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Wladimir I. Lenin 19170604 Resolutionsentwurf und Rede zur Agrarfrage

Wladimir I. Lenin: Erster allrussischer Kongress der Bauerndeputierten

17. (4.) Mai-10. Juni (28. Mai) 1917

[Zum ersten Mal veröffentlicht 1917 in der Broschüre Materialien zur „Agrarfrage" (russisch). Nach Sämtliche Werke, Band 20.2, Wien-Berlin 1928, S. 5-32]

I

Resolutionsentwurf zur Agrarfrage1

1. Alle gutsherrlichen und privaten Ländereien, desgleichen alle Apanagen- und Kirchengüter und so weiter sind unverzüglich dem Volke ohne jede Entschädigung zu übergeben.

2. Die Bauernschaft hat sofort in organisierter Weise, durch ihre Räte der Bauerndeputierten, allerorten den gesamten Boden zur wirtschaftlichen Nutzung in Besitz zu nehmen, ohne dass damit die endgültige Regelung der Agrarverhältnisse vorweggenommen wird, die zu erfolgen hat durch die Konstituierende Versammlung oder durch den Allrussischen Rat der Räte, falls das Volk die zentrale Staatsgewalt einem solchen Rat der Räte übergeben sollte.

3. Das Privateigentum am Grund und Boden muss überhaupt abgeschafft werden, das heißt das Eigentumsrecht auf den gesamten Grund und Boden gehört ausschließlich der Volksgesamtheit; das Verfügungsrecht über den Boden dagegen soll den örtlichen demokratischen Körperschaften zustehen.

4. Die Bauern müssen den Vorschlag der Kapitalisten, der Grundbesitzer und ihrer Provisorischen Regierung über eine örtliche „Verständigung" mit den Gutsherren zwecks sofortiger Regelung der Verfügung über den Grund und Boden ablehnen; die Verfügung über den Boden muss erfolgen durch den organisierten Beschluss der Mehrheit der örtlichen Bauern, und nicht durch eine Verständigung der Mehrheit, d. h. der Bauern, mit der Minderheit, und zwar mit einer verschwindenden Minderheit, d. h. den Gutsherren.

5. Gegen die entschädigungslose Überlassung aller gutsherrlichen Ländereien an die Bauernschaft kämpfen heute und werden auch fernerhin mit allen Mitteln nicht nur die Grundherren kämpfen, sondern auch die Kapitalisten, die über eine sehr große Macht verfügen, und zwar nicht nur über die Macht des Geldes, sondern auch über die Macht der Beeinflussung der noch unaufgeklärten Massen durch die Zeitungen, durch die vielen an die Herrschaft des Kapitals gewöhnten Beamten und dergleichen mehr. Der entschädigungslose Übergang aller gutsherrlichen Ländereien an die Bauernschaft kann daher weder restlos durchgeführt noch gesichert werden, ohne dass in den Bauernmassen das Vertrauen zu den Kapitalisten zerstört wird, ohne das feste Bündnis der Bauernschaft mit den städtischen Arbeitern, ohne den vollständigen Übergang der gesamten Staatsmacht in die Hände der Räte der Arbeiter-, Soldaten-, Bauern- usw. Deputierten. Nur eine Staatsgewalt, die sich in den Händen solcher Räte befindet und die den Staat nicht durch Polizei, nicht durch Beamte, nicht durch ein vom Volke getrenntes stehendes Heer, sondern durch die allgemeine, bewaffnete Volksmiliz der Arbeiter und Bauern regiert, ist imstande, die oben dargelegten und von der gesamten Bauernschaft verlangten Agrarreformen zu gewährleisten.

6. Die landwirtschaftlichen Lohnarbeiter und die ärmsten Bauern, d. h. solche, die ihre Mittel zum Leben teilweise durch Lohnarbeit erwerben, weil sie nicht genügend Land, Vieh, Geräte besitzen, müssen mit allen Kräften danach streben, sich selbständig in besonderen Räten oder besonderen Gruppen innerhalb der allgemeinen Bauernräte zu organisieren, um so ihre eigenen Interessen gegen die reichen Bauern vertreten zu können, die 'unvermeidlich nach einem Bündnis mit den Kapitalisten und Grundbesitzern trachten.

