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Wladimir I. Lenin 19200726 Bericht der Kommission für die nationale und die koloniale Frage

Wladimir I. Lenin: Bericht der Kommission für die nationale und

die koloniale Frage

auf dem 2. Kongress der Kommunistischen Internationale

26. Juli 19201

[Nach Sämtliche Werke, Band 25, Wien-Berlin 1930, S. 433-438]

Genossen, ich will mich lediglich auf eine kurze Einleitung beschränken. Dann wird Genosse Maring, der Sekretär unserer Kommission, euch einen ausführlichen Bericht erstatten über die Änderungen, die wir in den Thesen vorgenommen haben. Nach ihm wird Genosse Roy sprechen, der Ergänzungsanträge eingebracht hat. Unsere Kommission hat sowohl die ursprünglichen Thesen mit den Abänderungen als auch die Ergänzungsanträge einstimmig angenommen. Es ist uns also gelungen, in allen wichtigen Fragen volle Einmütigkeit zu erzielen. Jetzt möchte ich mir einige kurze Bemerkungen erlauben.

Erstens: was ist der wichtigste, der grundlegende Gedanke unserer Thesen? Die Unterscheidung zwischen unterdrückten und unterdrückenden Völkern, Wir heben diesen Unterschied hervor – im Gegensatz zur II. Internationale und zur bürgerlichen Demokratie. In der Epoche des Imperialismus ist es für das Proletariat und die Kommunistische Internationale besonders wichtig, die konkreten wirtschaftlichen Tatsachen festzustellen und bei der Lösung aller kolonialen und nationalen Fragen nicht von abstrakten Sätzen, sondern von konkreten Erscheinungen auszugehen.

Das charakteristische Merkmal des Imperialismus besteht darin, dass die ganze Welt – wie wir sehen – gegenwärtig sich aus einer großen Zahl von unterdrückten Nationen und einer winzigen Zahl von Unterdrückernationen zusammensetzt, die über kolossale Reichtümer und gewaltige militärische Kräfte verfügen. Die große Mehrheit der Bevölkerung unserer Erde, über eine Milliarde, wahrscheinlich 1¼ Milliarde, wenn wir die Bevölkerungszahl der Erde auf 1¾ Milliarden schätzen, d. h. ca. 70 Prozent, gehört zu den unterdrückten Völkern, die sich entweder in direkter kolonialer Abhängigkeit befinden oder koloniale Grenzstaaten sind, wie z. B. Persien, die Türkei, China, oder von den Armeen eines großen imperialistischen Staates besiegt worden und auf Grund der Friedensverträge von ihm in Abhängigkeit geraten sind. Dieser Gedanke der Unterscheidung, der Einteilung der Völker in Unterdrücker und Unterdrückte bildet den Leitgedanken der ganzen Thesen, nicht nur der ersten, die mit meiner Unterschrift erschienen und bereits früher veröffentlicht worden sind, sondern auch der Thesen des Genossen Roy. Diese sind hauptsächlich vom Standpunkt der Lage Indiens und anderer, von England unterdrückter, großer Völker abgefasst, und darin liegt ihre große Bedeutung für uns.

Der zweite Leitgedanke unserer Thesen besteht darin, dass in der heutigen Weltlage, nach dem imperialistischen Krieg, die gegenseitigen Beziehungen der Völker, das ganze Weltsystem der Staaten bestimmt wird durch den Kampf einer kleinen Gruppe imperialistischer Nationen gegen die Sowjetbewegung und die Sowjetstaaten, an deren Spitze Sowjetrussland steht. Wenn wir das außer acht lassen, so werden wir nicht imstande sein, auch nur eine einzige nationale oder koloniale Frage richtig zu stellen, selbst wenn es sich um einen ganz abgelegenen Winkel der Welt handelt. Nur wenn sich die Kommunistischen Parteien auf diesen Standpunkt stellen, können sie jede politische Frage der zivilisierten oder rückständigen Länder richtig stellen und eine Antwort darauf erteilen.

