zwischen ihnen zu einem Weltkrieg geworden.

Wir wissen, wie viele heimliche Verbrechen in diesem Kriege begangen worden sind. Die von uns veröffentlichten Geheimverträge haben bewiesen, dass die Phrasen, welche die Tatsache des Krieges erklären sollten, Worte blieben und dass alle Staaten, auch Russland, durch schmutzige Verträge gebunden waren, sich auf Kosten der kleinen und schwachen Völkerschaften zu bereichern. Das Ergebnis: Wer stark war, hat sich noch mehr bereichert, wer schwach war, ist zertreten worden.

Die Schuld am Ausbruch des Krieges einzelnen Personen in die Schuhe zu schieben, geht nicht an; es ist falsch, den Königen und Zaren die Schuld an der Entstehung des gegenwärtigen Gemetzels zuzuschreiben – das Kapital hat es hervorgebracht. Der Kapitalismus hat sich in eine Sackgasse verrannt. Diese Sackgasse ist nichts anderes als der Imperialismus, der den Krieg zwischen den Konkurrenten in der ganzen Welt diktierte.

Größte Lüge war die Behauptung, der Krieg sei erklärt worden, um die kleinen Völkerschaften zu befreien. Die beiden Räuber stehen immer noch einander gegenüber und messen sich blutgierig, während es in ihrer nächsten Nähe nicht wenig zertretene kleine Völkerschaften gibt.

Wir aber sagen: aus dem imperialistischen Gemetzel gibt es keinen anderen Ausweg als den Bürgerkrieg.

Als wir 1914 davon sprachen, entgegnete man uns, das gleiche einer geraden Linie ins Leere, alle späteren Ereignisse jedoch bestätigten unsere Analyse. Im gegenwärtigen Augenblick sehen wir, dass die Generale des Chauvinismus ohne Armeen bleiben. Unlängst haben die Vaterlandsverteidiger in Frankreich, das am meisten unter dem Krieg gelitten und das auf die Losung der Vaterlandsverteidigung am empfindlichsten reagierte, denn der Feind stand schon vor den Toren von Paris – in diesem Land haben die Vaterlandsverteidiger Schiffbruch erlitten; freilich erlitt der Chauvinismus Schiffbruch dank solcher schwankenden Gestalten wie Longuet – aber immerhin, nicht das ist so wichtig. Wir wissen, dass in Russland in den ersten Tagen der Revolution die Macht in die Hände der Herren geriet, die Phrasen droschen, in ihren Taschen aber die gleichen Zarenverträge aufbewahrten.

Und wenn die Linksentwicklung der Parteien in Russland schneller vor sich ging, so hat das verfluchte Regime, das vor der Revolution bestand, sowie unsere Revolution von 1905 dazu beigetragen.

In Europa aber, wo ein kluger und umsichtiger Kapitalismus herrscht, der über eine mächtige und straffe Organisation verfügt, geht die Befreiung vom nationalistischen Taumel langsamer vor sich. Trotzdem kann man nicht umhin zu sehen, dass der imperialistische Krieg eines langsamen, qualvollen Todes stirbt.

Durchaus glaubwürdigen Nachrichten zufolge hat Zersetzung die deutsche Armee ergriffen. Sie hat begonnen, sich mit Spekulation zu beschäftigen. Anders kann es auch nicht sein. In dem Augenblick, wo der erwachende Soldat zu begreifen anfängt, dass einzig und allein um der Interessen der Bourgeoisie willen Verkrüppelung und Tod auf ihn harren, muss unbedingt Zersetzung in die Massen dringen.

Die französische Armee, die sich am längsten und standhaftesten hielt, hat auch gezeigt, dass ihr der Zersetzungsprozess nicht fremd ist. Das Verfahren gegen Malvy hat den Schleier, der auch über die Vorgänge in Frankreich gebreitet war, etwas gelüftet, und hat kundgetan, dass Tausende von Soldaten sich weigerten, an die Front zu gehen.

Das alles sind Vorboten ebensolcher Ereignisse, wie sie sich in Russland entwickelt haben. Nur werden uns die Kulturländer Bilder eines grausameren Bürgerkriegs bieten, als Russland es tat. Das bestätigt Finnland, das demokratischste unter allen Ländern Europas, ein Land, wo die Frau zum ersten Mal das Stimmrecht erhalten hat – dieses Land hat mit den Rotarmisten roh und erbarmungslos abgerechnet, und diese ergaben sich nicht leicht. Dieses Bild zeigt, was für ein grausames Geschick dieser Kulturländer harrt.

Ihr seht selbst, wie absurd die gegen die Bolschewiki erhobene Beschuldigung war, die Zersetzung der russischen Armee sei das Werk ihrer Hände gewesen.