7. Infolge des Krieges droht Russland, ebenso wie allen andern kriegführenden und auch vielen neutralen (nichtkriegführenden) Ländern, die wirtschaftliche Zerrüttung, die Katastrophe, die Hungersnot, weil es an Arbeitskräften, an Kohle, an Eisen usw. mangelt. Das Land kann nur dadurch gerettet werden, dass die Räte der Arbeiter- und Bauerndeputierten die Kontrolle und die Leitung der gesamten Produktion und Verteilung der Produkte übernehmen. Deshalb ist es notwendig, jetzt schon Vereinbarungen zwischen den Räten der Bauerndeputierten und denen der Arbeiterdeputierten in die Wege zu leiten über den Austausch von Getreide und anderen landwirtschaftlichen Erzeugnissen gegen Geräte, Schuhwerk, Kleidung usw. ohne Vermittlung der Kapitalisten und unter Entfernung derselben von der Verwaltung der Fabriken. Zum gleichen Zweck muss auch der Übergang der gutsherrlichen Viehbestände und Geräte in die Hände der Bauernkomitees zur allgemeinen Nutznießung gefördert werden. Desgleichen ist die Errichtung von Musterwirtschaften aus jedem großen Herrengut zur gemeinschaftlichen Bodenbearbeitung mit den besten Maschinen, unter Anleitung von Agronomen und nach den Beschlüssen der Deputiertenräte der Landarbeiter zu fördern.

II

Rede über die Agrarfrage

4. Juni (21. Mai) 1917

Genossen! Die Resolution, die ich euch im Namen der sozialdemokratischen Fraktion des Bauernrates zu unterbreiten die Ehre habe, liegt gedruckt vor und ist an die Delegierten verteilt worden. Wenn noch nicht alle sie bekommen haben, so werden wir dafür sorgen, dass morgen eine weitere Anzahl von Exemplaren gedruckt wird, zur Verteilung an alle, die sie wünschen.

In meinem kurzen Referat kann ich natürlich nur die wichtigen, grundlegenden, die Bauernschaft und die Arbeiterklasse am meisten interessierenden Fragen behandeln. Wer sich über diese Frage ausführlicher unterrichten will, dem kann ich die Resolution unserer Partei, der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (Bolschewiki), empfehlen, die als Beilage zu Nummer 13 der Zeitung „Soldatskaja Prawda" erschienen ist und wiederholt in unserer Zeitung „Prawda" besprochen wurde. Jetzt muss ich mich auf die Besprechung der wichtigsten, strittigsten oder Missverständnisse hervorrufenden Punkte meiner Resolution und unseres Parteiprogramms zur Agrarfrage beschränken. Einer der ersten dieser strittigen oder missverstandenen Punkte ist die Frage, die gestern oder vorgestern auch im Haupt-Landkomitee aufgeworfen wurde, in einer Sitzung, von der ihr sicherlich alle gehört oder in den gestrigen oder vorgestrigen Zeitungen gelesen habt2. Der Sitzung des Haupt-Landkomitees wohnte ein Vertreter unserer Partei bei, mein Genosse aus dem Zentralkomitee, Smilga. Er brachte dort den Antrag ein, das Haupt-Landkomitee möge sich für die sofortige organisierte Besitzergreifung der gutsherrlichen Ländereien durch die Bauern aussprechen. Wegen dieses Antrages ist Genosse Smilga in jener Sitzung heftig angegriffen worden. (Rufe: „Hier auch!") Eben sagt man mir, dass auch hier viele Genossen gegen diesen Antrag auftreten werden. Ein Grund mehr für mich, diesen Punkt unseres Programms ausführlich zu erörtern, denn es scheint mir, dass die meisten Einwände, die gegen unser Programm erhoben werden, auf einem Missverständnis oder einer unrichtigen Beleuchtung unserer Ansichten beruhen.

Was besagen alle Resolutionen unserer Partei, alle Artikel unseres Organs, unserer Zeitung „Prawda"? Wir sagen, dass der gesamte Grund und Boden ohne Ausnahme Eigentum des ganzen Volkes werden muss. Zu diesem Schluss gelangten wir auf Grund des Studiums hauptsächlich der Bauernbewegung vom Jahre 1905, der Erklärungen der Bauernabgeordneten in der ersten und zweiten Reichsduma, wo viele Bauernabgeordnete aus allen Teilen Russlands frei – natürlich verhältnismäßig frei – ihre Meinung äußern konnten.

