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Wladimir I. Lenin 19171000 Zur Revision des Parteiprogramms

Wladimir I. Lenin: Zur Revision des Parteiprogramms1

[Nach Sämtliche Werke, Band 21, Wien-Berlin 1931, S. 376-407]

Auf der Tagesordnung des vom Zentralkomitee zum 17. Oktober einberufenen außerordentlichen Parteitags der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (Bolschewiki) steht die Revision des Parteiprogramms. Bereits die Konferenz vom 24. bis 29. April hatte einen Beschluss über die Notwendigkeit einer Revision gefasst und in acht Punkten deren Richtung festgelegt. Dann erschien in Petrograd und Moskau2 je eine der Revision gewidmete Broschüre und in Nr. 4 der Moskauer Zeitschrift „Spartak" vom 10. August ein Artikel des Genossen N. I. Bucharin über dieses Thema.

Wir wollen die Erwägungen der Moskauer Genossen untersuchen.

I

Die Grundfrage bei der Revision des Parteiprogramms für die Bolschewiki, die sich alle darüber einig sind, dass eine „Charakteristik des Imperialismus und der Epoche der imperialistischen Kriege im Zusammenhang mit der herannahenden sozialistischen Revolution" gegeben werden muss (§ 1 der Resolution der Konferenz vom 24. bis 29. April), ist die Frage, wie das neue Programm abgefasst sein soll: ob das alte Programm ergänzt werden soll durch die Charakteristik des Imperialismus (diese Ansicht vertrat ich in der Petrograder Broschüre), oder ob der ganze Text des alten Programms umgearbeitet werden soll (dies war die Ansicht der auf der Aprilkonferenz gebildeten „Sektion" und der Moskauer Genossen). So steht vor allem die Frage für unsere Partei.

Wir haben zwei Entwürfe: der eine, von mir vorgelegte Entwurf ergänzt das alte Programm durch eine Charakteristik des Imperialismus. Der andere, von Genossen W. Sokolnikow vorgelegte und auf den Bemerkungen der Dreierkommission (gewählt von der auf der Aprilkonferenz gebildeten Sektion) fußende Entwurf arbeitet den ganzen allgemeinen Teil des Programms um.

Auch ich hatte Gelegenheit (in der erwähnten Broschüre, S. 11) meine Ansicht über die theoretische Unrichtigkeit des von der Sektion entworfenen Planes der Umarbeitung auszusprechen. Betrachten wir jetzt die Ausführung dieses Planes im Entwurf des Genossen Sokolnikow.

Genosse Sokolnikow teilt den ganzen allgemeinen Teil unseres Programms in zehn Abschnitte und versieht jeden Abschnitt oder jeden Absatz mit einer besonderen Nummer. Wir wollen diese Nummern beibehalten, um dem Leser die Auffindung der entsprechenden Stellen zu erleichtern.

Der erste Absatz des jetzigen Programms besteht aus zwei Sätzen. Der erste besagt, dass die Arbeiterbewegung durch die Entwicklung des Warenaustausches international geworden ist. Der zweite, dass die russische Sozialdemokratie sich als einen Teil der Weltarmee des Proletariats betrachtet. (Weiter ist im zweiten Absatz von dem gemeinsamen Endziel aller Sozialdemokraten die Rede.)

Genosse S. lässt den zweiten Satz unverändert, ersetzt aber den ersten durch einen neuen, indem er den Hinweis auf die Entwicklung des Warenaustausches ergänzt sowohl durch die „Kapitalausfuhr" wie durch den Übergang des proletarischen Kampfes in die „sozialistische Weltrevolution".

Das wird sofort unlogisch, er verwechselt die Themen, er bringt zwei Typen der Struktur des Programmes durcheinander. Eins von beiden: entweder man beginnt mit einer Charakteristik des Imperialismus als eines Ganzen, dann kann man nicht die „Kapitalausfuhr" allein herausreißen, und dann kann man nicht, wie es Genosse S. tut, die alte Analyse des „Entwicklungsgangs" der bürgerlichen Gesellschaft im zweiten Absatz stehen lassen. Oder man lässt den Typus der Programmstruktur unverändert, d. h. man erklärt zunächst, warum unsere Bewegung international geworden und welches ihr gemeinsames Endziel ist, wie der „Entwicklungsgang" der bürgerlichen Gesellschaft zu diesem Endziel führt.

Um das Unlogische, Inkonsequente der Programmstruktur des Genossen S. anschaulicher aufzuzeigen, führen wir den Anfang des alten Programms ungekürzt an:

Die Entwicklung des Warenaustausches hat eine so enge Verbindung Zwischen allen Völkern der zivilisierten Welt hergestellt, dass die große Befreiungsbewegung des Proletariats international werden musste und es bereits längst geworden ist."

Genosse S. ist hier mit zwei Dingen unzufrieden: 1. beschreibt das Programm, wenn es von der Entwicklung des Warenaustausches spricht, ein überholtes „Entwicklungsstadium", 2. hinter das Wort „zivilisierten" setzt Genosse S. ein Ausrufungszeichen und bemerkt, dass „die enge Verbindung zwischen der Metropole und der Kolonie" bei uns „nicht vorgesehen ist"!

Werden Protektionismus, Zollkriege und imperialistische Kriege das Band der proletarischen Bewegung zerreißen?" fragt Genosse S. und antwortet: „Wenn wir dem Text unseres Programms glauben, dann ja. Denn sie zerreißen die durch den Warenaustausch geknüpften Verbindungen."

Eine recht sonderbare Kritik. Weder der Protektionismus noch die Zollkriege „zerreißen" den Warenaustausch, sie verändern oder zerreißen ihn nur an einer Stelle, um ihn an anderer Stelle fortzusetzen. Der jetzige Krieg hat den Warenaustausch nicht zerrissen, sondern nur an einigen Stellen erschwert, auf andere Stellen verlegt, aber als Weltzusammenhang bestehen lassen. Der anschaulichste Beweis dafür sind die Wechselkurse. Dies erstens. Zweitens lesen wir im Entwurf des Genossen S.: „Die Entwicklung der Produktivkräfte, die auf der Basis des Warenaustausches und der Kapitalausfuhr alle Völker in die Weltwirtschaft einbezieht" usw. Der imperialistische Krieg unterbricht (stellenweise und vorübergehend) die Kapitalausfuhr ebenso wie den Warenaustausch, die „Kritik" des Genossen S. trifft also auch ihn selbst.

Drittens war (im alten Programm) davon die Rede, warum die Arbeiterbewegung „schon längst" international geworden ist. Es unterliegt keinem Zweifel, dass sie das schon vor der Kapitalausfuhr als dem höchsten Stadium des Kapitalismus geworden war.

Schlussfolgerung: Genosse S. hat einen Brocken aus der Definition des Imperialismus (Kapitalausfuhr) offenbar an falscher Stelle eingeflickt.

Ferner gefallen die Worte „zivilisierte Welt" dem Genossen S. nicht, denn sie deuten nach seiner Meinung etwas Friedliches, Harmonisches an und vergessen die Kolonien.

Das Gegenteil ist richtig, indem es von der „zivilisierten Welt" spricht, weist das Programm auf das Disharmonische, auf die Existenz nicht zivilisierter Länder hin (das ist doch eine Tatsache), während es im Entwurf des Genossen S. viel harmonischer zugeht, weil dort einfach von der „Einbeziehung aller Völker in die Weltwirtschaft" die Rede ist!! Als ob alle Völker gleichmäßig in die Weltwirtschaft einbezogen wären! Als ob nicht Beziehungen der Hörigkeit zwischen den „zivilisierten" und nicht zivilisierten Völkern gerade auf dem Boden der „Einbeziehung in die Weltwirtschaft" bestünden.

Bei dem Genossen S. hat sich geradezu eine Verschlechterung des alten Programms bei beiden von ihm berührten Themen ergeben. Die Internationalität ist bei ihm schwächer betont. Es ist uns aber sehr wichtig, darauf hinzuweisen, dass diese schon vor langer Zeit, lange vor der Epoche des Finanzkapitals entstanden ist. Auch ergibt sich bei ihm in der Frage des Verhältnisses zu den Kolonien mehr „Harmonie". Es steht uns aber schlecht an, die unleugbare Tatsache zu verschweigen, dass die Arbeiterbewegung vorläufig leider nur die zivilisierten Länder erfasst hat.

Ich wäre gern bereit gewesen, dem Genossen S. zuzustimmen, wenn er einen klareren Hinweis auf die Ausbeutung der Kolonien gefordert hätte. Das ist wirklich ein wichtiger Bestandteil des Begriffes „Imperialismus". Aber gerade in dem vom Genossen S. vorgeschlagenen ersten Absatz finden wir keinen einzigen diesbezüglichen Hinweis. Die verschiedenen Bestandteile des Begriffes Imperialismus sind bei ihm an verschiedenen Stellen verstreut, zum Schaden sowohl der Klarheit wie der Konsequenz.

Wir werden gleich sehen, wie der ganze Entwurf des Genossen S. an einer solchen Inkonsequenz und Zerrissenheit leidet.

II

Der Leser werfe einen allgemeinen Blick auf den Zusammenhang und die Folgerichtigkeit der Themen in den verschiedenen Absätzen des alten Programms (Die Nummerierung der Absätze ist die des Genossen S.):

1. Die Arbeiterbewegung ist schon längst international geworden. Wir sind einer ihrer Teile.

2. Das Endziel der Bewegung wird durch den Gang der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft bestimmt. Der Ausgangspunkt ist das Privateigentum an den Produktionsmitteln und die Besitzlosigkeit der Proletarier.

3. Wachstum des Kapitalismus. Verdrängung der Kleinproduzenten.

4. Steigende Ausbeutung (Frauenarbeit, Reservearmee usw.).

5. Krisen.

6. Fortschritt der Technik und Wachsen der Ungleichheit.

7. Zunehmender Kampf der Proletarier. Die materiellen Bedingungen der Ersetzung des Kapitalismus durch den Sozialismus.

8. Soziale Revolution des Proletariats.

9. Diktatur des Proletariats als deren Bedingung.

10. Die Aufgabe der Partei: den Kampf des Proletariats für die soziale Revolution zu führen. Ich füge noch ein Thema hinzu:

11. Der Kapitalismus hat sich zum höchsten Stadium (Imperialismus) entwickelt, und jetzt hat die Ära der proletarischen Revolutionen begonnen.