Drittens möchte ich die Frage der bürgerlich-demokratischen Bewegungen in den rückständigen Ländern besonders hervorheben, Gerade in dieser Frage ist es zu einigen Meinungsverschiedenheiten gekommen. Wir stritten darüber, ob es prinzipiell und theoretisch richtig sei, zu erklären, dass die Kommunistische Internationale und die Kommunistischen Parteien die bürgerlich-demokratische Bewegung in den rückständigen Ländern unterstützen müssen. Das Ergebnis dieser Diskussion war, dass wir einstimmig beschlossen, anstatt „bürgerlich-demokratische Bewegung“ den Ausdruck „national-revolutionäre Bewegung“ zu setzen. Es unterliegt nicht dem geringsten Zweifel, dass jede nationale Bewegung nur eine bürgerlich-demokratische sein kann, denn die Hauptmasse der Bevölkerung in den rückständigen Ländern besteht aus Bauern, die Vertreter der bürgerlich-kapitalistischen Verhältnisse sind. Es wäre eine Utopie, zu glauben, dass proletarische Parteien, wenn sie überhaupt in solchen Ländern entstehen können, imstande sein werden, eine kommunistische Taktik und eine kommunistische Politik in diesen rückständigen Ländern zu treiben, ohne eine bestimmte Stellung zur Bauernbewegung einzunehmen, ohne sie tatkräftig zu unterstützen. Hier ist der Einwand erhoben worden, dass jeder Unterschied zwischen der reformistischen und der revolutionären Bewegung verwischt wird, wenn wir von bürgerlich-demokratischer Bewegung sprechen. Dieser Unterschied aber ist in der letzten Zeit in den rückständigen und kolonialen Ländern mit aller Klarheit zutage getreten, denn die imperialistische Bourgeoisie bemüht sich nach Kräften, auch unter den unterdrückten Völkern eine reformistische Bewegung zu schaffen. Zwischen der Bourgeoisie der Ausbeuterländer und der Bourgeoisie der kolonialen Länder ist eine gewisse Annäherung erfolgt, so dass die Bourgeoisie der unterdrückten Länder sehr oft – ja, sogar in den meisten Fällen –, obwohl sie die nationalen Bewegungen unterstützt, im Einverständnis mit der imperialistischen Bourgeoisie, d. h. zusammen mit ihr, alle revolutionären Bewegungen und revolutionären Klassen bekämpft. In der Kommission ist das unwiderleglich bewiesen worden, und wir haben es deshalb für das einzig Richtige gehalten, diesen Unterschied zu berücksichtigen und fast überall die Worte „bürgerlich-demokratisch“ durch „national-revolutionär“ zu ersetzen. Der Sinn dieser Änderung besteht darin, dass wir als Kommunisten die bürgerlichen Freiheitsbewegungen in den kolonialen Ländern nur dann unterstützen müssen und werden, wenn diese Bewegungen wirklich revolutionär sind, wenn ihre Vertreter uns nicht hindern, die Bauernschaft und die breiten Massen der Ausgebeuteten in revolutionärem Geiste zu erziehen und zu organisieren. Sind aber diese Bedingungen nicht vorhanden, so müssen die Kommunisten in diesen Ländern die reformistische Bourgeoisie bekämpfen, zu der auch die Helden der II. Internationale gehören. In den kolonialen Ländern gibt es bereits reformistische Parteien, und manchmal bezeichnen sich ihre Vertreter als Sozialdemokraten und Sozialisten. Die Unterscheidung, von der wir gesprochen haben, ist nunmehr in allen Thesen durchgeführt, und deshalb glaube ich, dass unser Standpunkt jetzt viel genauer formuliert ist.