Der gesamte Grund und Boden muss Eigentum des ganzen Volkes sein. Hieraus ergibt sich schon, dass, wenn wir den sofortigen und unentgeltlichen Übergang der gutsherrlichen Ländereien in die Hände der ortsansässigen Bauern fordern, wir keineswegs dafür eintreten, dass die Bauern dieses Land zu ihrem Eigentum machen sollen; wir treten auf keinen Fall für die Aufteilung dieser Ländereien ein. Wir meinen, dass die ortsansässigen Bauern das Land zur einmaligen Bestellung nehmen sollen, und zwar auf Grund eines Beschlusses der Mehrheit der örtlichen Bauerndelegierten. Wir treten keineswegs dafür ein, dass das Land Eigentum jener Bauern wird, die es jetzt zur einmaligen Bearbeitung erhalten. Alle derartigen Einwände gegen unseren Antrag, die man immer wieder zu hören und in der kapitalistischen Presse zu lesen bekommt, beruhen auf einer falschen Auslegung unserer Ansichten. Wenn wir sagen – und ich wiederhole: wir haben es in allen unseren Resolutionen gesagt –, dass das Land Eigentum des ganzen Volkes werden und ihm unentgeltlich zugesprochen werden muss, so ist es klar, dass die Festsetzung der endgültigen Verteilung dieses Landes, die endgültige Regelung der Agrarverhältnisse nur durch die zentrale Staatsgewalt zu erfolgen hat, d. h. durch die Konstituierende Versammlung oder durch den Allrussischen Rat der Räte, falls die Arbeiter- und Bauernmassen eine solche Staatsgewalt, den Rat der Räte, schaffen sollten. In dieser Beziehung bestehen keine Meinungsverschiedenheiten.

Die Meinungsverschiedenheiten fangen erst an, wo man weitere Einwände gegen uns erhebt und sagt: „Wenn dem so ist, so wird jeder sofortige unentgeltliche Übergang der gutsherrlichen Ländereien in die Hände der Bauernschaft zur eigenmächtigen Handlung." Diese Ansicht, die am deutlichsten, am autoritativsten und mit größtem Nachdruck vom Landwirtschaftsminister Schingarjow in seinem berühmten Telegramm ausgesprochen wurde, halten wir für die irrigste, sie ist ungünstig für die Bauernschaft, ungünstig für den Ackerbau, ungünstig für die Brotversorgung des Landes, und sie ist auch ungerecht. Ich werde mir erlauben, dieses Telegramm zu verlesen, um zu zeigen, wogegen sich unsere Einwände in erster Linie richten.

„… Die selbstherrliche Lösung der Bodenfrage ist ohne Reichsgesetz unzulässig. Eigenmächtiges Vorgehen wird den Staat in Not bringen … Die Lösung der Bodenfrage ist laut Gesetz Sache der Konstituierenden Versammlung. Es werden jetzt allenthalben bei den Wolost-Lebensmittelkomitees landwirtschaftliche Schiedsgerichtskammern gebildet werden, zwecks freiwilliger Vereinbarungen zwischen Ackerbauern und Gutsbesitzern".

Das ist die wichtigste Stelle aus der Erklärung der Regierung zu dieser Frage. Wenn ihr die Resolution, die gestern oder vorgestern zu dieser Frage vom Haupt-Landkomitee angenommen wurde, ferner die Resolution, die ebenfalls dieser Tage in einer Konferenz von Dumaabgeordneten angenommen wurde, kennen lernt, so werdet ihr sehen, dass diese beiden Resolutionen von der gleichen Auffassung ausgehen. Sie werfen den Bauern, die die sofortige und unentgeltliche Übergabe des Bodens an die lokalen Bauernkomitees durchführen wollen, eigenmächtiges Vorgehen vor, davon ausgehend, dass nur eine freiwillige Verständigung der Bauern mit den Grundbesitzern, der Bodenbebauer mit den Bodenbesitzern, den allgemeinen Bedürfnissen und Interessen des Staates entspreche. Das eben bestreiten wir, dagegen wenden wir uns.