Man vergleiche damit die Reihenfolge der Themen – nicht einzelner Textkorrekturen, sondern gerade der Themen – im Entwürfe des Genossen S. wie auch die Themen seiner Zusätze über den Imperialismus:

1. Die Arbeiterbewegung ist international. Wir sind einer ihrer Teile. (Eingefügt ist: Kapitalausfuhr, Weltwirtschaft, Übergang des Kampfes in die Weltrevolution d. h. ein Brocken aus der Definition des Imperialismus ist eingefügt.)

2. Das Endziel der Bewegung wird durch den Gang der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft bestimmt. Ausgangspunkt: das Privateigentum an den Produktionsmitteln und die Besitzlosigkeit der Proletarier. (In der Mitte ist eingefügt: die allmächtigen Banken und Syndikate, monopolistische Zusammenschlüsse im Weltausmaß, d. h. ein zweiter Brocken aus der Definition des Imperialismus ist eingefügt.)

3. Wachstum des Kapitalismus. Verdrängung der Kleinproduzenten.

4. Steigende Ausbeutung (Frauenarmee, Reservearmee, ausländische Arbeiter usw.).

5. Krisen und Kriege. Noch ein Brocken der Definition des Imperialismus ist eingefügt: „Versuche einer Aufteilung der Welt"; die monopolistischen Verbände und der Kapitalexport sind noch einmal wiederholt; dem Finanzkapital ist in Klammern die Erläuterung hinzugefügt: „Produkt der Verschmelzung des Bankkapitals mit dem Industriekapital."

6. Fortschritt der Technik und Wachsen der Ungleichheit. Noch ein Brocken aus der Definition des Imperialismus ist eingefügt: Teuerung, Militarismus. Die monopolistischen Verbände werden noch einmal wiederholt.

7. Zunehmender Kampf der Proletarier. Die materiellen Bedingungen der Ersetzung des Kapitalismus durch den Sozialismus. In der Mitte ein Zusatz, der noch einmal wiederholt: „Monopolistischer Kapitalismus", und der darauf hinweist, dass die Banken und Syndikate einen Apparat der gesellschaftlichen Regulierung vorbereiten usw.

8. Soziale Revolution des Proletariats. (Zusatz, dass sie der Herrschaft des Finanzkapitals ein Ende bereiten wird.)

9. Diktatur des Proletariats als ihre Bedingung.

10. Aufgabe der Partei: den Kampf des Proletariats für die soziale Revolution zu führen. (In der Mitte der Zusatz, dass die soziale Revolution auf der Tagesordnung stehe.)

Mir scheint, aus dieser Gegenüberstellung geht klar hervor, dass ein „mechanischer" Charakter der Zusätze (den einige Genossen befürchteten) gerade im Entwurf des Genossen S. zu finden ist.

Verschiedene Brocken der Definition des Imperialismus sind ganz inkonsequent, wie ein Mosaik, an den verschiedenen Punkten verstreut. Eine allgemeine und einheitliche Vorstellung vom Imperialismus wird nicht gewonnen. Es gibt übermäßig viel Wiederholungen. Die alte Disposition ist beibehalten. Der alte allgemeine Plan des Programms ist beibehalten: aufzuzeigen, dass das „Endziel" der Bewegung „bestimmt wird" durch den Charakter der modernen bürgerlichen Gesellschaft und durch den Gang ihrer Entwicklung. Aber gerade aus dem „Gang der Entwicklung" ist nichts geworden; nur Brocken der Definition des Imperialismus sind dabei herausgekommen, die meist an falscher Stelle stehen.

Nehmen wir den zweiten Absatz. Genosse S. lässt hier Anfang und Ende unverändert. Der Anfang besagt, dass die Produktionsmittel einer kleinen Anzahl von Leuten gehören, und das Ende, dass die Mehrheit der Bevölkerung aus Proletariern und Halbproletariern besteht. In der Mitte fügt Genosse S. einen besonderen Satz ein, wonach „im letzten Vierteljahrhundert die direkte oder indirekte Verfügung über die kapitalistisch organisierte Produktion in die Hände der allmächtigen Banken, Trusts usw. übergangen ist" usw.

Das steht vor dem Satz über die Verdrängung der Kleinbetriebe durch die Großbetriebe!! Denn dieser steht erst im dritten Absatz. Aber die Trusts sind ja die höchste und späteste Erscheinungsform gerade dieses Prozesses der Verdrängung der Kleinbetriebe durch die Großbetriebe. Geht es denn an, zuerst von der Entstehung der Trusts und erst nachher von der Verdrängung der Kleinbetriebe durch die Großbetriebe zu sprechen? Wird dadurch die logische Aufeinanderfolge nicht verletzt? Denn woher kommen denn die Trusts? Ergibt sich nicht eine theoretische Unrichtigkeit? Wie und warum ist die Verfügung in ihre Hände „übergegangen". Man kann das nicht verstehen, ohne sich vorher über die Verdrängung der Kleinbetriebe durch die Großbetriebe klar geworden zu sein.

Nehmen wir den dritten Absatz. Sein Thema ist die Verdrängung der Kleinbetriebe durch die Großbetriebe. Auch hier lässt Genosse S. den Anfang (dass die Bedeutung der Großbetriebe zunimmt) und das Ende (die Kleinproduzenten werden verdrängt) unberührt und fügt in der Mitte hinzu, dass die Großbetriebe „sich zu gigantischen Organismen verschmelzen, die eine ganze Reihe aufeinanderfolgender Stufen der Produktion und Zirkulation vereinigen". Aber dieser Zusatz ist bereits einem anderen Thema gewidmet, und zwar: der Konzentration der Produktionsmittel und der Vergesellschaftung der Arbeit durch den Kapitalismus, der Schaffung der materiellen Voraussetzungen für die Ablösung des Kapitalismus durch den Sozialismus. Im alten Programm wird dieses Thema erst im siebenten Absatz behandelt.

Genosse S. behält diesen allgemeinen Plan bei. Auch er spricht erst im siebenten Absatz von den materiellen Voraussetzungen der Ablösung des Kapitalismus durch den Sozialismus. Auch er lässt in diesem siebenten Absatz den Hinweis auf die Konzentration der Produktionsmittel und auf die Vergesellschaftung der Arbeit stehen.

Das Ergebnis ist, dass ein Brocken aus dem Hinweis auf die Konzentration mehrere Paragraphen vor dem allgemeinen, zusammenfassenden, einheitlichen Paragraphen, der speziell der Konzentration gewidmet ist, eingefügt wurde. Das ist der Gipfel der Unlogik und ist nur dazu angetan, den breiten Massen das Verständnis für unser Programm zu erschweren.

III

Den fünften Absatz des Programms, der von den Krisen handelt, unterzieht Genosse S. einer allgemeinen Umarbeitung. Er findet, dass das alte Programm „der Volkstümlichkeit zuliebe theoretisch sündigt" und „von der Krisentheorie Marxens abweicht",

Genosse S. ist der Meinung, dass das im alten Programm gebrauchte Wort „Überproduktion" „zur Grundlage der Erklärung" der Krisen gemacht wird und dass „eine solche Ansicht eher der Theorie von Rodbertus entspricht, der in der Erklärung der Krisen von dem ungenügenden Konsum der Arbeiterklasse ausgeht".

Ein Vergleich des alten Textes mit dem von Genossen S. vorgeschlagenen neuen lässt leicht erkennen, wie außerordentlich unglücklich dieses Suchen nach einer theoretischen Ketzerei, wie sehr an den Haaren herbeigezogen hier Rodbertus ist.

Im alten Text wird nach dem Hinweis (im Absatz 4) auf den „technischen Fortschritt", auf die Erhöhung des Grades der Ausbeutung der Arbeiter, auf das relative Sinken des Konsums der Arbeiter gesagt:

Eine solche Lage der Dinge innerhalb der bürgerlichen Länder usw. gestaltet den Absatz der Waren, die in stets wachsenden Mengen erzeugt werden, immer schwieriger. Die Überproduktion, die sich in Krisen und Perioden industriellen Stillstands äußert, ist die unvermeidliche Folge…"

Es ist klar, dass hier die Überproduktion keineswegs „die Grundlage der Erklärung" bildet, sondern dass der Ursprung der Krisen und der Stilllstandsperioden nur beschrieben wird. Im Entwurf des Genossen S. lesen wir:

Die nur auf die Profitjägerei gerichtete Entwicklung der Produktivkräfte, die sich in diesen widerspruchsvollen Formen, in denen die Produktionsbedingungen mit den Konsumtionsbedingungen, die Bedingungen der Realisierung des Kapitals mit den Bedingungen seiner Akkumulation aufeinanderstoßen, vollzieht, führt unvermeidlich zu scharfen Industriekrisen und Depressionen, was eine Stockung im Absatz der in stets wachsender Menge anarchisch produzierten Waren bedeutet."

Genosse S. hat dasselbe gesagt, denn eine „Stockung im Absatz der in „wachsender Menge" produzierten Waren ist eben Überproduktion. Genosse S. brauchte dieses in keiner Hinsicht falsche Wort nicht zu fürchten. Auch irrt er sich, wenn er schreibt, dass man anstelle von „Überproduktion" mit „demselben oder sogar noch mehr Recht Unterproduktion setzen könnte."

Man versuche einmal, „die Stockung im Absatz" der „in ständig wachsender Menge produzierten Waren" „Unterproduktion" zu nennen. Das wird schwerlich gelingen.

Der Rodbertusianismus besteht keineswegs in dem Gebrauch des Wortes „Überproduktion" (das einzig und allein einen der tiefsten Widersprüche des Kapitalismus genau beschreibt), sondern in der Erklärung der Krisen ausschließlich aus dem ungenügenden Konsum der Arbeiterklasse. Das alte Programm aber leitet die Krisen nicht davon ab. Es beruft sich auf eine solche „Lage der Dinge innerhalb der bürgerlichen Länder", wie sie vorher, im vorhergehenden Absatz, gerade geschildert wird und die im „technischen Fortschritt" und in der „relativen Verringerung des Bedarfs an lebendiger Arbeitskraft" besteht. Daneben spricht das alte Programm noch von der „sich ständig verschärfenden Rivalität auf dem Weltmarkte."

