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Wladimir I. Lenin 19171010 Brief an I. T. Smilga

Wladimir I. Lenin: Brief an I. T. Smilga1

[Geschrieben am 10. Oktober (27. September) 1917 Zum ersten Mal veröffentlicht am 7. November 1925 in der „Prawda", Nr. 255 (3186). Nach Sämtliche Werke, Band 21, Wien-Berlin 1931, S. 293-297]

Ich benutze eine gute Gelegenheit, um mich mit Ihnen ausführlicher zu unterhalten.

1.

Die allgemeine politische Lage flößt mir große Unruhe ein. Der Petrograder Rat und die Bolschewiki haben der Regierung den Krieg erklärt. Aber die Regierung hat das Heer und bereitet sich systematisch vor (Kerenski ist im Hauptquartier, es ist klar, dass er sich mit den Kornilowisten über die Truppen zur Niederwerfung der Bolschewiki bespricht, und zwar dass er sich mit ihnen sachlich bespricht).

Was aber tun wir? Wir nehmen nur Resolutionen an. Wir verlieren Zeit, setzen „Termine" fest (am 20. Oktober findet der Rätekongress statt – ist es nicht lächerlich, die Sache so aufzuschieben? Ist es nicht lächerlich, sich darauf zu verlassen?). Eine systematische Arbeit, um ihre militärischen Kräfte für den Sturz Kerenskis vorzubereiten, betreiben die Bolschewiki nicht.

Die Ereignisse haben meine während der Demokratischen Beratung ausgesprochene Annahme vollkommen bestätigt, nämlich, dass die Partei den bewaffneten Aufstand auf die Tagesordnung setzen muss. Die Ereignisse zwingen dazu. Die Geschichte hat die militärische Frage jetzt zur wichtigsten politischen Frage gemacht. Ich fürchte, dass die Bolschewiki, die mit aktuellen „Tagesfragen", mit kleinen laufenden Fragen beschäftigt sind und die „hoffen", dass „die Welle Kerenski fortfegen wird", das vergessen. Eine solche Hoffnung ist naiv, das ist so, als wollte man sich auf ein „Vielleicht" verlassen. Handelt so die Partei des revolutionären Proletariats, dann kann es sich als ein Verbrechen erweisen.

Meines Erachtens muss man in der Partei für eine ernste Behandlung der Frage des bewaffneten Aufstands Propaganda machen – zu diesem Zweck müsste vorliegender Brief auf der Schreibmaschine abgeschrieben und den Petrograder und Moskauer Genossen zugestellt werden.

2.

Weiter über Ihre Rolle. Ich denke, das einzige, was wir ganz in Händen haben können und was eine wichtige militärische Rolle spielt, sind die finnländischen Truppen und die Baltische Flotte. Ich glaube, Sie müssten Ihren hohen Posten ausnutzen, alle kleinen Tagesarbeiten auf Ihre Gehilfen und Sekretäre abwälzen, keine Zeit an „Resolutionen" vergeuden, sondern die ganze Aufmerksamkeit der militärischen Vorbereitung der finnländischen Truppen und der Flotte für den bevorstehenden Sturz Kerenskis widmen. Es muss ein Geheimkomitee aus zuverlässigen Militärpersonen gebildet werden, und mit ihnen sind alle genauen Informationen über die Zusammensetzung und die Lage der Truppen bei Petrograd und in Petrograd, über den Transport der finnländischen Truppen nach Petrograd, über die Bewegung der Flotte usw. allseitig zu erörtern, alle diese Informationen muss man sammeln (und selbst nachprüfen).

Wir können uns sehr leicht als die Genarrten erweisen, wenn wir das nicht tun: mit ausgezeichneten Resolutionen und mit den Räten, aber ohne die Macht!! Ich denke, dass ihr die Möglichkeit habt, wirklich zuverlässige und kenntnisreiche Militärpersonen zu finden, nach Ino2 und in andere wichtige Orte zu fahren, die Sache zu erwägen und ernsthaft zu studieren, ohne euch auf die bei uns zu sehr zur Gewohnheit gewordenen prahlerischen allgemeinen Phrasen zu verlassen.

Dass wir auf keinen Fall den Abtransport der Truppen aus Finnland zulassen dürfen, ist klar. Es ist besser, aufs Ganze zu gehen, auf den Aufstand, auf die Ergreifung der Macht, um sie dem Rätekongress in die Hände zu legen. Ich lese heute in den Zeitungen, dass schon in zwei Wochen die Gefahr einer Truppenlandung gleich Null sein wird.3 Folglich haben wir nur ganz wenig Zeit zur Vorbereitung.