Untersuchen wir die Einwände, die gegen unseren Antrag erhoben werden. Gewöhnlich bestehen die Einwände darin, dass der Boden in Russland äußerst ungleichmäßig verteilt sei, sowohl zwischen den einzelnen kleineren Einheiten, wie Dörfer und Amtsbezirke, als auch zwischen den großen Einheiten, wie Provinzen und Gouvernements. Wenn die Ortsbevölkerung, sagt man nun, sich auf Grund ihres Mehrheitsbeschlusses, ohne Rücksicht auf die Wünsche der Grundbesitzer, des Bodens bemächtigen sollte, und noch dazu unentgeltlich, so würde die Ungleichmäßigkeit bestehen bleiben, ja es wäre sogar die Gefahr vorhanden, dass dieser Zustand eine Stärkung erfährt. Wir antworten darauf, dass dieses Argument auf einem Missverständnis beruht. Die Ungleichmäßigkeit in der Bodenverteilung wird sowieso bestehen bleiben, bis die Konstituante oder die zentrale Staatsgewalt überhaupt eine neue, endgültige Regelung vornimmt. Solange diese Regelung nicht erfolgt ist – ganz gleich, ob im Sinne der Bauern oder im Sinne der Grundbesitzer, ob das Land so, wie wir es wünschen, sofort an die Bauern übergeht, oder so, wie es die Grundbesitzer wünschen, die bereit sind, ihr Land zu hohen Preisen zu verpachten, unter der Bedingung, dass der pachtende Bauer und der Grundbesitzer ihre Rechte beibehalten, ob so oder anders – bleibt die ungleichmäßige Verteilung bestehen. Dieser Einwand gegen uns ist offensichtlich falsch und ungerecht. Wir sagen, dass es notwendig ist, so schnell wie möglich eine zentrale Staatsgewalt zu schaffen, die sich nicht nur auf den Willen und die Beschlüsse der Mehrheit der Bauernschaft stützt, sondern die auch die Meinung dieser Mehrheit unmittelbar zum Ausdruck bringt. Darüber besteht kein Streit. Die gegen die Bolschewiki erhobenen Einwände, die Angriffe der kapitalistischen Presse, die Behauptungen, dass wir Anarchisten seien, weisen wir aufs Entschiedenste zurück, wir betrachten diese Angriffe als böswillige Lügen und Verleumdungen.

Anarchisten nennt man diejenigen, die die Notwendigkeit der Staatsgewalt leugnen, wir aber sagen, dass sie unbedingt notwendig ist, und nicht nur augenblicklich für Russland, sondern für jeden Staat, selbst wenn er sich im direkten Übergang zum Sozialismus befindet. Eine feste Staatsmacht ist unbedingt notwendig! Wir wollen nur, dass diese Macht gänzlich und ausschließlich in den Händen der Mehrheit der Arbeiter-, Bauern- und Soldatendeputierten liege. Dadurch unterscheiden wir uns von den anderen Parteien. Wir leugnen keineswegs die Notwendigkeit einer starken Staatsgewalt, wir sagen nur, dass alles gutsherrliche Land unentgeltlich in die Hände der Bauern übergehen muss, auf Grund von Mehrheitsbeschlüssen der örtlichen Bauernkomitees, unter der Bedingung, dass das Inventar nicht beschädigt wird. Darauf ist in unserer Resolution ausdrücklich hingewiesen. Wir weisen den Einwand gegen unseren Standpunkt, als ob dies Faustrecht bedeute, auf das Entschiedenste zurück.