Damit ist gerade das Grundlegende über den Widerspruch zwischen den Bedingungen der Akkumulation und den Bedingungen der Realisation gesagt, und zwar ist es viel klarer gesagt. Die Theorie wurde hier nicht, wie dies Genosse S. irrtümlich glaubt, „der Volkstümlichkeit zuliebe verraten", sondern klar und volkstümlich dargelegt. Das ist ein Vorzug.

Über Krisen kann man natürlich Bände schreiben, man kann eine konkretere Analyse der Bedingungen der Akkumulation geben, man kann von der Rolle der Produktionsmittel sprechen, von dem Austausch des Mehrwerts und des variablen Kapitals in den Produktionsmitteln gegen das konstante Kapital in den Konsumtionsmitteln, von der Entwertung des konstanten Kapitals durch neue Erfindungen usw. usw. Aber das versucht ja auch Genosse S. nicht!! Seine angebliche Verbesserung des Programms besteht nur in Folgendem:

1. Er lässt den Übergang von Absatz 4 zu Absatz 5, von dem Hinweis auf den technischen Fortschritt usw. zu den Krisen bestehen, schwächt aber den Zusammenhang zwischen den beiden Absätzen ab, indem er die Worte „eine solche Lage der Dinge" streicht.

2. Er fügt theoretisch klingende Phrasen über den Zusammenstoß zwischen Produktionsbedingungen und Konsumtionsbedingungen, zwischen den Bedingungen der Realisierung und den Bedingungen der Akkumulation hinzu, Phrasen, die zwar nichts Falsches enthalten, aber keine neuen Gedanken bringen, denn der vorhergehende Absatz sagt das Grundlegende gerade zu dieser Frage klarer.

3. Er fügt die „Profitjägerei" hinzu, einen Ausdruck, der in ein Programm wenig passt und der hier wohl gerade „der Volkstümlichkeit zuliebe" gebraucht wird, denn derselbe Gedanke ist bereits mehrfach zum Ausdruck gekommen, sowohl in den Worten über die „Bedingungen der Realisierung" wie in den Worten über die „Waren"-Produktion usw.

4. Er ersetzt das Wort „Stillstand" durch „Depression"; eine unglückliche Änderung.

5. Er fügt dem alten Text das Wort „anarchisch" hinzu („in stets wachsenden Mengen anarchisch produzierten Waren"). Dieser Zusatz ist theoretisch unrichtig, denn gerade die „Anarchie" oder die „Planlosigkeit", wenn man den im Entwurf des Erfurter Programms gebrauchten und von Engels kritisierten Ausdruck nehmen will, charakterisiert die Trusts* nicht. Bei Genossen S. heißt es folgendermaßen:

„ … Die Waren werden in stets wachsenden Mengen anarchisch produziert. Die Versuche der kapitalistischen Verbände (Trusts usw.), durch Einschränkung der Produktion die Krisen zu beseitigen, leiden Schiffbruch" usw.----

Aber die Waren werden von den Trusts eben nicht anarchisch, sondern auf Grund von Berechnungen produziert. Die Trusts „beschränken" nicht nur die Produktion. Versuche zur Beseitigung der Krisen machen sie nicht, solche „Versuche" der Trusts kann es nicht geben. Bei Genossen S. gibt es eine Reihe von Ungenauigkeiten. Man müsste sagen: obwohl die Trusts die Waren nicht anarchisch, sondern auf Grund von Berechnungen produzieren, sind die Krisen doch nicht zu beseitigen infolge der oben aufgezeigten Eigenschaften des Kapitalismus, die auch bei den Trusts fortbestehen. Und wenn die Trusts in den Perioden des größten Aufschwungs und der Spekulation die Produktion einschränken, um sich nicht zu „übernehmen", so können sie damit im besten Falle die größten Unternehmen vor Schaden bewahren, Krisen wird es aber trotzdem geben.

Wenn wir alles über die Krisen Gesagte zusammenfassen, kommen wir zu dem Schluss, dass der Entwurf des Genossen S. keine Verbesserung des alten Programms bringt. Im Gegenteil, der neue Entwurf enthält Ungenauigkeiten. Die Notwendigkeit einer Korrektur des alten Textes ist unbewiesen geblieben.

IV

In der Frage der Kriege imperialistischen Charakters sündigt der Entwurf des Genossen S. in zwei Hinsichten durch theoretische Unrichtigkeit.

Erstens gibt er keine Wertung des gegebenen, des jetzigen Krieges. Er sagt, die imperialistische Epoche erzeuge imperialistische Kriege. Das ist richtig und musste natürlich im Programm gesagt werden. Aber es ist zu wenig. Es muss außerdem noch unbedingt gesagt werden, dass gerade der jetzige Krieg 1914–1917 ein imperialistischer Krieg ist. Die deutsche Spartakusgruppe hat in ihren in deutscher Sprache im Jahre 1915 erschienenen „Thesen" die Behauptung aufgestellt, dass es in der Ära des Imperialismus keine nationalen Kriege geben könne.3 Das ist eine offenkundig unrichtige Behauptung, denn der Imperialismus verschärft die nationale Unterdrückung, folglich sind nationale Aufstände und nationale Kriege (jeder Versuch, einen Unterschied zwischen Aufständen und Kriegen zu konstruieren, wäre zum Misserfolg verurteilt) nicht nur möglich und wahrscheinlich, sondern geradezu unausbleiblich.

Der Marxismus fordert eine unbedingt genaue Wertung jedes einzelnen Krieges auf Grund konkreter Tatsachen. Es ist sowohl theoretisch unrichtig wie auch praktisch unzulässig, die Frage des gegenwärtigen Krieges mit allgemeinen Redensarten abzutun. Denn hinter solchen Redensarten verstecken sich die Opportunisten, die sich hier ein Schlupfloch schaffen: im Allgemeinen ist zwar der Imperialismus die Epoche der imperialistischen Kriege, aber dieser Krieg war nicht ganz imperialistisch (so argumentierte z. B. Kautsky).

Zweitens verbindet Genosse S. die „Krisen und Kriege" miteinander gewissermaßen zu einer zweieinigen Begleiterscheinung des Kapitalismus im Allgemeinen und des neuesten Kapitalismus im Besonderen. Auf Seite 20–21 der Moskauer Broschüre ist im Entwurf des Genossen S. diese Verbindung von Krisen und Kriegen dreimal wiederholt. Hier handelt es sich nicht nur um die Unerwünschtheit von Wiederholungen im Programm. Hier handelt es sich um eine prinzipielle Unrichtigkeit.

Die Krisen, gerade in der Form der Überproduktion oder der „Stockung im Absatz der Waren" (wenn Genosse S. das Wort Überproduktion verpönt) sind eine Erscheinung, die ausschließlich dem Kapitalismus eigen ist. Die Kriege aber sind sowohl dem auf Sklaverei beruhenden wie dem feudalen Wirtschaftssystem eigen. Imperialistische Kriege hat es ebenso auf dem Boden der Sklaverei gegeben (der Krieg Roms gegen Karthago war auf beiden Seiten ein imperialistischer Krieg)4 als auch im Mittelalter und in der Epoche des Handelskapitalismus. Jeder Krieg, in dem beide kriegführenden Lager fremde Länder oder Völker unterdrücken und um die Verteilung der Beute kämpfen, d. h. darum, „wer mehr unterdrücken und mehr plündern soll", muss imperialistisch genannt werden.

Wenn wir sagen, dass nur der neueste Kapitalismus, nur der Imperialismus imperialistische Kriege mit sich brachte, so ist das richtig, denn das vorhergehende Stadium des Kapitalismus, das Stadium der freien Konkurrenz oder das Stadium des vormonopolistischen Kapitalismus war vorwiegend durch nationale Kriege in Westeuropa charakterisiert. Sagt man aber, dass es in dem vorhergehenden Stadium überhaupt keine imperialistischen Kriege gegeben hat, so wird das schon falsch sein, so wird das bedeuten, dass man die ebenfalls imperialistischen „Kolonialkriege" vergisst. Das erstens.

Zweitens aber ist gerade die Verbindung der Krisen und der Kriege falsch, denn diese Erscheinungen sind ganz verschiedener Ordnung, ganz verschiedenen historischen Ursprungs und ganz verschiedener Klassenbedeutung. Man kann z. B. nicht sagen, wie dies Genosse S. in seinem Entwurf tut:

Die Krisen wie die Kriege ruinieren die Kleinproduzenten noch mehr, steigern noch mehr die Abhängigkeit der Lohnarbeit vom Kapital."

Denn Kriege sind möglich im Interesse der Befreiung der Lohnarbeit vom Kapital, im Kampfe der Lohnarbeiter gegen die Kapitalistenklasse, möglich sind nicht nur reaktionär-imperialistische, sondern auch revolutionäre Kriege. „Der Krieg ist die Fortsetzung der Politik" der einen oder der anderen Klasse; und in jeder Klassengesellschaft, in der auf Sklaverei beruhenden, in der feudalen und in der kapitalistischen, hat es Kriege gegeben, die die Politik der unterdrückenden Klassen fortsetzten, aber es hat auch Kriege gegeben, die die Politik der unterdrückten Klassen fortsetzten. Aus demselben Grunde kann man nicht sagen, wie dies Genosse S. tut:

Die Krisen und Kriege zeigen, dass das kapitalistische System aus einer Form der Entwicklung der Produktivkräfte in deren Hemmschuh verwandelt wird."

Dass der jetzige imperialistische Krieg durch seinen reaktionären Charakter und durch seine Lasten die Massen revolutioniert und die Revolution beschleunigt, ist richtig und muss gesagt werden. Es wird auch richtig sein und kann gesagt werden von den imperialistischen Kriegen überhaupt, die für die Epoche des Imperialismus typisch sind. Das kann aber nicht von allen „Kriegen" überhaupt gesagt werden, außerdem darf man auf keinen Fall Krisen und Kriege miteinander verbinden.

V

Wir müssen jetzt das Fazit in jener Hauptfrage ziehen, die nach dem einmütigen Beschluss aller Bolschewiki im neuen Programm vor allem beleuchtet und bewertet werden muss. Es ist dies die Frage des Imperialismus. Genosse Sokolnikow ist dafür, dass es zweckmäßiger sei, diese Beleuchtung und Bewertung sozusagen in Bruchstücken zu geben und die verschiedenen Merkmale des Imperialismus auf die verschiedenen Paragraphen des Programms zu verteilen; ich glaube, dass es zweckmäßiger wäre, dies in einem besonderen Paragraphen oder in einem besonderen Teil des Programms zu tun und dort alles zusammenzutragen, was über den Imperialismus zu sagen ist. Den Mitgliedern der Partei liegen jetzt beide Entwürfe vor, und der Parteitag wird entscheiden. Wir sind aber mit Genossen Sokolnikow vollkommen darin einverstanden, dass vom Imperialismus gesprochen werden muss, es bleibt zu untersuchen, ob keine Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der Art und Weise bestehen, wie der Imperialismus zu beleuchten und zu bewerten ist.