3.

Weiter. Die „Macht" in Finnland muss ausgenutzt werden für eine systematische Propaganda unter den Kosaken, die sich in Finnland befinden. Einen Teil von ihnen haben Kerenski und Konsorten absichtlich, aus Wiborg z. B., aus Angst vor der „Bolschewisierung" abtransportiert, und sie nach Ussikirko und Perkjarwi, zwischen Wiborg und Terijoki, in eine (vor den Bolschewiki) sichere Isolierung gebracht.4 Man muss alle Informationen über die Stellung der Kosaken studieren und die Entsendung von Agitatorentrupps aus den besten Kräften der Matrosen und Soldaten Finnlands zu ihnen organisieren. Das ist notwendig. Dasselbe muss mit Literatur geschehen.

4.

Weiter. Natürlich erhalten sowohl Matrosen wie Soldaten Urlaub. Man muss aus den aufs Land Beurlaubten Agitatorentrupps zusammensetzen, damit diese systematisch alle Gouvernements bereisen und auf dem Lande Agitation betreiben, und zwar sowohl im Allgemeinen als auch für die Konstituierende Versammlung. Ihre Lage ist ausschließlich gut, denn Sie können sofort beginnen, den Block mit den linken Sozialrevolutionären zu verwirklichen, der allein uns die Macht in Russland für die Dauer und die Mehrheit in der Konstituierenden Versammlung sichern kann. Solange man dort noch herum streitet, schließen Sie sofort bei sich einen solchen Block ab, organisieren Sie die Herausgabe von Flugblättern (stellen Sie fest, was Sie dafür und für ihren Transport nach Russland technisch machen können), und dann wird es notwendig sein, dass jede Agitatorengruppe für das Land aus mindestens zwei Leuten besteht: einem Bolschewik und einem linken Sozialrevolutionär. Auf dem Lande herrscht vorläufig die „Firma" der Sozialrevolutionäre, und man muss euer Glück ausnutzen (bei euch sind es linke Sozialrevolutionäre), um im Namen dieser Firma auf dem Lande einen Block der Bolschewiki mit den linken Sozialrevolutionären, der Bauern mit den Arbeitern und nicht mit den Kapitalisten zustande zu bringen

5.

Meines Erachtens muss zur richtigen Schulung der Geister sofort folgende Losung in Umlauf gesetzt werden: die Macht muss sofort in die Hände des Petrograder Rates übergehen, der sie dem Rätekongress übergeben wird. Denn wozu soll man noch drei Wochen des Krieges und der „Kornilowschen Vorbereitungen" Kerenskis abwarten.

Die Propagierung dieser Losung durch die Bolschewiki und die linken Sozialrevolutionäre in Finnland kann nur von Nutzen sein.

6.

Wenn ihr in Finnland an der Spitze der „Macht" steht, so fällt euch noch eine sehr wichtige, wenn auch bescheidene Aufgabe zu: den Transport von Literatur aus Schweden illegal zu organisieren. Tun wir das nicht, so ist alles Gerede über die „Internationale" eine Phrase. Das zu organisieren, ist vollkommen möglich: erstens durch Bildung einer eigenen Organisation aus Soldaten an der Grenze; zweitens, wenn das nicht möglich ist, dadurch, dass man regelmäßige Reisen wenn auch nur eines zuverlässigen Menschen an jenen Ort organisiert, an dem ich begonnen habe, den Transport zu organisieren, und zwar mit Hilfe des Mannes, bei dem ich vor dem Eintreffen in Helsingfors einen Tag gewohnt habe (Rowio kennt ihn). Vielleicht müsste man mit Geld etwas aushelfen. Das muss unbedingt gemacht werden!

7.

Ich denke, wir müssten uns treffen, um über diese Dinge zu sprechen. Sie würden nicht ganz einen Tag verlieren, wenn Sie kämen, wenn Sie aber nur kommen wollen, um mich zu sehen, so veranlassen Sie Rowio, bei Chuttunen telefonisch anzufragen, ob die „Schwester der Frau" Rowios (die „Schwester der Frau" sind Sie) die „Schwester" Chuttunens (die Schwester bin ich) sehen kann. Denn es kann sein, dass ich plötzlich abreisen muss.

