Wladimir I. Lenin: Einführung des Sozialismus oder Aufdeckung der Staatskassendiebstähle?

[„Prawda" Nr. 77, 22. (9.) Juni 1917. Nach Sämtliche Werke, Band 20.2. Wien-Berlin 1928, S. 164-166]

Es ist eine ausgemachte Sache, dass man den Sozialismus in Russland nicht einführen kann. Das hat, der menschewistisch-ministeriellen „Rabotschaja Gazeta" nachsprechend, Herr Miljukow in der Konferenz der Scharfmacher vom 3. Juni¹ beinahe ganz marxistisch bewiesen. Damit hat sich auch die – in Russland überhaupt und auf dem Rätekongress im besonderen – größte Partei, die der Sozialrevolutionäre, einverstanden erklärt, die nicht nur die größte Partei ist, sondern auch vor dem Weitertreiben der Revolution in der Richtung zum Sozialismus die größte geistige (nicht egoistische) Angst hat.

Eigentlich zeigt schon ein einfacher Vergleich mit der Resolution derbolschewistischen Konferenz vom 24.–29. April 1917, dass auch die Bolschewiki die sofortige „Einführung" des Sozialismus in Russland für unmöglich halten.

Warum also der Streit? Wozu der Lärm?

Dazu, um durch das Geschrei gegen die „Einführung" des Sozialismus in Russland die Anstrengungen derjenigen zu unterstützen (viele tun es unbewusst), die sich der Aufdeckung der Staatskassendiebstähle widersetzen.

Wir wollen nicht über Worte streiten, Bürger! Das ist nicht nur „revolutionärer Demokraten", sondern erwachsener Menschen überhaupt unwürdig. Reden wir nicht über die von „allen" abgelehnte „Einführung" des Sozialismus. Sprechen wir lieber von der Aufdeckung der Staatskassendiebstähle.

Wenn die Kapitalisten für die Landesverteidigung, d. h. für den Staat arbeiten, so ist dies schon – das ist klar – kein „reiner" Kapitalismus mehr, sondern eine besondere Art der Volkswirtschaft. Der reine Kapitalismus ist Warenproduktion. Warenproduktion ist Arbeit für einen unbestimmten und freien Markt. Der für die Landesverteidigung „arbeitende" Kapitalist aber „arbeitet" nicht für den Markt, sondern auf Bestellung des Staates, in der Regel sogar mit dem Gelde, das er vom Staate vorgestreckt bekommt.

Unserer Meinung nach ist die Verheimlichung der Höhe des Profits bei dieser eigenartigen Operation und die Aneignung von Profit über das hinaus, was zur Deckung der Unterhaltungskosten der tatsächlich an der Produktion mitwirkenden Menschen notwendig ist, Staatskassendiebstahl.

Wenn ihr diese Meinung nicht teilt, so steht ihr in offensichtlichem Gegensatz zu der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung. Es besteht nicht der geringste Zweifel, dass die Arbeiter und Bauern Russlands in ihrer übergroßen Masse diese Meinung teilen und dass sie dieselbe offen zum Ausdruck gebracht hätten, wenn ihnen die Frage ohne Winkelzüge, ohne Ausflüchte, ohne diplomatische Maskierung vorgelegt worden wäre.

Teilt ihr aber diese Meinung, dann wollen wir gemeinsam gegen die Winkelzüge und Ausflüchte kämpfen.

Um bei einem solchen gemeinsamen Unternehmen, wie es dieser Kampf ist, die größte Nachgiebigkeit, das größte Entgegenkommen zu zeigen, gestatten wir uns, dem Rätekongress folgenden Resolutionsentwurf vorzuschlagen:

„Der erste Schritt, nicht nur zur Regelung, sondern selbst zur einfachen Kontrolle der Produktion und der Verteilung (Anmerkung, die nicht zum Text der Resolution gehört: hat doch sogar der Minister Pjeschechonow versprochen, danach zu streben, „das, was wir besitzen, gleichmäßig zu verteilen"), der erste Schritt zu jedem ernsthaften Kampf gegen die Zerrüttung und die über das Land hereinbrechende Katastrophe muss eine Verordnung sein über die Aufhebung des Geschäftsgeheimnisses (auch für die Banken) in allen Angelegenheiten, die mit den Lieferungen für den Staat oder überhaupt für die Landesverteidigung zusammenhängen. Diese Verordnung ist zu ergänzen durch ein sofort in Kraft tretendes Gesetz, wonach strafrechtlich geahndet wird jeder direkte oder indirekte Versuch, diesbezügliche Dokumente oder Tatsachen vor Personen oder Gruppen zu verheimlichen, die bevollmächtigt sind:

a) von irgendeinem Rat der Arbeiter- oder Soldaten- oder Bauerndeputierten;

b) von irgendeinem Gewerkschaftsverband der Arbeiter oder Angestellten usw.;

c) von irgendeiner großen politischen Partei (mit genauer Bestimmung des Begriffs ,große' Partei, sagen wir, nach der Zahl der Wähler)."

Alle sind darin einig, dass die sofortige Einführung des Sozialismus in Russland unmöglich ist.

Sind auch alle darin einig, dass die Aufdeckung der Staatskassendiebstähle sofort notwendig ist?