Vergleichen wir von diesem Standpunkt aus die beiden Entwürfe zum neuen Programm. In meinem Entwurf sind fünf hauptsächliche Unterscheidungsmerkmale des Imperialismus angegeben: 1. monopolistische Verbände der Kapitalisten; 2. Verschmelzung des Bankkapitals mit dem Industriekapital; 3. Kapitalausfuhr in fremde Länder; 4. territoriale Aufteilung der Welt, eine Aufteilung, die bereits beendet ist; 5. Aufteilung der Welt durch die wirtschaftlich internationalen Trusts (in meiner Broschüre „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus", die später erschienen ist als die „Materialien zur Revision des Parteiprogramms", sind diese fünf Merkmale des Imperialismus auf Seite 85 angeführt). Im Entwurf des Genossen Sokolnikow finden wir im Wesentlichen dieselben fünf Hauptmerkmale, so dass in unserer Partei offenbar die prinzipielle Einstimmigkeit in der Frage des Imperialismus sehr vollständig ist, wie auch zu erwarten war, denn die praktische, sowohl mündliche wie schriftliche Propaganda unserer Partei in dieser Frage hat schon lange, seit Beginn der Revolution, die vollständige Einmütigkeit aller Bolschewiki in dieser Grundfrage offenbart.

Es bleibt zu untersuchen, welche Unterschiede der Formulierung in der Definition und Charakterisierung des Imperialismus zwischen den beiden Entwürfen bestehen. Beide Entwürfe enthalten einen konkreten Hinweis darauf, von welchem Zeitpunkt an eigentlich von einer Verwandlung des Kapitalismus in den Imperialismus gesprochen werden kann. Dass ein solcher Hinweis im Interesse der Genauigkeit und historischen Richtigkeit der ganzen Einschätzung der wirtschaftlichen Entwicklung notwendig ist, kann wohl kaum bestritten werden. Genosse S. sagt: „im letzten Vierteljahrhundert"; bei mir heißt es: „ungefähr seit Anfang des 20. Jahrhunderts". In der eben zitierten Broschüre über den Imperialismus sind, z.B. auf Seite 10/11 die Aussagen eines Ökonomen angeführt, der die Kartelle und Syndikate speziell studiert hat und der als Wendepunkt für den vollen Sieg der Kartelle in Europa die Krise 1900–1903 angibt. Es scheint mir darum genauer, zu sagen: „ungefähr seit Anfang des 20. Jahrhunderts" als „im letzten Viertel Jahrhundert". Dies wird auch schon darum richtiger sein, weil sowohl jener Spezialist, auf den ich mich soeben berief, wie überhaupt die europäischen Ökonomen meist deutsche Ziffern benutzen, Deutschland aber im Prozess der Kartellbildung die übrigen Länder überholt hat.

Weiter. Von den Monopolen heißt es in meinem Entwurf: „Die monopolistischen Kapitalistenverbände haben entscheidende Bedeutung erlangt." Im Entwurf des Genossen S. wiederholt sich der Hinweis auf die monopolistischen Verbände mehrfach, aber unter allen diesen Hinweisen ist nur einer, der sich durch verhältnismäßige Bestimmtheit auszeichnet. Nämlich folgender:

„… Im letzten Vierteljahrhundert ist die direkte oder indirekte Verfügung über die kapitalistisch organisierte Produktion in die Hände der allmächtigen untereinander vereinigten Banken, Trusts und Syndikate übergegangen, die monopolistische Weltverbände bilden, an deren Spitze ein Häuflein von Magnaten des Finanzkapitalismus steht."

Mir scheint, hier ist zu viel „Agitation". D. h. „der Volkstümlichkeit zuliebe" ist in das Programm etwas eingefügt, was nicht hinein gehört. In Zeitungsartikeln, in Reden, in populären Broschüren ist die „Agitation" notwendig. Aber das Parteiprogramm muss sich durch ökonomische Genauigkeit auszeichnen und nichts Überflüssiges enthalten. Dass die monopolistischen Verbände „entscheidende Bedeutung" erlangt haben, scheint mir am genauesten gesagt zu sein, und damit ist alles gesagt. Indes enthält der angeführte Absatz aus dem Entwurf des Genossen S. nicht nur viel Überflüssiges, sondern theoretisch anfechtbar ist auch der Ausdruck: die Verfügung über die „kapitalistisch organisierte Produktion". Ist es nur die kapitalistisch organisierte? Nein, das ist zu schwach. Auch die offenkundig nicht kapitalistisch organisierte Produktion, die kleinen Handwerker, Bauern, die kleinen Baumwollproduzenten in den Kolonien usw. usw., sind in Abhängigkeit von den Banken und überhaupt vom Finanzkapital geraten. Wenn wir vom „Weltkapitalismus" im Allgemeinen sprechen (und man kann hier nur von ihm sprechen, wenn man nicht in Fehler verfallen will), so schließen wir, wenn wir sagen, die monopolistischen Verbände haben entscheidende Bedeutung erlangt, keinerlei Produzenten von der Unterordnung unter diese entscheidende Bedeutung aus. Den Einfluss der monopolistischen Verbände auf die „kapitalistisch organisierte Produktion" zu beschränken, ist falsch.

Ferner ist im Entwurf des Genossen S. über die Rolle der Banken zweimal dasselbe gesagt: einmal im eben angeführten Absatz und ein zweites Mal im Absatz über die Krisen und Kriege, wo folgende Definition gegeben ist: „Das Finanzkapital (das Produkt der Verschmelzung des Bankkapitals mit dem Industriekapital)." In meinem Entwurf heißt es: „Das ungeheuer konzentrierte Bankkapital hat sich mit dem Industriekapital verschmolzen." Es genügt, wenn das im Programm einmal gesagt ist.

Das dritte Merkmal: „Die Kapitalausfuhr in fremde Länder hat sich in sehr großem Umfang entwickelt (so heißt es in meinem Entwurf). Im Entwurf des Genossen S. finden wir einmal einen einfachen Hinweis auf die „Kapitalausfuhr", ein anderes Mal wird in einem ganz anderen Zusammenhang von „den neuen Ländern'' gesprochen, die „ein Anlagegebiet für das Extraprofite suchende Kapital bilden". Man kann hier den Hinweis auf die Extraprofite und auf die neuen Länder schwer als richtig gelten lassen, denn einen Kapitalexport gibt es auch aus Deutschland nach Italien, aus Frankreich nach der Schweiz usw. Man hat in der imperialistischen Epoche angefangen, Kapital auch in die alten Länder auszuführen, und nicht nur der Extraprofite wegen. Das, was hinsichtlich der neuen Länder richtig ist, ist falsch hinsichtlich der Kapitalausfuhr im Allgemeinen.

Das vierte Merkmal ist das, was Hilferding den „Kampf um das Wirtschaftsgebiet" genannt hat. Diese Bezeichnung ist nicht genau, denn sie bringt nicht zum Ausdruck,. wodurch sich der moderne Imperialismus von den früheren Formen des Kampfes um das Wirtschaftsgebiet unterscheidet. Um ein solches Gebiet kämpfte auch das alte Rom, kämpften die europäischen Staaten des 16.–18. Jahrhunderts bei der Eroberung der Kolonien, kämpfte das alte Russland bei der Eroberung Sibiriens usw. Das Unterscheidungsmerkmal des modernen Imperialismus besteht darin, dass (wie es in meinem Programmentwurf heißt) „die ganze Welt bereits territorial unter den reichsten Ländern aufgeteilt ist", d. h. die Aufteilung der Erde unter den Staaten ist beendet. Gerade aus diesem Umstand folgt die besondere Schärfe des Kampfes um eine Umteilung der Welt, die besondere Schärfe der Zusammenstöße, die zu Kriegen führen.

Im Entwurf des Genossen S. ist das mit sehr vielen Worten, aber theoretisch wohl kaum richtig ausgedrückt. Ich werde gleich seine Formulierung anführen, da sie aber zugleich auch die Frage der wirtschaftlichen Aufteilung der Welt mit umfasst, muss vorher auch dieses letzte, fünfte Merkmal des Imperialismus berührt werden. In meinem Entwurf ist dieses Merkmal so formuliert:

… „Die ökonomische Aufteilung der Welt unter die internationalen Trusts hat begonnen." Die Daten der politischen Ökonomie und der Statistik verbieten es, mehr zu sagen. Eine solche Aufteilung der Welt ist ein sehr wichtiger Prozess, er hat aber eben erst begonnen. Wegen dieser Aufteilung der Welt, wegen der Umteilung erfolgen die imperialistischen Kriege erst, wenn die territoriale Aufteilung beendet ist, d. h. wenn kein „freies" Land mehr da ist, das man, ohne einen Krieg gegen Rivalen zu führen, besetzen kann.

Betrachten wir nun die Formulierung des Genossen Sokolnikow:

Aber das Herrschaftsgebiet der kapitalistischen Verhältnisse erweitert sich ununterbrochen auch nach außen durch ihre Übertragung auf neue Länder, die für die monopolistischen Kapitalistenverbände Warenmärkte, Rohstoffquellen und Anlagegebiete des Extraprofite, suchenden Kapitals bilden. Ungeheure Massen akkumulierten Mehrwerts, die dem Finanzkapital (dem Produkt der Verschmelzung des Bankkapitals mit dem Industriekapital) zur Verfügung stehen, werden auf den Weltmarkt geworfen. Der Wettbewerb der national mächtigen und zuweilen auch international organisierten Kapitalistenverbände um die Beherrschung des Marktes, um den Besitz oder die Kontrolle der Gebiete schwächerer Länder, d. h. um das Vorzugsrecht auf ihre schonungslose Unterdrückung, führt unausbleiblich zu den Versuchen, die ganze Welt unter die reichsten kapitalistischen Staaten aufzuteilen, zu imperialistischen Kriegen, die allgemeines Elend, Zerrüttung und Verwilderung erzeugen."

