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Wladimir I. Lenin 19181121 Wertvolle Geständnisse Pitirim Sorokins

Wladimir I. Lenin: Wertvolle Geständnisse Pitirim Sorokins

[„Prawda" Nr. 252. 21. November 1918. Gezeichnet: N. Lenin. Nach Sämtliche Werke, Band 23, Moskau 1940, S. 369-379]

Die „Prawda" brachte heute einen äußerst interessanten Brief Pitirim Sorokins, auf den man die besondere Aufmerksamkeit aller Kommunisten lenken muss. In diesem Brief, der in den „Iswestija Sewero-Dwinskowo Ispolnitelnowo Komiteta"1 veröffentlicht worden ist, gibt Pitirim Sorokin seinen Austritt aus der Partei der rechten Sozialrevolutionäre und die Niederlegung seines Mandats als Mitglied der Konstituierenden Versammlung bekannt. Die Beweggründe des Briefschreibers laufen darauf hinaus, dass er nicht nur für die anderen, sondern auch für sich selbst um Rettung bringende politische Rezepte in Verlegenheit ist und darum „auf jede Politik verzichtet".

Das abgelaufene Revolutionsjahr", schreibt Pitirim Sorokin, „hat mich die eine Wahrheit gelehrt: die Politiker können irren, die Politik kann gesellschaftlich nützlich aber auch gesellschaftlich schädlich sein; die Arbeit auf dem Gebiet der Wissenschaft und der Volksaufklärung dagegen ist immer nützlich, ist für das Volk immer notwendig…"

Unterschrieben ist der Brief: „Pitirim Sorokin. Privatdozent der Petersburger Universität und des Psycho-neurologischen Instituts, ehemaliges Mitglied der Konstituierenden Versammlung und ehemaliges Mitglied der Partei der Sozialrevolutionäre."

Dieser Brief verdient vor allem Beachtung als außerordentlich interessantes „menschliches Dokument". Nicht allzu oft begegnet man dieser Aufrichtigkeit und Geradheit, mit der P. Sorokin die Fehlerhaftigkeit seiner Politik eingesteht. Versuchen doch in den meisten Fällen die Politiker, die sich von der Unrichtigkeit der von ihnen verfolgten Linie überzeugt haben, ihre Wendung zu bemänteln, sie zu vertuschen, irgendwelche mehr oder minder weit abliegende Beweggründe „auszudenken" usw. Das offene und ehrliche Eingeständnis seines politischen Fehlers ist schon an und für sich ein bedeutsamer politischer Akt. Pitirim Sorokin hat Unrecht, wenn er schreibt, die Arbeit auf wissenschaftlichem Gebiet sei „immer nützlich". Denn Fehler gibt es auch auf diesem Gebiet; Beispiele einer beharrlichen Propaganda reaktionärer – sagen wir – philosophischer Ansichten durch Leute, die anerkanntermaßen nicht reaktionär sind, gibt es auch in der russischen Literatur. Anderseits, eine offene Erklärung eines prominenten Mannes, d. h. eines Mannes, der einen dem ganzen Volke bekannten und verantwortlichen politischen Posten innegehabt hat, dass er der Politik entsage, ist ebenfalls Politik. Das ehrliche Eingeständnis eines politischen Fehlers bringt vielen Leuten größten politischen Nutzen, wenn es sich um einen Fehler handelt, den ganze Parteien, die zu ihrer Zeit Einfluss auf die Massen besaßen, geteilt haben.

Die politische Bedeutung des Briefes Pitirim Sorokins ist namentlich im jetzigen Augenblick außerordentlich groß. Der Brief erteilt uns allen eine „Lektion", die man gut durchdenken und sich zu eigen machen muss.

Jedem Marxisten ist längst die Wahrheit bekannt, dass die entscheidenden Kräfte in jeder kapitalistischen Gesellschaft nur das Proletariat und die Bourgeoisie sein können, während alle zwischen diesen Klassen stehenden sozialen Elemente, die ökonomisch unter die Rubrik des Kleinbürgertums fallen, unvermeidlich zwischen diesen entscheidenden Kräften schwanken. Aber von der Anerkennung dieser Wahrheit in Büchern bis zu dem Vermögen, in den verwickelten Verhältnissen der praktischen Wirklichkeit die aus ihr sich ergebenden Schlussfolgerungen zu ziehen, ist ein Abstand von gewaltiger Ausdehnung.