Ferner möchte ich mir noch eine Bemerkung über die Bauernräte erlauben. Die praktische Arbeit der russischen Kommunisten in den ehemaligen Kolonien des Zarismus, in so rückständigen Ländern, wie Turkestan u. a., hat uns vor die Frage gestellt, wie man die kommunistische Taktik und Politik in vorkapitalistischen Verhältnissen anwenden muss, denn das wichtigste Charakteristikum dieser Länder besteht darin, dass dort noch vorkapitalistische Verhältnisse herrschen. Deshalb kann dort von einer rein proletarischen Bewegung keine Rede sein. In diesen Ländern gibt es fast gar kein Industrieproletariat, Nichtsdestoweniger haben wir auch dort die Rolle des Führers übernommen und es tun müssen. Bei unserer Arbeit haben wir gesehen, dass in diesen Ländern gewaltige Hindernisse zu überwinden sind, aber die praktischen Ergebnisse unserer Arbeit haben uns auch gezeigt, dass es trotz dieser Schwierigkeiten möglich ist, auch dort, wo es fast kein Proletariat gibt, in den Massen das Streben nach selbständigem politischen Denken, nach selbständiger politischer Tätigkeit zu wecken. Für uns war diese Arbeit schwerer als für die Genossen der westeuropäischen Länder, denn das Proletariat in Russland hat mit dem Aufbau des Staates alle Hände voll zu tun. Es ist ganz klar, dass die Bauern, die in halbfeudaler Abhängigkeit leben, den Gedanken der Räteorganisation sehr gut begreifen und verwirklichen können. Es ist auch klar, dass die unterdrückten Massen, die nicht nur vom Handelskapital, sondern auch von den Feudalen und dem Staat mit feudalistischer Grundlage ausgebeutet werden, diese Waffe, diese Art der Organisation, auch unter ihren Verhältnissen anwenden können. Der Gedanke der Räteorganisation ist einfach und kann nicht nur auf proletarische, sondern auch auf bäuerliche, feudale und halbfeudale Verhältnisse angewandt werden. Unsere Erfahrungen auf diesem Gebiet sind vorläufig noch nicht sehr groß, aber die Debatten in der Kommission, an denen sich mehrere Vertreter der Kolonialländer beteiligten, haben uns unwiderleglich bewiesen, dass man in den Thesen der Kommunistischen Internationale sagen muss, dass die Bauernräte, die Räte, der Ausgebeuteten, nicht nur für kapitalistische Länder, sondern auch für Länder mit vorkapitalistischen Verhältnissen ein zweckmäßiges Mittel sind, und dass es unbedingte Pflicht der Kommunistischen Parteien und der ihnen sich anschließenden Gruppen ist, für Bauernräte, Räte der Werktätigen allüberall, in den rückständigen Ländern sowie in den Kolonien, Propaganda zu machen. Auch dort muss man versuchen, soweit es die Verhältnisse erlauben, Räte des werktätigen Volkes zu schaffen.

Hier eröffnet sich vor uns ein sehr interessantes und wichtiges Feld praktischer Arbeit. Zunächst ist unsere allgemeine Erfahrung in dieser Hinsicht noch nicht besonders groß, aber nach und nach werden wir immer mehr Material über diese Frage anhäufen. Es kann absolut keinen Streit darüber geben, dass das Proletariat der vorgeschrittenen Länder den rückständigen werktätigen Massen helfen kann und muss, und dass die Entwicklung der zurückgebliebenen Länder aus ihrem gegenwärtigen Stadium herauskommen kann, wenn das siegreiche Proletariat der Räterepubliken diesen Massen die Hand entgegenstrecken und sie unterstützen wird.

Über diese Frage hat es in der Kommission ziemlich lebhafte Debatten gegeben, nicht nur über die von mir unterzeichneten Thesen, sondern noch mehr über die Thesen des Genossen Roy, die er hier vertreten wird und zu denen einige Abänderungsanträge einstimmig angenommen worden sind.

Die Frage wurde folgendermaßen gestellt: Können wir die Behauptung als richtig anerkennen, dass das kapitalistische Entwicklungsstadium der Volkswirtschaft unvermeidlich sei für diejenigen rückständigen Völker, die sich jetzt befreien und unter denen wir jetzt, nach dem Krieg, eine fortschrittliche Bewegung beobachten? Diese Frage haben wir mit einem „Nein“ beantwortet. Wenn das siegreiche revolutionäre Proletariat unter ihnen planmäßig Propaganda treibt, und wenn die Räteregierungen ihnen mit allen ihren Mitteln zu Hilfe kommen, dann wird die Annahme falsch, dass das kapitalistische Stadium für die rückständigen Völker unvermeidlich sei. In allen Kolonien und rückständigen Ländern müssen wir nicht nur selbständige Kader von Kämpfern, Parteiorganisationen schaffen, nicht nur Propaganda treiben für die Organisierung von Bauernräten und sie den vorkapitalistischen Verhältnissen anzupassen suchen, sondern die Kommunistische Internationale muss auch die These aufstellen – und theoretisch begründen –, dass die rückständigen Länder mit Unterstützung des Proletariats der vorgeschrittensten Länder zur Sowjetordnung und dann über bestimmte Entwicklungsstufen zum Kommunismus kommen können, unter Vermeidung des kapitalistischen Entwicklungsstadiums.