Wir haben hier sehr viele Worte, die eine Reihe theoretischer Unrichtigkeiten verdecken. Man kann nicht von „Versuchen" einer Aufteilung der Welt sprechen, denn die Welt ist bereits aufgeteilt. Der Krieg 1914–1917 ist nicht ein „Versuch zur Aufteilung der Welt", sondern ein Kampf um die Umteilung der bereits aufgeteilten Welt. Der Krieg war für den Kapitalismus unvermeidlich geworden, weil der Imperialismus mehrere Jahre vorher die Welt aufgeteilt hatte, dem alten Kräfteverhältnis entsprechend, das der Krieg „korrigieren" soll.

Den Kampf um Kolonien (um „neue Länder") ebenso wie den Kampf „um den Besitz der Gebiete schwächerer Länder" hat es auch vor dem Imperialismus gegeben. Charakteristisch für den modernen Imperialismus ist etwas anderes; nämlich, dass zu Anfang des 20. Jahrhunderts die ganze Erde von dem einen oder andern Staat besetzt, aufgeteilt war. Nur aus diesem Grunde war die Umteilung der „Herrschaft über die Welt" auf Grundlage des Kapitalismus nicht anders möglich als um den Preis eines Weltkrieges. Auch „international organisierte Kapitalistenverbände" hat es schon vor dem Imperialismus gegeben: jede Aktiengesellschaft mit Beteiligung von Kapitalisten verschiedener Länder ist ein „international organisierter Kapitalistenverband".

Charakteristisch für den Imperialismus ist etwas anderes, das es früher, vor dem 20. Jahrhundert nicht gegeben hat, nämlich: die ökonomische Aufteilung der Welt unter die internationalen Trusts, die Aufteilung der Länder unter sie als Absatzgebiete auf Grund von Verträgen. Gerade das kommt im Entwurf des Genossen S. nicht zum Ausdruck, so dass die Macht des Imperialismus schwächer dargestellt wird, als sie ist.

Endlich ist es theoretisch unrichtig, davon zu sprechen, dass die Massen des akkumulierten Mehrwerts auf den Weltmarkt geworfen werden. Das sieht der Realisierungstheorie Proudhons sehr ähnlich, nach der die Kapitalisten sowohl das konstante wie das variable Kapital leicht realisieren können, aber bei der Realisierung des Mehrwerts auf Schwierigkeiten stoßen. In Wirklichkeit können die Kapitalisten ohne Schwierigkeiten und ohne Krisen das konstante und das variable Kapital ebenso wenig realisieren wie den Mehrwert. Auf den Markt geworfen werden Warenmassen, die nicht nur akkumulierten Mehrwert darstellen, sondern auch den Wert, der das konstante und variable Kapital reproduziert. So werden z. B. auf den Weltmarkt Eisenbahnschienen oder Eisen geworfen, die durch Umtausch gegen Gegenstände des täglichen Bedarfs der Arbeiter oder gegen andere Produktionsmittel (Holz, Naphtha usw.) realisiert werden sollen.

VI

Indem wir damit die Analyse des Entwurfs des Genossen Sokolnikow abschließen, müssen wir eine sehr wertvolle Ergänzung besonders hervorheben, die er vorschlägt und meines Erachtens angenommen und sogar erweitert werden sollte. Und zwar schlägt er vor, dem Absatz, in dem vom technischen Fortschritt und von der zunehmenden Verwendung der Frauen- und Kinderarbeit die Rede ist, hinzuzufügen: „wie auch der Verwendung der Arbeit ungelernter, aus rückständigen Ländern eingeführter ausländischer Arbeiter". Das ist eine wertvolle und notwendige Ergänzung. Gerade für den Imperialismus ist eine solche Ausbeutung der Arbeit schlechter bezahlter Arbeiter aus rückständigen Ländern besonders charakteristisch. Gerade darauf basiert bis zu einem gewissen Grade der Parasitismus der reichen imperialistischen Länder, die auch einen Teil ihrer eigenen Arbeiter durch einen höheren Arbeitslohn bestechen und gleichzeitig die Arbeit der „billigen" ausländischen Arbeiter maßlos und schamlos ausbeuten. Die Worte „schlechter bezahlten" müssten hinzugefügt werden, ebenso die Worte: „und oft rechtlosen", denn die Ausbeuter der „zivilisierten" Länder machen sich den Umstand immer zunutze, dass die importierten ausländischen Arbeiter rechtlos sind. Das lässt sich ständig nicht nur in Deutschland gegenüber den russischen, d. h. aus Russland zureisenden Arbeitern, sondern auch in der Schweiz gegenüber den Italienern, in Frankreich gegenüber den Spaniern und Italienern usw. beobachten.

Vielleicht wäre es zweckmäßig, im Programm die Sonderstellung der Gruppe der reichsten imperialistischen Länder, die sich durch die Plünderung der Kolonien und der schwachen Nationen parasitär bereichern, stärker zu betonen und anschaulicher auszudrücken. Das ist eine äußerst wichtige Eigenart des Imperialismus, die übrigens bis zu einem gewissen Grade die Entstehung tiefgehender revolutionärer Bewegungen in jenen Ländern erleichtert, die die Opfer der imperialistischen Raubzüge sind, denen Aufteilung und Erdrosselung durch die imperialistischen Giganten (wie Russland) droht, und die anderseits die Entstehung tiefgehender revolutionärer Bewegungen in jenen Ländern bis zu einem gewissen Grade erschwert, die viele Kolonien und fremde Länder imperialistisch plündern und auf diese Weise einen (verhältnismäßig) sehr großen Teil ihrer Bevölkerung an der Aufteilung der imperialistischen Beute beteiligen.

Ich würde darum vorschlagen, sagen wir an der Stelle meines Entwurfs, die eine Charakteristik des Sozialchauvinismus gibt (Seite 22 der Broschüre), einen Hinweis auf diese Ausbeutung einer Reihe von Ländern durch die reichsten Länder einzufügen. Die entsprechende Stelle des Entwurfs würde also folgendermaßen lauten (gesperrt sind die neuen Zusätze):

Eine solche Entstellung ist einerseits die Richtung des Sozialchauvinismus, des Sozialismus in Worten, des Chauvinismus in der Praxis, die Bemäntelung der Verteidigung der räuberischen Interessen der ,eigenen' nationalen Bourgeoisie im imperialistischen Krieg, sowie der Verteidigung der privilegierten Lage der Bürger der reichen Nation, die aus dem Kolonialraub und der Plünderung der Kolonien und der schwachen Nationen ungeheure Einkünfte beziehen, durch die Losung der ,Vaterlandverteidigung'. Eine solche Entstellung ist anderseits die ebenso verbreitete und internationale Richtung des ,Zentrismus' usw."

Die Hinzufügung der Worte „im imperialistischen Krieg" ist wegen der größeren Genauigkeit notwendig. Die „Vaterlandsverteidigung" ist nichts anderes als eine Losung der Rechtfertigung des Krieges, der Anerkennung ihrer Berechtigung und Gerechtigkeit. Es gibt verschiedene Kriege. Auch revolutionäre Kriege sind möglich. Es muss also mit absoluter Genauigkeit gesagt werden, dass hier gerade vom imperialistischen Krieg die Rede ist. Das wird vorausgesetzt, muss aber, um Falschdeutungen zu vermeiden, nicht vorausgesetzt, sondern klar und deutlich gesagt werden.

VII

Wir gehen jetzt vom allgemeinen oder theoretischen Teil des Programms zum Minimalprogramm über. Wir stoßen hier sofort auf den äußerlich sehr „radikalen" und sehr unzulänglichen Vorschlag der Genossen N. Bucharin und W. Smirnow, das Minimalprogramm überhaupt zu streichen.5 Die Teilung in ein Maximalprogramm und ein Minimalprogramm sei „veraltet", wozu brauche man es, wo es sich doch um den Übergang zum Sozialismus handelt. Weg mit dem Minimalprogramm, her mit dem Programm der Übergangsmaßnahmen zum Sozialismus.

Das ist der Vorschlag der beiden genannten Genossen, die sich jedoch aus irgendeinem Grunde nicht entschließen konnten, einen entsprechenden Entwurf vorzulegen (obwohl die Tatsache, dass die Revision des Parteiprogramms auf die Tagesordnung des nächsten Parteitages gesetzt worden war, diese Genossen geradezu verpflichtete, einen solchen Entwurf zu verfassen). Es ist möglich, dass die Urheber des „radikal" scheinenden Vorschlags selbst unschlüssig waren… Wie dem auch sei, man muss sich mit ihrer Meinung auseinandersetzen.

Krieg und Zerrüttung zwingen alle Länder, vom monopolistischen Kapitalismus zum staatsmonopolistischen Kapitalismus überzugehen. Das ist die objektive Lage. Aber in revolutionären Verhältnissen, in einer Revolution geht der staatsmonopolistische Kapitalismus unmittelbar in den Sozialismus über. Man kann in der Revolution nicht vorwärtsgehen ohne zum Sozialismus zu gehen, – das ist die objektive, durch Krieg und Revolution geschaffene Lage. Unsere Aprilkonferenz hat ihr Rechnung getragen, indem sie die Losungen der „Räterepublik" (die politische Form der Diktatur des Proletariats) und der Nationalisierung der Banken und Syndikate (die grundlegende unter den zum Sozialismus führenden Übergangsmaßnahmen) aufstellte. Bis hierher stimmen alle Bolschewiki miteinander überein. Aber die Genossen W. Smirnow und N. Bucharin wollen weitergehen und das Minimalprogramm ganz streichen. Dies würde bedeuten, dass man dem weisen Rat des weisen Sprichworts zuwiderhandelt, das da lautet: „Prahle nicht, wenn du in die Schlacht ziehst, sondern prahle, wenn du aus der Schlacht zurückkehrst!"

Wir ziehen in die Schlacht, d. h., wir kämpfen für die Eroberung der politischen Macht durch unsere Partei. Diese Macht wäre die Diktatur des Proletariats und der ärmsten Bauernschaft. Indem wir diese Macht ergreifen, fürchten wir uns nicht nur nicht, über die Schranken der bürgerlichen Gesellschaft hinauszugehen, sondern im Gegenteil, wir sagen klar, direkt, unzweideutig und in aller Öffentlichkeit, dass wir über diese Schranken hinausgehen, dass wir furchtlos zum Sozialismus gehen werden und dass unser Weg uns in der und der Richtung über die Räterepublik, über die Nationalisierung der Banken und Syndikate, die Arbeiterkontrolle, die allgemeine Arbeitspflicht, die Nationalisierung des Bodens, die Beschlagnahme des gutsherrlichen Inventars usw. usw. führt. In diesem Sinne haben wir ein Programm der Übergangsmaßnahmen zum Sozialismus gegeben.