Nein, wenn die Grundbesitzer den Boden für sich zurückbehalten oder eine Entschädigung für ihn verlangen, so ist das in der Tat Faustrecht; wenn aber die Mehrheit der Bauernschaft sagt, dass das Land nicht in den Händen der Grundbesitzer bleiben darf, dass die Bauernschaft von diesen Grundbesitzern im Verlaufe vieler Jahrzehnte, im Verlaufe von Jahrhunderten nichts erfahren hat als Unterdrückung, so ist das nicht Faustrecht, dann ist das die Wiederherstellung des Rechts, und diese Wiederherstellung des Rechts darf nicht auf die lange Bank geschoben werden. Will man den Übergang des Grund und Bodens an die Bauern sofort durchführen, so kann die Ungleichmäßigkeit zwischen den einzelnen Gebieten nicht beseitigt werden – das unterliegt keinem Zweifel, aber diese Ungleichmäßigkeit wird niemand beseitigen, solange die Konstituierende Versammlung nicht zusammengetreten ist. Wenn man Schingarjow, der gegen uns auftritt und die Vertreter unserer Ansichten in amtlichen Erklärungen „Faustrechtler" schimpft, fragen wollte, was er denn gegen diese Ungleichmäßigkeit vorschlage, so könnte er keine Antwort geben. Er schlägt nichts vor und kann auch nichts vorschlagen!

Er sagt „freiwillige Vereinbarung zwischen Bauern und Gutsbesitzern". Was bedeutet das? Ich werde zwei grundlegende Zahlen anführen, die den Grundbesitz im europäischen Russland betreffen. Diese Zahlen zeigen, dass an einem Ende des russischen Dorfes die ungeheuer reichen Grundbesitzer stehen, zu denen auch die Romanows, die reichsten und schlimmsten Grundbesitzer, gehören, am anderen Ende aber die ärmsten Bauern. Ich werde beide Zahlen anführen, damit man sieht, welchen Wert diese Predigt Schingarjows, die Predigten aller Gutsbesitzer und Kapitalisten haben. Diese beiden Zahlen sind folgende: nimmt man die reichsten Grundbesitzer des europäischen Russlands, so zeigt sich, dass nicht ganz 30.000 Grundbesitzer etwa 70 Millionen Desjatinen Land besitzen. Es kommen also auf jeden einzelnen über 2000 Desjatinen. Wenn man die obersten Schichten der reichen russischen Gutsbesitzer nimmt, ohne Unterschied des Standes (die Mehrzahl rekrutiert sich aus dem Adel, es gibt aber auch andere Grundbesitzer), so sind es 30.000, und sie besitzen 70 Millionen Desjatinen! Wenn man aber die ärmste Bauernschaft betrachtet, auf Grund derselben Zählung von 1905, die die letzten in ganz Russland einheitlich gesammelten Angaben liefert – Angaben, die im Grunde zwar kein sehr großes Vertrauen verdienen, wie jede unter dem Zaren von Zarenbeamten aufgestellte Statistik, aber immerhin Daten enthalten, die der Wahrheit am nächsten kommen und sich am besten miteinander vergleichen lassen –, wenn man die ärmste Bauernschaft betrachtet, so ergibt sich, dass 10 Millionen Höfe 70 bis 75 Millionen Desjatinen besitzen. Das bedeutet: der eine besitzt über 2000 Desjatinen, der andere Desjatinen auf je einen Hof! Und da sagt man noch, es wäre Faustrecht, wenn die Bauern sich auf eine freiwillige Verständigung nicht einlassen! Was bedeutet denn diese „freiwillige Verständigung"? Sie bedeutet, dass die Grundbesitzer vielleicht gegen gute Bezahlung den Boden verpachten werden, aber unentgeltlich werden sie ihn niemandem geben. Ist das gerecht? Nein, das ist ungerecht. Ist das für die Bauernbevölkerung günstig? Nein, es ist ungünstig. In welcher Weise das Grundeigentum endgültig festgelegt werden wird, das ist Sache der künftigen Zentralgewalt, aber jetzt schon, sofort muss das Land der Gutsbesitzer ohne Entschädigung in die Hände der Bauernschaft übergehen, unter der Bedingung einer organisierten Besitzergreifung. Der Minister Tschernow hat im Haupt-Landkomitee, gegen meinen Parteigenossen Smilga polemisierend, gesagt, „organisierte Besitzergreifung" – das seien zwei Worte, die sich gegenseitig aufheben: wenn Besitzergreifung, dann ist es eben nicht organisiert, ist sie aber organisiert, so ist es eben keine Besitzergreifung. Ich denke, dass diese Kritik falsch ist. Ich denke, dass wenn die Bauernschaft einen Mehrheitsbeschluss im Dorf oder Amtsbezirk, im Kreis oder Gouvernement – und in manchen Gouvernements, wenn nicht in allen, haben die Bauernkongresse eine örtliche Regierungsgewalt errichtet, die die Interessen und den Willen der Mehrheit vertritt, eine Regierungsgewalt, die den Willen der Bevölkerung, das heißt der Mehrheit der Ackerbauer zum Ausdruck bringt –, wenn die Bauern eine solche Regierungsgewalt schaffen, so ist deren Beschluss ein Beschluss jener Regierungsmacht, die sie anerkennen werden. Das ist jene Macht, vor der die ortsansässige Bauernbevölkerung volle Achtung haben wird. Der Bauer soll wissen, dass er das Land der Gutsbesitzer nimmt, zahlt er, so soll er in die Bauernkassen, in die Kreiskassen zahlen, er soll wissen, dass dieses Geld zur Verbesserung der Landwirtschaft, zum Straßen- und Wegebau usw. verwendet wird. Er soll wissen, dass er nicht seinen eigenen Grund und Boden nimmt, aber auch nicht den der Grundbesitzer, sondern den Boden, der dem gesamten Volk gehört, über den die Konstituierende Versammlung endgültig verfügen wird. Darum darf es von Anbeginn der Revolution, von dem Moment der Gründung des ersten Landkomitees an keine Rechte der Grundbesitzer auf den Grund und Boden geben, und es dürfen auch keine Gelder für diesen Grund und Boden erhoben werden.