Welche Mittel hierzu erforderlich sind, lässt sich nicht voraussagen. Das wird uns die Erfahrung zeigen. Es kann aber nicht bestritten werden, dass allen Werktätigen in den entlegensten Ländern der Rätegedanke vertraut ist, dass diese Organisationen, d. h. die Räte, den vorkapitalistischen Verhältnissen angepasst werden müssen und dass die Kommunistischen Parteien in der ganzen Welt sofort anfangen müssen, in dieser Richtung zu arbeiten.

Ich möchte noch darauf hinweisen, welche Bedeutung die revolutionäre Arbeit der Kommunistischen Parteien nicht nur in ihrem eigenen Lande hat, sondern auch unter den Truppen, mit deren Hilfe die Ausbeuternationen die Völker ihrer Kolonien in Unterwürfigkeit halten,

Genosse Quelch von der Britischen Sozialistischen Partei hat darüber in unserer Kommission gesprochen. Er hat darauf hingewiesen, dass der englische Durchschnittsarbeiter in der Unterstützung der Aufstände der geknechteten Völker gegen die englische Herrschaft Verrat erblicken würde. Es ist richtig, dass die chauvinistisch gestimmte Arbeiteraristokratie Englands und Amerikas die größte Gefahr für den Sozialismus und die stärkste Stütze der II. Internationale ist, dass wir hier den schlimmsten Verrat der Führer und der Arbeiter aus der bürgerlichen Internationale vor uns haben. Die II. Internationale hat sich ebenfalls mit der kolonialen Frage beschäftigt. Auch in dem Baseler Manifest wird ganz klar davon gesprochen. Die Parteien der II. Internationale gaben das Versprechen, revolutionär zu handeln, aber von einer wirklich revolutionären Arbeit und Unterstützung der ausgebeuteten und unterdrückten Völker bei ihren Aufständen gegen die Unterdrücker sehen wir bei den Parteien der II. Internationale nichts. Und auch bei den meisten Parteien, die aus der II. Internationale ausgetreten sind und sich der III. Internationale anschließen wollen, sehen wir, glaube ich, nichts davon. Das müssen wir vor aller Welt erklären. Das kann man nicht widerlegen. Wir werden sehen, ob man das versuchen wird.

Alle diese Erwägungen legten wir unseren Resolutionen zugrunde. Diese Resolutionen sind zweifellos allzu lang. Ich glaube jedoch, dass sie trotzdem von Nutzen sein und zur Entwicklung und Organisierung einer wirklich revolutionären Arbeit auf dem Gebiete der nationalen und kolonialen Frage beitragen werden. Das aber ist unsere wichtigste Aufgabe.

1 Die Arbeit der Kommission, die zur Behandlung der nationalen und kolonialen Frage eingesetzt worden war, ging unter der Leitung Lenins vor sich. An dieser Kommission arbeiteten eine Reihe von hervorragenden Vertretern aller Länder mit. Die Grundlage der Diskussion bildeten die Thesen Lenins, die am 14. Juni 1920 in der Nummer 11 der „Kommunistischen Internationale“ veröffentlicht worden waren. Die Kommission nahm einige unwesentliche Korrekturen am ursprünglichen Text der Thesen vor. Das Referat über die Arbeit der Kommission hielt Lenin in der 6. Plenarsitzung des Kongresses. Gegen die Thesen in ihrer Gesamtheit sprach nur Serrati, der in ihnen eine „große Gefahr für die Positionen des kommunistischen Proletariats“ sah. Die Thesen wurden mit den Abänderungsanträgen der Kommission vom 2. Kongress 2. Kongress der Kommunistischen Internationale einstimmig angenommen bei drei Stimmenthaltungen.

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