Aber wir sollen nicht prahlen, wenn wir in die Schlacht ziehen. Wir dürfen das Minimalprogramm nicht streichen, denn das wäre gleichbedeutend mit der leeren Prahlerei: wir wollen nichts „von der Bourgeoisie fordern", sondern selbst verwirklichen, wir wollen uns nicht mit Kleinigkeiten innerhalb des Rahmens der bürgerlichen Gesellschaft abgeben.

Das wäre eine leere Prahlerei, denn zuerst muss man die Macht erobern, wir aber haben sie noch nicht erobert. Zuerst müssen die Übergangsmaßnahmen zum Sozialismus in der Praxis verwirklicht, unsere Revolution bis zum Sieg der sozialistischen Weltrevolution weitergeführt werden; dann können und müssen wir, schon „aus der Schlacht zurückkehrend", das Minimalprogramm als nunmehr überflüssig streichen.

Kann man jetzt die Gewähr dafür übernehmen, dass es nicht mehr notwendig ist? Selbstverständlich nicht, aus dem einfachen Grunde, weil wir die Macht noch nicht erobert, den Sozialismus nicht verwirklicht und noch nicht einmal den Anfang der sozialistischen Weltrevolution erlebt haben.

Man muss standhaft, mutig, ohne Schwankungen diesem Ziel zustreben, es ist aber lächerlich, zu sagen, es sei erreicht, wenn es ganz offenkundig noch nicht erreicht ist. Das Minimalprogramm jetzt schon streichen, hieße erklären, verkünden (einfach gesagt, prahlen), wir „hätten bereits gesiegt".

Nein, liebe Genossen, wir haben noch nicht gesiegt.

Wir wissen nicht, ob wir morgen oder etwas später siegen werden. (Ich persönlich neige der Ansicht zu, dass es morgen sein wird – ich schreibe dies am 6. Oktober 1917 – und dass wir uns mit der Machtergreifung verspäten können, aber auch morgen ist immerhin morgen und nicht heute.) Wir wissen nicht, wie bald nach unserem Sieg die Revolution im Westen kommen wird. Wir wissen nicht, ob es nach unserem Sieg nicht noch vorübergehende Perioden der Reaktion und des Sieges der Konterrevolution geben wird – unmöglich ist das keineswegs –, und darum werden wir, wenn wir gesiegt haben, eine „dreifache Befestigungslinie" gegen eine solche Möglichkeit bauen.

Wir wissen das alles nicht und können es nicht wissen. Niemand kann das wissen. Und darum ist es lächerlich, das Minimalprogramm zu streichen, das unentbehrlich ist, solange wir noch im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft leben, solange wir diesen Rahmen noch nicht gesprengt haben, solange wir das Grundlegende für den Übergang zum Sozialismus nicht getan haben, den Feind (die Bourgeoisie) nicht geschlagen und, nachdem wir sie geschlagen, nicht vernichtet haben. All das wird sein und vielleicht viel schneller, als viele glauben (ich persönlich denke, dass es morgen beginnen muss), aber es ist noch nicht da.

Betrachten wir das Minimalprogramm auf dem politischen Gebiet. Dieses Programm ist für eine bürgerliche Republik berechnet. Wir fügen hinzu, dass wir uns durch ihren Rahmen nicht beschränken lassen, sondern sofort für den höheren Typus der Räterepublik kämpfen. Das müssen wir tun. Wir müssen mit hingebungsvollem Mut und mit Entschlossenheit zur neuen Republik gehen, und ich bin überzeugt, dass wir gerade so zu ihr gehen werden. Aber man darf auf keinen Fall das Minimalprogramm streichen, denn erstens haben wir noch keine Räterepublik; zweitens ist die Möglichkeit von „Restaurationsversuchen" nicht ausgeschlossen, und diese müssen zuerst überwunden und besiegt werden; drittens sind beim Übergang vom Alten zum Neuen vorübergehende „kombinierte Typen" möglich (wie dies „Rabotschij Putj" dieser Tage richtig bemerkte), z. B. eine Räterepublik mit einer Konstituante.6 Überwinden wir zuerst all das, dann ist immer noch Zeit, das Minimalprogramm zu streichen.

Dasselbe trifft für das wirtschaftliche Gebiet zu. Wir sind uns alle darüber einig, dass die Angst, zum Sozialismus zu gehen, die größte Erbärmlichkeit und ein Verrat an der Sache des Proletariats ist. Wir sind uns alle darüber einig, dass die grundlegenden unter den ersten Schritten auf diesem Wege solche Maßnahmen sein müssen, wie die Nationalisierung der Banken und Syndikate. Verwirklichen wir zuerst diese und ähnliche Maßnahmen, und dann wird man weiter sehen. Man wird dann besser sehen, denn die praktische Erfahrung, die Millionen Mal mehr wert ist als die besten Programme, wird unseren Horizont unermesslich erweitern. Es ist möglich und sogar wahrscheinlich, und sogar unzweifelhaft, dass es auch hier nicht ohne „kombinierte Übergangstypen" gehen wird, so können wir z. B. die Kleinbetriebe mit ein oder zwei Lohnarbeitern weder sofort nationalisieren noch auch nur einer wirklichen Arbeiterkontrolle unterstellen. Mag ihre Rolle auch verschwindend klein, mögen sie auch durch die Nationalisierung der Banken und Trusts an Händen und Füßen gebunden sein, mag das alles sein, aber wozu das Minimalprogramm streichen, solange es wenn auch nur kleine Winkel gibt, wo die bürgerlichen Verhältnisse noch bestehen. Als Marxisten, die kühn zur größten Revolution der Welt gehen und zugleich den Tatsachen nüchtern Rechnung tragen, haben wir nicht das Recht, Minimalprogramme zu streichen.

Wollten wir das Minimalprogramm jetzt streichen, so würden wir damit beweisen, dass wir schon den Kopf verloren haben, noch ehe wir Zeit hatten zu siegen. Den Kopf dürfen wir aber weder vor dem Sieg noch während des Sieges noch nach dem Sieg verlieren, denn wir verlieren alles, wenn wir den Kopf verlieren.

Was die konkreten Vorschläge betrifft, so hat Genosse Bucharin eigentlich nichts gesagt, denn er wiederholt nur das über die Nationalisierung der Banken und Syndikate schon längst Gesagte. Genosse W. Smirnow gibt in seinem Artikel eine sehr interessante und lehrreiche Aufzählung der ungefähren Umgestaltungen, die auf die Regelung der Produktion und Konsumtion der Produkte hinauslaufen. Das ist in allgemeiner Form z. B. in meinem Entwurf bereits enthalten, es steht dort dahinter ein „usw.". Jetzt schon darüber hinauszugehen und sich auf eine Konkretisierung der einzelnen Maßnahmen einzulassen, scheint mir unzweckmäßig. Nach den grundlegenden Maßnahmen vom neuen Typus, nach der Nationalisierung der Banken, nach der Verwirklichung der Arbeiterkontrolle wird vieles besser zu übersehen sein und die Erfahrung wird eine Masse Neues bringen, denn es wird die Erfahrung von Millionen sein, die Erfahrung, die im Aufbau einer neuen Wirtschaftsordnung durch die zielbewusste Beteiligung von Millionen erworben ist. In Artikeln, Broschüren, Reden das Neue zu umreißen, Pläne aufzustellen, sie zu bewerten, die lokalen Teilerfahrungen der einzelnen Räte oder Versorgungskomitees usw. auszuarbeiten – das alles ist selbstverständlich eine sehr nützliche Arbeit. Aber eine übermäßige Detaillierung in das Programm hinein zutragen, ist verfrüht, es kann sogar schädlich sein und uns in Einzelheiten die Hände binden. Wir aber müssen freie Hand haben, um mit größerer Kraft das Neue schaffen zu können, wenn wir den neuen Weg schon ganz betreten haben werden.

VIII

Im Artikel des Genossen Bucharin ist noch eine Frage angeschnitten, auf die eingegangen werden muss.

„ … Die Frage der Revision unseres Parteiprogramms muss mit der Frage der Ausarbeitung eines einheitlichen Programms für die internationale Partei des Proletariats verbunden werden."

Das ist nicht ganz klar gesagt. Versteht man es so, dass der Verfasser uns von der Annahme eines neuen Programms abrät und diese Angelegenheit bis zur Schaffung eines einheitlichen internationalen Programms, des Programms der Dritten Internationale, aufschieben will, so müsste einer solchen Meinung auf das Entschiedenste widersprochen werden. Denn ein Aufschub aus diesem Grunde (ich nehme an, dass keine anderen Gründe für den Aufschub vorhanden sind, z. B. hat niemand wegen der ungenügenden Vorbereitung unserer Parteimaterialien für die Revision einen Aufschub verlangt) würde einer Verschleppung der Gründung der Dritten Internationale, und zwar durch uns entsprechen. Die Gründung der Dritten Internationale darf natürlich nicht formell aufgefasst werden. Solange die proletarische Revolution nicht, wenn auch nur in einem Lande, gesiegt hat, oder solange der Krieg nicht beendet ist, ist es unmöglich, auf einen raschen und erfolgreichen Schritt vorwärts in der Sache der Einberufung einer großen Konferenz der revolutionär-internationalistischen Parteien der verschiedenen Länder, auf ihre Übereinstimmung in der formellen Bestätigung eines neuen Programms zu hoffen. Bis dahin aber muss die Sache durch die Initiative jener Parteien vorwärtsgetrieben werden, die jetzt in einer besseren Situation sind als die andern und den ersten Schritt tun können, ohne ihn natürlich für den letzten zu halten, ohne das eigene Programm um jeden Preis den anderen „linken" (d. h. revolutionär-internationalistischen) Programmen entgegenzustellen, sondern gerade dadurch, dass sie die Ausarbeitung eines gemeinsamen Programms anstreben. Außer Russland gibt es heute kein Land in der Welt, wo die Internationalisten eine verhältnismäßige Freiheit, zu tagen, hätten und wo es so viele, über die internationalen Richtungen und Programme gut unterrichtete Genossen gäbe, wie in unserer Partei. Darum müssen wir unbedingt die Initiative auf uns nehmen. Diese direkte Pflicht haben wir als Internationalisten.