Zwischen uns und unseren Gegnern besteht ein grundlegender Gegensatz in der Auffassung dessen, was Ordnung und was Gesetz ist. Bisher galt als Ordnung und Gesetz das, was den Gutsbesitzern und Beamten genehm ist, wir aber behaupten, Ordnung und Gesetz ist das, was der Mehrheit der Bauernschaft genehm ist! Solange es keinen Allrussischen Rat der Räte, solange es keine Konstituierende Versammlung gibt, ist jede örtliche Regierungsgewalt, sind die Kreiskomitees, die Gouvernementskomitees die oberste Ordnung und das oberste Gesetz! Eigenmächtiges Handeln nennen wir es, wenn ein Gutsbesitzer auf Grund von Jahrhunderte alten Rechten eine „freiwillige" Verständigung mit dreihundert Bauernfamilien verlangt, von denen jede durchschnittlich Desjatinen besitzt! Wir sagen: „Mögen Mehrheitsbeschlüsse gefasst werden; wir wollen, dass die Bauern sofort, ohne einen Monat, eine Woche, oder auch nur einen Tag zu verlieren, das gutsherrliche Land erhalten!"

Nun wird gegen uns eingewendet: „Wenn die Bauern jetzt sofort den Boden an sich reißen, so werden es sicherlich die reicheren tun, die Vieh, Geräte usw. besitzen; wird das aber nicht gerade vom Standpunkte der ärmsten Bauernschaft gefährlich sein?" Genossen, auf dieses Argument muss ich näher eingehen, denn unsere Partei erklärt in allen unseren Beschlüssen, Programmen und Aufrufen an das Volk: „Wir sind die Partei der Lohnarbeiter und der ärmsten Bauern; ihre Interessen wollen wir schützen; durch sie und nur durch sie, durch diese Klassen kann die Menschheit von den Schrecken befreit werden, in die sie dieser Krieg der Kapitalisten gestürzt hat."

Solchen Einwänden, dass unsere Beschlüsse den Interessen der ärmsten Bauern nicht entsprächen, schenken wir deshalb außerordentliche Beachtung und wünschen auch, dass sie mit besonderer Aufmerksamkeit behandelt werden, denn diese Einwände berühren das Wesen der Sache, den Kern der Frage selbst. Das Wesen der Sache besteht eben in der Frage, in welcher Weise die Interessen der Lohnarbeiter, der städtischen und ländlichen, die Interessen der ärmsten Bauern in der vor sich gehenden Revolution gegen die Interessen der Gutsbesitzer und reichen Bauern, die ebenfalls Kapitalisten sind, verteidigt werden können und sollen. Natürlich ist das der springende Punkt, der Kern der Frage! Und nun wird gegen uns eingewendet, dass wenn man den Bauern die sofortige Besitzergreifung empfiehlt, dies in erster Linie diejenigen tun werden, die Geräte und Vieh besitzen, während die armen leer ausgehen werden. Ich frage euch, wird da eine freiwillige Vereinbarung mit den Gutsbesitzern Abhilfe schaffen?