Bestätigen Sie mir unbedingt den Empfang dieses Briefes (verbrennen Sie ihn) durch denselben Genossen, der diesen Brief Rowio übergeben wird und der bald zurückreist.

Für den Fall, dass ich lange hier bleiben sollte, müssen wir die Postverbindung organisieren: Sie könnten dabei behilflich sein, indem Sie den Eisenbahnangestellten die Briefe für den Wiborger Rat (Innenkuvert: für Chuttunen) übergeben.

8.

Schicken Sie mir durch denselben Genossen eine Bestätigung (möglichst formell: auf dem Formular des Gebietskomitees, mit der Unterschrift des Vorsitzenden, mit einem Stempel, entweder mit Maschinenschrift oder in sehr deutlicher Schrift) auf den Namen Konstantin Petrowitsch Iwanow, dass der Vorsitzende des Gebietskomitees für diesen Genossen bürgt, dass er alle Räte, sowohl den Wiborger Rat der Soldatendeputierten als auch die übrigen Räte bittet, ihm volles Vertrauen entgegenzubringen, ihm Hilfe und Unterstützung zu gewähren.

Ich brauche das für jeden Fall, denn möglich ist sowohl ein „Konflikt" wie eine „Begegnung".

9.

Besitzen Sie vielleicht das Moskauer Bändchen „Zur Revision des Parteiprogramms"5? Versuchen Sie, es bei irgend jemand in Helsingfors zu finden, und schicken Sie es mir durch denselben Genossen.

10.

Denken Sie daran, dass Rowio ein ausgezeichneter Mensch, aber ein Faulpelz ist. Man muss hinter ihm her sein und ihn zweimal am Tag erinnern. Sonst tut er es nicht.

Mit Gruß K. Iwanow

1 Den Brief an I. T. Smilga, der zu jener Zeit Vorsitzender des Gebietskomitees der Armee, der Flotte und der Arbeiter Finnlands (in Helsingfors) war, hat Lenin am 10. Oktober (27. September) 1917 in Wiborg geschrieben, wohin er von Helsingfors übersiedelt war, um im Zusammenhang mit dem neuen Anwachsen der revolutionären Welle Petrograd näher zu sein (über die Bestimmung des Datums des Briefes siehe unten).

Lenin riet Smilga, den Brief zu verbrennen. Smilga hob den Brief auf und entfernte nur aus konspirativen Gründen den Namen des Adressaten.

2 Das Fort Ino an der Finnländischen Küste des Finnischen Meerbusens war eine starke Festung, die ebenso wie Kronstadt die Zugänge nach Petrograd schützte. Im April 1918, während der Landung deutscher Truppen in Finnland, wurde das Fort auf Beschluss des Rates der Volkskommissare gesprengt, da das Territorium des Forts der Übergabe an Finnland unterlag.

3 Das Datum des Briefes Lenins an Smilga ist auf Grund folgender Worte Lenins genau festgestellt worden: „Ich lese heute in den Zeitungen, dass schon in zwei Wochen die Gefahr einer Truppenlandung gleich Null sein wird" (S. 294). Lenin meint augenscheinlich folgende Notiz in Nr. 138 der „Nowaja Schisn" vom 10. Oktober (27. September) in der Rubrik „Letzte Nachrichten": „In autoritativen Kreisen wird darauf hingewiesen, dass eine Landung deutscher Truppen in Finnland kaum möglich sei. Das Hinüberwerfen der Flotte aus Kiel nach Finnland müsste eine ungeheure Menge an Heizmaterial erfordern, über das Deutschland jedoch in diesem Augenblick nicht verfügt. In zwei Wochen wird jede Wahrscheinlichkeit einer Landung beseitigt sein, weil dann die Zeit verpasst sein wird, die für die Entwicklung dieser Operation notwendig ist."

Die Petrograder Zeitungen trafen in Wiborg am gleichen Tage ein.

4 Die von Lenin genannten Orte Ussikirko und Perkjarwi sind Eisenbahnstationen in Finnland auf der Linie Petrograd–Wiborg, Terijoki ist ein Sommeraufenthaltsort in Finnland in der Nähe Petrograds an derselben Eisenbahnlinie.

5 Die „Materialien zur Revision des Parteiprogramms" sind ein Sammelbuch mit Artikeln von Miljutin, Sokolnikow, Lomow und Smirnow, herausgegeben vom Moskauer Gebietsbüro der SDAPR (Bolschewiki), Moskau 1917. Ausführlicher darüber siehe den Artikel Lenins „Zur Revision des Parteiprogramms"

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