Offenbar ist gerade das auch die Ansicht des Genossen Bucharin, denn er sagt zu Eingang seines Artikels, dass „der eben beendete Parteitag (geschrieben im August) die Umarbeitung des Programms für notwendig erkannt hat" und dass „zu diesem Zweck ein besonderer Parteitag einberufen werden wird". Aus diesen Worten kann man schließen, dass Genosse Bucharin nichts gegen die Annahme eines neuen Programms auf diesem Kongress einzuwenden hat.7

Wenn dem so ist, so gelangen wir in der aufgeworfenen Frage zu voller Einmütigkeit. Es wird sich wohl kaum jemand finden, der dagegen ist, dass unser Parteitag nach Annahme des neuen Programms den Wunsch ausspreche, ein gemeinsames einheitliches Programm der Dritten Internationale zu schaffen und zu diesem Zweck bestimmte Schritte zu unternehmen, z. B. die Konferenz der Linken zu beschleunigen, einen Sammelband in mehreren Sprachen herauszugeben, eine Kommission zu bilden für die Sammlung des Materials über das, was von anderen Ländern zur „Sondierung" (nach dem richtigen Ausdruck des Genossen Bucharin) des Weges zum neuen Programm getan worden ist (die Tribunisten in Holland,8 die Linken in Deutschland. Die „Liga für sozialistische Propaganda" in Amerika9 hat Genosse Bucharin bereits genannt, man könnte noch auf die amerikanische „Sozialistische Arbeiterpartei hinweisen und wie diese die Frage der Ersetzung des „politischen Staates durch eine industrielle Demokratie" stellt).10

Ferner muss ich den Hinweis des Genossen Bucharin auf einen Mangel in meinem Entwurf als unbedingt richtig anerkennen. Genosse Bucharin zitiert eine Stelle dieses Entwurfs (Seite 23 der Broschüre), wo von dem gegenwärtigen Augenblick in Russland, von der Provisorischen Regierung der Kapitalisten usw. die Rede ist. Genosse Bucharin hat recht, wenn er diese Stelle kritisiert und sagt, dass sie in eine taktische Resolution oder in eine Plattform gehöre. Ich schlage darum vor, entweder den ganzen letzten Absatz auf Seite 23 vollständig zu streichen oder ihn folgendermaßen zu fassen:

In ihrem Bestreben, eine Staatsordnung zu schaffen, die sowohl die wirtschaftliche Entwicklung und die Rechte des Volkes im Allgemeinen als auch im Besonderen die Möglichkeit eines denkbar schmerzlosen Überganges zum Sozialismus am besten sichert, kann sich die Partei des Proletariats nicht damit begnügen …" usw.

Endlich muss ich hier zu einem Punkt auf die Frage antworten, die bei einigen Genossen aufgetaucht, aber soweit ich weiß, in der Presse nicht aufgeworfen worden ist. Es ist das die Frage des Paragraph 9 des politischen Programms, die Frage des Selbstbestimmungsrechtes der Nationen.11 Der Punkt besteht aus zwei Teilen: der erste gibt eine neue Formulierung des Selbstbestimmungsrechtes, der zweite enthält nicht eine Forderung, sondern eine Deklaration. Die Frage, die mir gestellt wurde, war die, ob eine Deklaration hier am Platze sei. Im allgemeinen gehören Deklarationen nicht ins Programm. Aber eine Ausnahme von der Regel ist hier meines Erachtens unerlässlich. Anstelle des Wortes Selbstbestimmung, das oft zu falschen Auslegungen Anlass bot, setze ich einen ganz genauen Begriff: „Das Recht der freien Loslösung." Nach den Erfahrungen der halbjährigen Revolution 1917 kann es wohl kaum bestritten werden, dass die Partei des revolutionären Proletariats Russlands, die Partei, die sich für ihre Arbeit der großrussischen Sprache bedient, verpflichtet ist, das Recht auf Loslösung anzuerkennen. Nach der Machtergreifung würden wir unbedingt dieses Recht wie für Finnland so für die Ukraine, für Armenien, für jede vom Zarismus (und von der großrussischen Bourgeoisie) unterdrückte Völkerschaft anerkennen. Aber wir unsererseits wollen die Loslösung gar nicht. Wir wollen einen möglichst großen Staat, einen möglichst engen Bund einer möglichst großen Zahl von Nationen, die den Großrussen benachbart leben; wir wollen das im Interesse der Demokratie und des Sozialismus, im Interesse der Heranziehung einer möglichst großen Zahl von Werktätigen verschiedener Nationen zum Kampf des Proletariats. Wir wollen eine revolutionär-proletarische Einheit, Vereinigung, nicht Zerstückelung. Wir wollen aber eine revolutionäre Vereinigung. Darum stellen wir nicht die Losung der Vereinigung sämtlicher Staaten überhaupt auf, denn die soziale Revolution stellt nur die Vereinigung jener Staaten auf die Tagesordnung, die zum Sozialismus übergegangen sind und übergehen, der sich befreienden Kolonien usw. Wir wollen eine freie Vereinigung. Und darum sind wir verpflichtet, die Freiheit der Loslösung anzuerkennen (ohne Freiheit der Loslösung kann die Vereinigung nicht als frei bezeichnet werden). Wir sind um so mehr verpflichtet, die Freiheit der Loslösung anzuerkennen, als der Zarismus und die großrussische Bourgeoisie durch ihre Unterdrückung in den benachbarten Nationen sehr viel Erbitterung und Misstrauen gegen die Großrussen überhaupt hinterlassen haben, und dieses Misstrauen kann nur durch Taten, und nicht durch Worte zerstreut werden.

Aber wir wollen die Vereinigung, und das muss gesagt werden. Es ist so wichtig, das im Programm der Partei eines bunten Nationalitätenstaates zu sagen, dass man um dessentwillen vom Üblichen abweichen und einer Deklaration Raum geben muss. Wir wollen, dass die Republik des russischen (ich wäre sogar nicht abgeneigt, zu sagen: des großrussischen, denn es ist richtiger) Volkes die anderen Nationen an sich ziehe. Aber wodurch? Nicht durch Gewalt, sondern ausschließlich durch freiwillige Verständigung. Sonst wird die Einheit und der brüderliche Bund der Arbeiter aller Länder verletzt. Zum Unterschied von den bürgerlichen Demokraten ist unsere Losung nicht die Brüderlichkeit der Völker, sondern die Brüderlichkeit der Arbeiter aller Nationalitäten, denn der Bourgeoisie aller Länder vertrauen wir nicht, wir betrachten sie als Feind.

Darum muss hier eine Ausnahme von der Regel zugelassen und in den Paragraph 9 eine Prinzipienerklärung aufgenommen werden.

IX

Die vorstehenden Zeilen waren bereits geschrieben, als Nr. 31 des „Rabotschij Putj" mit dem Artikel des Genossen J. Larin „Die Arbeiterforderungen in unserem Programm"12 erschien. Dieser Artikel ist als Anfang der Diskussion in unserem Zentralorgan über die Programmentwürfe zu begrüßen. Genosse Larin beschäftigt sich besonders mit dem Abschnitt des Programms, an dessen Bearbeitung ich keinen Anteil hatte und dessen Entwurf nur in der Fassung der Untersektion für Arbeiterschutz vorhanden ist, einer Untersektion, die auf der Konferenz vom 24. bis 29. April 1917 gebildet wurde.13 Genosse Larin schlägt eine Reihe von Ergänzungen vor, die nach meiner Ansicht durchaus annehmbar, aber leider nicht immer von ihm genau formuliert sind.

Misslungen scheint mir die Formulierung eines Punktes bei Genossen Larin: „Die richtige (?) Verteilung der Arbeitskräfte auf Grund (?) der demokratischen (?) Selbstverwaltung der Arbeiter in der Verteilung (?) durch Personen (?)." Nach meiner Ansicht ist das schlechter als die Fassung der Untersektion: „Die Arbeitsbörsen müssen proletarische Klassenorganisationen sein usw." Ferner hätte Genosse Larin in der Frage der Mindestlöhne seinen Vorschlag ausführlicher ausarbeiten, genau formulieren und mit der Geschichte der Ansichten Marx' und des Marxismus zu diesem Punkt verbinden müssen.

Genosse Larin findet ferner, dass der politische und der die Agrarfragen behandelnde Teil des Programms „eine sorgfältigere Redigierung" verlangt. Es ist zu wünschen, dass unsere Parteipresse auch die Fragen der Formulierung der einen oder anderen Forderungen sofort zu diskutieren beginnt und es nicht bis zum Parteitag verschiebt, denn erstens wird sonst der Parteitag nicht gut vorbereitet sein, und zweitens weiß jeder, der Gelegenheit hatte, an Programmen und Resolutionen zu arbeiten, wie oft die sorgfältige Ausarbeitung der Formulierung eines bestimmten Punktes prinzipielle Unklarheiten oder Meinungsverschiedenheiten aufdeckt und beseitigt.

Endlich schreibt Genosse Larin zur Frage des finanzwirtschaftlichen Teiles im Programm, dass

an seiner Stelle ein fast leerer Raum ist, nicht einmal die Annullierung der Kriegsanleihen und der Staatsschulden des Zarismus" (nur des Zarismus?), „der Kampf gegen die fiskalische Ausnützung der Staatsmonopole usw. sind erwähnt."

Es wäre sehr erwünscht, dass Genosse Larin mit seinen konkreten Vorschlägen nicht bis zum Parteitag wartet, sondern sie gleich vorlegt, da sonst keine ernste Vorbereitung zustande kommt. Bei der Frage der Annullierung der Staatsschulden (natürlich nicht nur des Zarismus, sondern auch der Bourgeoisie) muss die Frage der kleinen Anleihezeichner sorgfältig überlegt werden, während in der Frage des „Kampfes gegen die fiskalische Ausnützung der Staatsmonopole" die Lage der Dinge hinsichtlich des Monopols in der Produktion von Luxusartikeln und die Verbindung des geplanten Punktes mit der Programmforderung der Abschaffung aller indirekten Steuern zu überlegen ist.