Wir sind nur eine einzelne Abteilung, die etwas weiter vormarschiert ist als die anderen Arbeiterabteilungen, und das nicht etwa, weil sie besser ist als die anderen, sondern weil die dumme Politik unserer Bourgeoisie der Arbeiterklasse Russlands gestattet hat, ihr Joch rascher abzuschütteln. Indem wir jetzt für die sozialistische Gesellschaftsordnung in Russland kämpfen, kämpfen wir für den Sozialismus in der ganzen Welt. In allen Ländern, auf allen Arbeitermeetings, auf allen Arbeiterversammlungen ist jetzt nur von den Bolschewiki die Rede. Die Arbeiter kennen uns und wissen, dass wir gegenwärtig das Werk der ganzen Welt vollbringen, dass wir für sie arbeiten.

Während wir das Eigentum an Grund und Boden aufheben und die Betriebe und Banken nationalisieren, die sich augenblicklich damit beschäftigen, die Industrie zu organisieren, macht man uns von allen Seiten Vorhaltungen, dass wir eine Menge Fehler begehen. Gewiss, doch schaffen die Arbeiter selbst den Sozialismus, und welche Fehler wir auch immer machen sollten, – aus dieser Praxis lernen wir und bereiten den Boden vor für die Kunst, Revolutionen ohne Fehler zu machen.

Eben deshalb begegnen wir einem so tollen Hass! Eben deshalb tut es dem französischen Imperialismus nicht leid, Dutzende und Hunderte von Millionen für die Unterstützung der Konterrevolution hinauszuwerfen, denn sie verheißt Frankreich die Rückzahlung der Milliardenschulden, die von den russischen Arbeitern und Bauern annulliert worden sind.

Gegenwärtig vergnügt sich die ganze bürgerliche Presse damit, ihre Spalten mit Lügen anzufüllen, etwa der Art, dass der Rat der Volkskommissare nach Tula abgereist sei, dass man ihn aber vor zehn Tagen in Kronstadt gesehen habe usw., dass Moskau vor dem Fall stehe und dass die Sowjetbehörden geflohen seien.

Die gesamte Bourgeoisie, alle ehemaligen Romanows, alle Kapitalisten und Gutsbesitzer sind für die Tschechoslowaken, denn deren Revolte bringen sie in Zusammenhang mit der Möglichkeit eines Sturzes der Sowjetmacht. Die Alliierten wissen das und unternehmen einen der ernstesten Kämpfe. Es hat ihnen in Russland an einer Kerntruppe gefehlt, und diese Kerntruppe haben sie nun in den Tschechoslowaken gefunden. Deshalb darf man die Revolte der Tschechoslowaken nicht leicht nehmen. Diese Revolte hat eine Reihe von konterrevolutionären Aufständen nach sich gezogen; eine ganze Anzahl von kulakischen und weißgardistischen Revolten hat den letzten Seiten unserer Revolutionsgeschichte das Gepräge gegeben.

Die Lage der Sowjetmacht ist ernst, man darf davor die Augen nicht verschließen. Schaut jedoch um euch und die Gewissheit von unserem Siege wird euch unbedingt durchdringen.

Deutschland hat eine Reihe von Niederlagen erlitten, und es ist kein Geheimnis, dass diese Niederlagen das Resultat des „Verrats" der deutschen Soldaten sind; die französischen Soldaten haben sich im gefährlichsten Augenblick anlässlich der Verhaftung des Genossen Andrieu geweigert, an die Front zu gehen, so dass die Regierung ihn freilassen musste, damit die Truppen vormarschierten usw. usw.

Wir haben viele Opfer gebracht. Der Brester Frieden ist eine einzige schwere Wunde; wir haben auf die Revolution in Deutschland gewartet, aber damals war sie noch nicht ausgereift. Das geschieht jetzt, die Revolution kommt unbedingt und ist unausbleiblich. Aber nur ein Dummkopf kann fragen, wann die Revolution im Westen ausbrechen wird. Eine Revolution kann man nicht vorausberechnen, eine Revolution kann man nicht voraussagen, sie erscheint durch sich selbst. Und sie wächst heran und muss entflammen. Wusste etwa eine Woche vor der Februarrevolution irgend jemand, dass sie ausbrechen wird? Hat etwa in dem Augenblick, als der irrsinnige Pope das Volk zum Zarenschloss führte, irgend jemand daran gedacht, dass die Revolution von 1905 ausbrechen wird? Doch die Revolution wächst heran und muss unausbleiblich zur Wirklichkeit werden.

Und bis zum Beginn dieser Revolution müssen wir die Sowjetmacht behaupten, unsere Fehler müssen dem Proletariat des Westens, dem internationalen Sozialismus, als Lehre dienen. Die Rettung nicht allein der russischen, sondern auch der internationalen Revolution liegt an der tschechoslowakischen Front. Und wir haben auch schon Nachrichten, dass die Armee, die von den Generalen unaufhörlich verraten wurde, dass die Armee, die unendlich müde ist, dass diese Armee mit der Ankunft unserer Genossen, unserer Kommunisten und Arbeiter, zu siegen beginnt, dass sie im Kampfe mit der Weltbourgeoisie revolutionären Enthusiasmus zu bekunden beginnt.

Und wir haben den festen Glauben, dass der Sieg unser ist und dass wir durch unseren Sieg den Sozialismus behaupten werden.

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