Ihr wisst sehr gut, dass die Gutsbesitzer nur ungern ihr Land an jene Bauern verpachten, die keinen Groschen in der Tasche haben, dass sie im Gegenteil zu „freiwilligen" Vereinbarungen greifen, wenn ihnen eine gute Bezahlung winkt. Umsonst werden die Gutsbesitzer bisher ihren Boden wohl nicht hergegeben haben; bei uns in Russland hat jedenfalls kaum jemand etwas davon gemerkt.

Sagt man freiwillige Vereinbarung mit den Gutsbesitzern, so heißt das, die privilegierte, bevorzugte Lage, die Vorteile, die die reichen Bauern genießen, noch mehr stärken, vergrößern, festigen, denn sie können sicherlich den Gutsbesitzern zahlen, für jeden Gutsbesitzer aber ist der reiche Bauer der zahlungsfähige Mann. Der Gutsbesitzer weiß, dass er zahlen, dass von ihm das Geld auch eingetrieben werden kann, und darum werden gerade die reichen Bauern viel mehr durch die „freiwilligen" Vereinbarungen gewinnen als die armen. Umgekehrt wird ein Schuh daraus, wenn überhaupt eine Möglichkeit besteht, dem armen Bauern sofort zu Hilfe zu kommen, so nur durch eine solche Maßnahme, wie ich sie vorschlage, nämlich: der Grund und Boden muss sofort entschädigungslos den Bauern überlassen werden.

Das gutsherrliche Eigentum war und bleibt die größte Ungerechtigkeit. Die unentgeltliche Inbesitznahme des Grund und Bodens durch die Bauern ist, wenn sie auf einen Mehrheitsbeschluss hin erfolgt, keine eigenmächtige Handlung, sondern die Wiederherstellung des Rechtes. Das ist unser Standpunkt, und darum betrachten wir das Argument, dass die ärmste Bauernschaft dadurch benachteiligt werde, als eine große Ungerechtigkeit. Das soll eine „freiwillige" Vereinbarung sein – nur ein Schingarjow kann so etwas eine „freiwillige" Vereinbarung nennen –, wenn ein Gutsbesitzer 2000 Desjatinen besitzt, während 300 Bauern durchschnittlich je 7½ Desjatinen haben. Eine solche Vereinbarung freiwillig nennen, heißt den Bauer verhöhnen! Das wäre keine freiwillige Vereinbarung, sondern eine Zwangsvereinbarung für die Bauernschaft, und zwar so lange, bis jeder Wolost3-, Kreis-, Gouvernementsbauernrat bis hinauf zum Allrussischen Bauernrat erklärt haben wird, dass das Eigentum der Gutsbesitzer am Grund und Boden eine große Ungerechtigkeit ist, mit deren Aufhebung keine Stunde, keine Minute länger gezögert werden darf.

Das Eigentum am Grund und Boden steht der Volksgesamtheit zu und die Bestimmung hierüber hat die zentrale Staatsmacht zu treffen. Solange diese nicht zusammengetreten ist, sind es die örtlichen Regierungsgewalten, ich wiederhole es noch einmal, die das Land der Gutsbesitzer übernehmen, und das müssen sie auf Grund eines organisierten Mehrheitsbeschlusses tun. Es ist nicht wahr, was die Zeitungen schreien, in Russland herrsche Unordnung! Das ist nicht wahr, auf dem flachen Lande herrscht mehr Ordnung als vorher, denn die Beschlüsse werden von der Mehrheit gefasst; Gewalttätigkeiten an Gutsbesitzern sind fast gar nicht vorgekommen; die Fälle von Ungerechtigkeit und von begangenen Gewalttaten gegen Gutsbesitzer sind ganz vereinzelt; ihre Zahl ist geringfügig und übersteigt in ganz Russland nicht die Zahl der Fälle von Gewalttätigkeiten, die auch vorher immer vorgekommen sind.

Jetzt will ich noch auf ein Argument eingehen, das ich oft zu hören bekam und das ich in unserer Zeitung „Prawda" im Zusammenhang mit dem sofortigen Übergang des Bodens in die Hände der Bauernschaft behandelt habe.