Pitirim Sorokin ist der Vertreter einer außerordentlich breiten gesellschaftlichen und politischen Strömung, der menschewistisch-sozialrevolutionären. Dass das eine einzige Strömung ist, dass der Unterschied zwischen Menschewiki und Sozialrevolutionären vom Gesichtspunkt ihrer Stellungnahme zum Kampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat unwesentlich ist, das haben die Ereignisse der russischen Revolution seit dem Februar 1917 besonders überzeugend und besonders anschaulich bewiesen. Menschewiki und Sozialrevolutionäre sind Spielarten der kleinbürgerlichen Demokratie, das ist das ökonomische Wesen und die grundlegende politische Charakteristik dieser Strömung. Aus der Geschichte der fortgeschrittenen Länder ist bekannt, wie häufig diese Strömung sich in ihrer Jugend einen „sozialistischen" Anstrich gibt.

Es fragt sich, was hat die Vertreter dieser Strömung vor einigen Monaten so besonders heftig von den Bolschewiki, von der proletarischen Revolution abgestoßen und was ruft heute ihre Wendung von der Feindschaft zur Neutralität hervor? Es ist ganz offensichtlich, dass die Ursache der Wendung erstens der Zusammenbruch des deutschen Imperialismus gewesen ist, der im Zusammenhang steht mit der Revolution in Deutschland und in anderen Ländern sowie mit der Entlarvung des englisch-französischen Imperialismus; zum anderen die Entlarvung der bürgerlich-demokratischen Illusionen.

Verweilen wir bei der ersten Ursache. Der Patriotismus ist eins der tiefsten Gefühle, die durch das jahrhunderte- und jahrtausendelange Bestehen voneinander gesonderter Vaterländer eingewurzelt sind. Zu den besonders großen, man kann sagen, außerordentlichen Schwierigkeiten unserer proletarischen Revolution gehörte der Umstand, dass sie eine Etappe des schroffsten Auseinandergehens mit dem Patriotismus, die Etappe des Brester Friedens durchmachen musste. Der Gram, die Erbitterung und die wütende Empörung, die dieser Frieden hervorrief, sind begreiflich, und es versteht sich von selbst, dass wir Marxisten nur von der klassenbewussten Avantgarde des Proletariats Verständnis für die Wahrheit erwarten konnten, dass wir dem höheren Interesse der proletarischen Weltrevolution die größten nationalen Opfer bringen und bringen müssen. Woher sollten die nicht zum Marxismus gehörenden Ideologen und die breiten Massen der Werktätigen, die nicht zum Proletariat gehören, das eine lange Schule der Streiks und der Revolution durchgemacht hat, sowohl die feste Überzeugung vom Heranreifen dieser Revolution als auch die bedingungslose Hingabe an sie hernehmen? Im besten Falle erschien ihnen unsere Taktik als Phantasterei, als Fanatismus, als ein Abenteuer, als die Opferung der handgreiflichsten realen Interessen von Hunderten von Millionen des Volkes zugunsten einer abstrakten, utopischen oder zweifelhaften Hoffnung auf etwas, was in anderen Ländern eintreten werde. Und das Kleinbürgertum ist infolge seiner ökonomischen Stellung patriotischer sowohl im Vergleich zur Bourgeoisie als auch im Vergleich zum Proletariat.

Nun ist es so gekommen, wie wir gesagt haben.

Der deutsche Imperialismus, der der einzige Feind zu sein schien, ist zusammengebrochen. Die deutsche Revolution, die (um einen bekannten Ausdruck Plechanows zu gebrauchen) „halb Träumerei, halb Farce" zu sein schien, ist Tatsache geworden. Der englisch-französische Imperialismus, den die Phantasie der kleinbürgerlichen Demokraten als Freund der Demokratie, als Verteidiger der Unterdrückten zeichnete, hat sich in Wirklichkeit als eine Bestie entpuppt, die der deutschen Republik und den Völkern Österreichs Bedingungen aufgezwungen hat, die schlimmer sind, als es die Brester waren; als eine Bestie, die die Truppen der „freien" Republikaner, der Franzosen und der Amerikaner, für die Rolle von Gendarmen und Henkern, von Würgern der Unabhängigkeit und Freiheit der kleinen und schwachen Nationen verwendet. Die Weltgeschichte hat diesen Imperialismus mit schonungsloser Gründlichkeit und Offenheit entlarvt. Den russischen Patrioten, die von nichts außer den unmittelbaren (und im alten Sinne aufgefassten) Vorteilen ihres Vaterlandes wissen wollten, haben die Tatsachen der Weltgeschichte gezeigt, dass die Umwandlung unserer russischen Revolution in eine sozialistische kein Abenteuer, sondern eine Notwendigkeit war, weil es keine andere Wahl gab: der englisch-französische und amerikanische Imperialismus wird die Unabhängigkeit und Freiheit Russlands unvermeidlich abwürgen, wenn die sozialistische Weltrevolution, der Weltbolschewismus nicht siegt.