Ich wiederhole: für eine ernste Vorbereitung des Programms, damit tatsächlich die ganze Partei daran mitarbeite, müssen sich sofort alle Interessierten daran machen und sowohl ihre Auffassungen als auch die genauen Entwürfe der bereits formulierten Punkte, die Ergänzungen oder Änderungen enthalten, veröffentlichen.

1 Den Artikel „Zur Revision des Parteiprogramms" hatte Lenin für den vom ZK zum 30. (17.) Oktober einberufenen Parteitag geschrieben (später wurde die Einberufung rückgängig gemacht und der Parteitag durch eine Reihe von Parteikonferenzen ersetzt). In der Sitzung vom 18. (5.) Oktober wählte das ZK eine spezielle Kommission, die den Auftrag erhielt, für den Parteitag einen Entwurf zum Parteiprogramm zu verfassen. An der Spitze dieser Kommission stand Lenin, ferner gehörten ihr an: Bucharin, Trotzki, Kamenew, Sokolnikow und Kollontai („Protokolle des ZK der SDAPR", „Proletarskaja Rewoluzija", Nr. 10 [69], 1927).

2Materialien zur Revision des Parteiprogramms, Artikel von W. Miljutin, G. Sokolnikow, A. Lomow. Herausgegeben von der Gebietsleitung der SDAPR im Moskauer Industriegebiet 1917. Die Red.

* Engels kritisiert den Ausdruck: „Privatproduktion" und „Planlosigkeit" im Erfurter Programmentwurf; er schreibt: „Wenn wir von den Aktiengesellschaften übergehen zu den Trusts, die ganze Industriezweige beherrschen und monopolisieren, so hört da nicht nur die Privatproduktion auf, sondern auch die Planlosigkeit."

3 Der Spartakusbund war eine illegale Organisation, die zu Beginn des imperialistischen Krieges von Karl Liebknecht, Leo Jogiches, Rosa Luxemburg und Franz Mehring zum Kampfe gegen den Opportunismus in der deutschen Sozialdemokratie gegründet worden war. Aus taktischen Gründen gehörte der Spartakusbund, der von der offiziellen deutschen Sozialdemokratie abgespaltenen Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands an, wobei er sich jedoch zu einer besonderen Gruppe organisierte. Nach der Novemberrevolution im Jahre 1918 und nachdem die Unabhängigen zusammen mit den Scheidemännern die Regierung gebildet hatten, trennte sich der Spartakusbund von den Unabhängigen, und im Dezember 1918 hielt er seinen Kongress ab, der zum Gründungsparteitag der Kommunistischen Partei Deutschlands wurde. Das Programm des Spartakusbundes ist niedergelegt in der von Rosa Luxemburg verfassten Broschüre „Was will der Spartakusbund?"

Die Thesen des Spartakusbundes sind von Rosa Luxemburg verfasst und in einer konspirativen Konferenz der Gruppe „Internationale" (die den Kern des Spartakusbundes bildete) am 1. Januar 1916 in der Wohnung Karl Liebknechts einstimmig angenommen worden. Die Thesen sind unter dem Titel „Leitsätze" in den Spartakusbriefen abgedruckt worden (Nr. 3 vom 3. Februar 1916); ferner wurden die Thesen auf dem Hektographen vervielfältigt und illegal in ganz Deutschland verbreitet; später wurden sie mehrfach als Flugblatt gedruckt.

Die fünfte These der Leitsätze lautet:

5. Der Weltkrieg dient weder der nationalen Verteidigung noch den wirtschaftlichen oder politischen Interessen irgendwelcher Volksmassen, er ist lediglich eine Ausgeburt imperialistischer Rivalitäten zwischen den kapitalistischen Klassen verschiedener Länder um die Weltherrschaft und um das Monopol in der Aussaugung und Unterdrückung der noch nicht vom Kapital beherrschten Gebiete. In der Ära dieses entfesselten Imperialismus kann es keine nationalen Kriege mehr geben. Die nationalen Interessen dienen nur als Täuschungsmittel, um die arbeitenden Volksmassen ihrem Todfeind, dem Imperialismus, dienstbar zu machen."

4 Die Punischen Kriege – drei Kriege der Römer gegen die Karthager von 264 bis 164 vor unserer Zeitrechnung, die mit der Zerstörung Karthagos und der Eroberung seiner Kolonien endeten. Der Hauptgrund des Krieges war der Kampf um die Herrschaft an den Küsten des Mittelmeeres, insbesondere in Afrika und Spanien.

5 Lenin meint den Artikel Bucharins „Zur Revision des Parteiprogramms" („Spartak", Nr. 4 vom 23. [10.] August 1917) und den Artikel Smirnows „Zur Revision des wirtschaftlichen Minimal-Programms" (Broschüre „Materialien zur Revision des Parteiprogramms", herausgegeben vom Gebietsbüro des Moskauer Industriegebietes der SDAPR, Moskau 1917).

6 Lenin meint den Leitartikel in Nr. 26 des „Rabotschij Putj" vom 16. (3.) Oktober 1917, der betitelt war „Der Rätekongress und die Konstituierende Versammlung".

7 Der 6. Parteitag der SDAPR (Bolschewiki) bestätigt in seiner Sitzung vom 16. (3.) August 1917 folgendes Protokoll der Sektion zur Revision des Parteiprogramms:

Nachdem die Sektion von den unter der Redaktion des Gen. Lenin vom Moskauer Gebietskomitee herausgegebenen Materialien zur Revision des Parteiprogramms Kenntnis genommen und nachdem sie den Bericht des Gen. Sokolnikow über diese Frage angehört hat, beschließt sie:

1. Den Beschluss der Konferenz vom 14. bis zum 20. April über die Notwendigkeit der Revision des Parteiprogramms in der von der Konferenz aufgezeigten Richtung zu bestätigen.

2. Angesichts der ungenügenden vorangegangenen Diskussion über die Frage der Revision des Programms, angesichts ferner der sehr ungünstigen Verhältnisse für die Arbeit des Parteitags – die Ausarbeitung eines neuen Wortlautes des Programms auf diesem Parteitag für unmöglich anzuerkennen.

3. In naher Zukunft ist die Einberufung eines speziellen Parteitags für die Ausarbeitung des neuen Parteiprogramms notwendig.

4. Bis zur Einberufung dieses Parteitags müssen das Zentralkomitee der Partei und alle Parteiorgane eine möglichst breite Diskussion über die Frage der Revision des Programms organisieren und Maßnahmen zur Versorgung der Parteimitglieder mit Literatur über diese Frage treffen.

5. Zum Zwecke der praktischen Parteiarbeit hält die Sektion es für notwendig, eine besondere Plattform auszuarbeiten, der die Resolution dieses Parteitags und die noch nicht außer Kraft gesetzten Beschlüsse der April-Konferenz zugrunde gelegt werden müssen.

Die Sektion schlägt vor, das Zentralkomitee der Partei mit der Ausarbeitung der Plattform zu beauftragen."

8 Die „Tribunisten" waren linke holländische Sozialdemokraten, die im Jahre 1907 aus der offiziellen Partei ausgeschlossen wurden und im Jahre 1909 die Zeitung „Tribüne" gründeten (Pannekoek, Gorter, Wijnkoop, Henriette Roland-Holst u.a.). Im Jahre 1919 gründeten die Tribunisten die Kommunistische Partei und schlossen sich der III. Internationale an, wo sie eine ultralinke Position einnahmen.

9138 Die Liga für sozialistische Propaganda war in den Jahren des imperialistischen Krieges eine internationalistische Organisation in Amerika, gegründet von Mitgliedern der amerikanischen sozialistischen Partei; die Liga bestand in ihrer Mehrheit aus nach Amerika emigrierten Arbeitern.

10 Die Sozialistische Arbeiterpartei Amerikas (Socialist Labour Party) – eine kleine linksstehende sozialistische Organisation – entstand im Jahre 1877; unter ihrer Führung wurde der „Industrieverband der Arbeiter der Welt" (IWW) gegründet, eine syndikalistische Gewerkschaftsorganisation, die keinen nennenswerten Einfluss besaß und sich mehrfach spaltete. In den Jahren des imperialistischen Weltkrieges nahm die Organisation eine internationalistische Stellung gegen den Krieg ein. Nach der Oktoberrevolution schlossen sich ihre revolutionärsten Elemente der Kommunistischen Partei und später auch der Roten Gewerkschafts-Internationale an.

11 Punkt 9 des auf dem 2. Parteitag der SDAPR im Jahre 1903 angenommenen Programms lautete: „Selbstbestimmungsrecht für alle Nationen, die dem Staatsverband angehören". In seiner, im Juni 1917 erschienenen, Broschüre „Materialien zur Revision des Parteiprogramms" schlug Lenin vor, diesen Satz folgendermaßen zu ändern: „Das Recht der freien Lostrennung und Bildung eines eigenen Staates für alle Nationen, die dem Staatsverband angehören. Die Republik des russischen Volkes soll die anderen Völker oder Völkerschaften nicht mit Gewalt an sich ziehen, sondern ausschließlich durch eine freiwillige Verständigung über die Schaffung eines gemeinsamen Staates. Die Einheit und das brüderliche Bündnis der Arbeiter aller Länder vertragen sich weder mit der direkten noch mit der indirekten Vergewaltigung anderer Völkerschaften.

12 Der Artikel J. Larins „Die Arbeiterforderungen in unserem Programm", veröffentlicht in Nr. 31 des „Rabotschij Putj" vom 21. (8.) Oktober 1917, stellte außer der Annullierung der Staatsschulden noch folgende Forderungen auf dem Gebiet des Arbeiterschutzes und der Kontrolle der Produktion auf: Legalisierung der Betriebsräte, „konstitutionelles Regime in den Fabriken", Kollektivverträge, Ausdehnung der Arbeitergesetzgebung auf die staatlichen Angestellten, auf die Dienstboten und auf die Landwirtschaft, „richtige Verteilung der Arbeitskräfte auf Grund der demokratischen Selbstverwaltung der Arbeiter in der Verteilung durch Personen", einen gesetzlichen Mindestlohn, jährlichen Urlaub, Wochenbezahlung und gerichtliche Verfolgung der Unternehmer wegen Verletzung der Arbeitsgesetze.

13 Die von der Untersektion für Arbeitsschutz auf der allrussischen Konferenz der SDAPR im April vorgeschlagenen Korrekturen sind enthalten in der Broschüre „Materialien zur Revision des Parteiprogramms", Verlag „Priboj", Petrograd 1917.

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