Tatsachen sind eine harte Sache, sagt ein englisches Sprichwort. Und wir mussten in den letzten Monaten Tatsachen erleben, die den größten Umschwung der ganzen Weltgeschichte bedeuten. Diese Tatsachen zwingen die kleinbürgerlichen Demokraten Russlands, trotz ihres Hasses gegen den Bolschewismus, den die Geschichte unseres innerparteilichen Kampfes großgezogen hat, von der Feindseligkeit gegen den Bolschewismus zunächst zur Neutralität und dann zu seiner Unterstützung überzugehen. Jene objektiven Bedingungen, die diese demokratischen Patrioten besonders schroff von uns abgestoßen haben, bestehen nicht mehr. Es sind solche internationale objektive Verhältnisse eingetreten, die sie zwingen, sich uns zuzuwenden. Die Wendung Pitirim Sorokins ist keineswegs ein Zufall, sondern ein Ausdruck der unvermeidlichen Wendung einer ganzen Klasse, der ganzen kleinbürgerlichen Demokratie. Der ist kein Marxist, der ist ein schlechter Sozialist, der das nicht in Betracht zu ziehen und auszunutzen versteht.

Weiter. Der Glaube an die universelle, alleinseligmachende Wirkung der „Demokratie" schlechthin, das Nichtverstehen dessen, dass diese Demokratie eine bürgerliche Demokratie ist, die in ihrer Nützlichkeit, in ihrer Notwendigkeit historisch begrenzt ist, ein solcher Glaube und ein solches Nichtverstehen hat sich in allen Ländern jahrhunderte- und jahrzehntelang gehalten, besonders zäh im Kleinbürgertum. Der Großbourgeois ist mit allen Wassern gewaschen, er weiß, dass die demokratische Republik wie jede andere Staatsform unter dem Kapitalismus nichts anderes ist als eine Maschine zur Unterdrückung des Proletariats. Der Großbourgeois weiß das aus seiner intimsten Bekanntschaft mit den wirklichen Führern und den zutiefst liegenden (und oft gerade deshalb verborgensten) Triebfedern einer jeden bürgerlichen Staatsmaschinerie. Der Kleinbürger ist infolge seiner ganzen ökonomischen Lage, seiner ganzen Lebensbedingungen weniger befähigt, sich diese Wahrheit anzueignen; er klammert sich vielmehr an die Illusion, als bedeute die demokratische Republik die „reine Demokratie", den „freien Volksstaat", die außerhalb der Klassen oder über den Klassen stehende Volksmacht, den reinen Ausdruck des Willens des ganzen Volkes und so weiter und dergleichen mehr. Die Zähigkeit dieser Vorurteile des kleinbürgerlichen Demokraten wird unvermeidlich dadurch hervorgerufen, dass er dem scharfen Klassenkampf, der Börse, der „wirklichen" Politik ferner steht, und es wäre absolut unmarxistisch zu erwarten, dass diese Vorurteile ausschließlich durch Propaganda binnen kurzer Zeit auszurotten wären.

Aber die Weltgeschichte stürmt jetzt mit einer so wilden Hast dahin und zerstört alles Gewohnte, alles Alte mit einem Hammer von so ungeheurer Wucht, durch Krisen von so unerhörter Schärfe, dass selbst die zähesten Vorurteile nicht standhalten. Bei einem „Demokraten schlechthin" entstand natürlicherweise und unvermeidlich der naive Glaube an die Konstituante, die naive Gegenüberstellung von „reiner Demokratie" und „proletarischer Diktatur", Aber das, was die „Konstituante-Anhänger" in Archangelsk und in Samara, in Sibirien und im Süden erlebt haben, musste selbst die zähesten Vorurteile unweigerlich zerstören. Die idealisierte demokratische Republik Wilsons hat sich in Wirklichkeit als eine Form des hemmungslosesten Imperialismus, der schamlosesten Unterdrückung und Erdrosselung der schwachen und kleinen Völker entpuppt. Der Durchschnitts„demokrat" schlechthin, der Menschewik und der Sozialrevolutionär, dachte: „Wozu so hoch hinaus, zu dem angeblich höchsten Staatstypus, zu so einer Sowjetmacht! Gott gebe uns eine gewöhnliche demokratische Republik!" Und natürlich hätte in einer „gewöhnlichen", verhältnismäßig friedlichen Zeit eine derartige „Hoffnung" jahrzehntelang vorgehalten.

Jetzt dagegen zeigen der Gang der Weltereignisse und die höchst grausamen Lehren des Bündnisses sämtlicher Monarchisten Russlands mit dem englisch-französischen und amerikanischen Imperialismus in der Praxis, dass die demokratische Republik eine bürgerlich-demokratische Republik ist, die vom Standpunkt der vom Imperialismus auf die Tagesordnung der Geschichte gestellten Fragen schon veraltet ist; – dass es keine andere Wahl gibt: entweder siegt in sämtlichen fortgeschrittenen Ländern der Welt die Sowjetmacht oder es siegt der reaktionärste, der brutalste englisch-amerikanische Imperialismus, der alle kleinen und schwachen Völker erdrosselt, die Reaktion in der ganzen Welt wiederherstellt und der glänzend gelernt hat, die Form der demokratischen Republik auszunutzen.

Entweder -– oder.

Ein Mittelding gibt es nicht. Noch ganz vor kurzem hat man diese Auffassung als blinden Fanatismus der Bolschewiki angesehen.

Aber gerade so ist es gekommen.

Dass Pitirim Sorokin sein Mandat als Mitglied der Konstituierenden Versammlung niedergelegt hat, ist kein Zufall, sondern ein Anzeichen der Wendung einer ganzen Klasse, der gesamten kleinbürgerlichen Demokratie. Eine Spaltung in ihrer Mitte ist unvermeidlich: ein Teil wird auf unsere Seite übergehen, ein Teil wird neutral bleiben, und ein Teil wird sich bewusst den monarchistischen Kadetten anschließen, die Russland an das englisch-amerikanische Kapital verkaufen, die danach trachten, die Revolution durch fremdländische Bajonette abzuwürgen. Diese Wendung in der menschewistischen und sozialrevolutionären Demokratie von der Feindschaft gegen den Bolschewismus zunächst zur Neutralität und dann zu seiner Unterstützung in Rechnung zu stellen und auszunutzen verstehen, ist eine der aktuellsten Aufgaben des gegenwärtigen Moments.

Jede Losung, die die Partei in die Massen wirft, hat die Eigenschaft zu erstarren, unlebendig zu werden, ihre Wirksamkeit für viele auch dann noch beizubehalten, wenn sich die Bedingungen, die diese Losung notwendig machten, geändert haben. Dieses Übel ist unvermeidlich, und wenn man nicht gelernt hat, es zu bekämpfen und zu besiegen, dann ist es unmöglich, eine richtige Politik der Partei zu gewährleisten. Jene Periode unserer proletarischen Revolution, da sie besonders schroff mit der menschewistischen und sozialrevolutionären Demokratie auseinanderging, war historisch notwendig; ohne schärfsten Kampf gegen diese Demokraten war unmöglich auszukommen, als sie ins Lager unserer Feinde hinüber wechselten und sich an die Wiederaufrichtung der bürgerlichen und imperialistischen demokratischen Republik machten. Nunmehr sind die Losungen dieses Kampfes durchweg erstarrt und verknöchert und hindern eine richtige Einschätzung und zweckentsprechende Ausnutzung des neuen Moments, da eine neue Wendung innerhalb dieser Demokratie begonnen hat, eine Wendung nach unserer Seite, eine Wendung, die nicht zufällig ist, sondern in den Bedingungen der gesamten internationalen Lage zutiefst wurzelt.

Es genügt nicht, diese Wendung zu unterstützen und den sich uns Zuwendenden freundschaftlich zu begegnen. Ein Politiker, der sich seiner Aufgaben bewusst ist, muss lernen, diese Wendung in den einzelnen Schichten und Gruppen der breiten kleinbürgerlichen demokratischen Masse hervorzurufen, wenn er sich überzeugt hat, dass für eine derartige Wendung ernsthafte und tiefliegende geschichtliche Ursachen vorliegen. Der revolutionäre Proletarier muss wissen, wer niederzuhalten ist und mit wem – wann und wie – man eine Verständigung zu schließen verstehen muss. Es wäre lächerlich und absurd, auf Terror und Unterdrückung gegenüber den Gutsbesitzern und Kapitalisten mitsamt ihren Trabanten, die Russland an die ausländischen „verbündeten" Imperialisten verkaufen, zu verzichten. Der Versuch, sie „zu überzeugen" und überhaupt „psychologisch zu beeinflussen" wäre eine Komödie. Aber ebenso absurd und lächerlich, wenn nicht noch absurder und lächerlicher wäre es, einzig und allein auf der Taktik der Unterdrückung und des Terrors gegen die kleinbürgerliche Demokratie zu beharren, wenn der Verlauf der Dinge sie zwingt, sich uns zuzuwenden.

Auf eine derartige Demokratie trifft das Proletariat aber allenthalben. Im Dorf ist es unsere Aufgabe, den Gutsbesitzer zu vernichten, den Widerstand des ausbeutenden und spekulierenden Kulaken zu brechen; fest und sicher stützen können wir uns dabei nur auf die Halbproletarier, auf die „Dorfarmut". Doch der Mittelbauer ist nicht unser Feind. Er hat geschwankt, er schwankt und wird schwanken; die Aufgabe, auf die Schwankenden einzuwirken ist nicht identisch mit der Aufgabe, den Ausbeuter niederzuwerfen und den aktiven Feind zu besiegen. Zu verstehen, eine Verständigung mit dem Mittelbauern zu erzielen – dabei keine Minute auf den Kampf gegen den Kulaken verzichten und sich nur auf die Dorfarmut fest und sicher stützen –, das ist die Aufgabe des Augenblicks, denn gerade jetzt ist es infolge der oben angeführten Ursachen unausbleiblich, dass sich die Mittelbauernschaft uns zuwendet.

Dasselbe gilt auch vom Heimgewerbetreibenden sowie vom Handwerker und von dem Arbeiter, der in kleinbürgerlichsten Verhältnissen steckt oder ausgesprochen kleinbürgerliche Ansichten bewahrt hat, gilt von vielen Angestellten, von den Offizieren und – insbesondere – von der Intelligenz überhaupt. Ohne Zweifel ist in unserer Partei mitunter zu merken, dass man nicht versteht, die Wendung in diesen Schichten auszunutzen, und zweifellos kann und muss dieses Nichtverstehen überwunden und in Verstehen verwandelt werden.

Wir haben in der gewaltigen Mehrheit der gewerkschaftlich organisierten Proletarier schon eine solide Stütze. Man muss verstehen, die am wenigsten proletarischen, die kleinbürgerlichsten Schichten der Werktätigen, die sich uns zuwenden, zu uns herüber zu ziehen, sie in die Gesamtorganisation einzureihen, sie der allgemeinen proletarischen Disziplin zu unterordnen. Hier ist die Losung des Augenblicks nicht der Kampf gegen sie, sondern ihre Heranziehung, die Fähigkeit, systematisch auf sie einzuwirken, die Schwankenden zu überzeugen, die Neutralen auszunutzen und jene, die sich von den „Konstituante-" oder „patriotisch-demokratischen" Illusionen frei gemacht haben, oder die erst ganz vor kurzem begonnen haben, sich von ihnen frei zu machen, durch das Milieu des proletarischen Masseneinflusses zu erziehen.

Wir haben in den werktätigen Massen schon eine hinreichend solide Stütze. Der VI. Sowjetkongress hat das besonders anschaulich gezeigt. Wir fürchten die bürgerlichen Intellektuellen nicht, und den Kampf gegen die böswilligen Saboteure und Weißgardisten unter ihnen werden wir keine Minute abschwächen. Aber die Losung des Augenblicks ist, es zu verstehen, die Wendung unter ihnen nach unserer Seite auszunutzen. Uns sind noch recht viele der schlimmsten Vertreter der bürgerlichen Intelligenz geblieben, die sich an die Sowjetmacht „angebiedert" haben: sie davon zu jagen, sie durch die Intellektuellen zu ersetzen, die uns noch gestern bewusst feindlich gegenüberstanden und sich heute bloß neutral verhalten, das ist eine der wichtigsten Aufgaben des jetzigen Augenblicks, ist die Aufgabe sämtlicher Sowjetfunktionäre, die mit der „Intelligenz" in Berührung kommen, die Aufgabe aller Agitatoren, Propagandisten und Organisatoren.

Es versteht sich, dass eine Verständigung mit dem Mittelbauern, mit dem menschewistischen Arbeiter von gestern, mit dem gestern noch sabotierenden Angestellten oder Intellektuellen Können erfordert, so wie eben jede politische Aktion in einer verwickelten und sich stürmisch verändernden Situation. Es handelt sich vor allem darum, sich nicht mit dem Können zufrieden zu geben, das unsere frühere Erfahrung in uns herausgearbeitet hat, sondern unbedingt weiter zu gehen, unbedingt mehr zu erstreben, unbedingt von leichteren zu schwierigeren Aufgaben überzugehen. Sonst ist überhaupt kein Fortschritt möglich, ist auch ein Fortschritt im sozialistischen Aufbau unmöglich.

Bei mir waren dieser Tage Vertreter des Kongresses der Bevollmächtigten der Kreditgenossenschaftler. Sie zeigten mir eine Resolution ihres Kongresses, die gegen die Verschmelzung der genossenschaftlichen Kreditbank mit der Volksbank der Republik gerichtet war. Ich sagte ihnen, dass ich für eine Verständigung mit den Mittelbauern einträte und selbst von dem Beginn einer Wendung der Genossenschaftler von der Feindschaft zur Neutralität in Bezug auf die Bolschewiki viel hielte; aber die Grundlage für eine Verständigung werde erst ihr Einverständnis mit der völligen Verschmelzung, namentlich der Bank, mit der einheitlichen Bank der Republik schaffen. Die Vertreter des Kongresses ersetzten hierauf ihre Resolution durch eine andere, setzten diese andere Resolution auf dem Kongress durch, in der sie alles, was gegen die Verschmelzung gerichtet war, gestrichen, aber aber den Plan eines besonderen „Kreditverbandes" der Genossenschaftler aufgestellt hatten, eines Verbandes, der sich von einer besonderen Bank praktisch nicht im Geringsten unterscheidet! Das war lächerlich. Mit dem Umfärben von Worten kann man selbstverständlich nur einen Narren abspeisen oder irreführen. Aber der „Misserfolg" eines dieser… „Versuche" wird unsere Politik nicht im Geringsten erschüttern; wir haben, unter Zurückweisung aller Versuche, die Linie der Sowjetmacht und des sozialistischen Sowjetaufbaus zu ändern, die Politik der Verständigung mit den Genossenschaftlern, mit der Mittelbauernschaft durchgeführt und werden sie durchführen. .

Die Schwankungen der kleinbürgerlichen Demokraten .sind unvermeidlich. Es genügten nur einige Siege der Tschechoslowaken, und diese Demokraten gerieten in Panik, säten Panik, liefen zu den „Siegern" über und waren bereit, ihnen unterwürfig zu begegnen. Selbstverständlich – wir dürfen das keine Minute vergessen – werden auch jetzt Teilerfolge, sagen wir, der englisch-amerikanisch-Krasnowschen Weißgardisten genügen, und ein Schwanken nach der anderen Seite würde beginnen, die Panik würde sich verstärken, die Fälle von Panikmacherei, von Verrat und Überlaufen auf die Seite der Imperialisten usw. usf. würden sich mehren.

Das wissen wir. Das werden wir nicht vergessen. Die von uns eroberte rein proletarische Grundlage der von den Halbproletariern unterstützten Sowjetmacht wird unveränderlich fest bleiben. Unser Heer wird nicht erzittern, unsere Armee nicht schwanken, – das wissen wir schon aus Erfahrung. Aber wenn unter den Massen der parteilosen, menschewistischen und sozialrevolutionären Demokratie die tiefst greifenden welthistorischen Veränderungen die unvermeidliche Wendung nach unserer Seite hervorrufen, dann müssen wir lernen und werden wir lernen, diese Wendung auszunutzen, sie zu unterstützen, sie in den entsprechenden Gruppen und Schichten hervorzurufen und alles Mögliche zu tun, um eine Verständigung mit diesen Elementen zu verwirklichen, um dadurch die Arbeit des sozialistischen Aufbaus zu erleichtern und die Bürde der qualvollen Zerrüttung, der Unwissenheit und der Unbeholfenheit zu vermindern, die den Sieg des Sozialismus verzögern.

1 „Nachrichten des Exekutivkomitees des Gebiets der Nördlichen Dwina", Der Übers.

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