Dieses Argument besteht darin, dass wenn man dem Bauer empfiehlt, sofort entschädigungslos das Land der Gutsbesitzer in Besitz zu nehmen, dies Unzufriedenheit, Erregung, Befürchtungen und vielleicht sogar die Empörung der Soldaten an der Front hervorrufen würde, die vielleicht sagen werden: „Wenn die Bauern jetzt vom Grund und Boden Besitz ergreifen, während wir an der Front bleiben müssen, so werden wir ohne Land bleiben." Die Soldaten würden möglicherweise alle von der Front weglaufen, und die Folge wäre Chaos und Anarchie. Darauf antworten wir, dass dieser Einwand die Hauptfrage gar nicht berührt: ganz gleich, ob nun das Land gegen Bezahlung, auf Grund einer Vereinbarung mit den Grundbesitzern oder auf Beschluss der Mehrheit der Bauernschaft genommen wird, solange der Krieg geht, bleiben die Soldaten sowieso an der Front, und sie werden natürlich an der Front bleiben und nicht ins Dorf zurückkehren können. Warum sollen die Soldaten an der Front nicht befürchten, dass die Gutsbesitzer, unter dem Schein einer freiwilligen Verständigung, den Bauern ungünstige Bedingungen auferlegen, warum aber sollen sie das fürchten, was die Mehrheit der Bauernschaft gegen die Gutsbesitzer beschließt? Das ist unerfindlich! Warum soll der Soldat an der Front zum Gutsbesitzer, zur „freiwilligen" Verständigung mit den Gutsbesitzern Vertrauen haben? Ich verstehe, wenn das die Parteien der Grundbesitzer und Kapitalisten sagen, aber dass das der Standpunkt des russischen Soldaten an der Front sein soll, daran glaube ich nicht. Die „freiwillige" Verständigung mit den Gutsbesitzern wird der Soldat nicht als Ordnung bezeichnen und kein Vertrauen zu ihr haben, er wird eher der Meinung sein, dass die alte gutsherrliche Unordnung fortbesteht.

Der Soldat wird mehr Vertrauen haben, wenn man ihm sagt: der Grund und Boden geht in den Besitz des Volkes über, die ortsansässigen Bauern pachten den Boden, bezahlen aber das Pachtgeld nicht an den Gutsbesitzer, sondern an ihr eigenes Komitee für gemeinnützige Zwecke, für die Nöte der Frontsoldaten, nicht aber für den Gutsbesitzer. Wird das mit Mehrheit beschlossen, so wird der Soldat an der Front erfahren, dass es keine „freiwilligen" Verständigungen mit den Gutsbesitzern geben kann, dass aber die Gutsbesitzer gleichberechtigte Bürger sind, denen niemand ein Leid antun will. Der Boden gehört dem ganzen Volk, mithin gehört er auch dem Gutsbesitzer, aber nicht auf Grund von Adelsvorrechten, sondern wie jedem Bürger sonst. Von dem Tage an, wo die Macht des Zaren, der der größte Grundbesitzer und Unterdrücker der Massen war, gestürzt ist, darf es keinerlei Vorrechte für die adligen Grundbesitzer mehr geben. Mit der Errichtung der Freiheit muss die Macht der Grundbesitzer ein für allemal als gestürzt gelten. Eine solche Auffassung hat nichts Nachteiliges für den Soldaten an der Front, im Gegenteil, er wird viel mehr Vertrauen zur Staatsmacht und die beruhigende Gewissheit haben, dass bei ihm zu Hause seiner Familie kein Unrecht geschieht, dass sie nicht vergessen wird.

Es bleibt noch ein Argument übrig, das gegen unseren Antrag ins Feld geführt wurde. Es besteht darin, dass, wenn die Bauern sofort die gutsherrlichen Ländereien an sich reißen, eine so rasche, wenig vorbereitete Besitzergreifung vielleicht zu einer Verschlechterung der Bodenbearbeitung führen, die Aussaat vielleicht schlechter sein werde. Ich muss sagen, die Regierung der Mehrheit, die allgemeine Staatsgewalt, ist noch nicht geschaffen, die Bauern haben noch nicht genügend Vertrauen zu sich selber und sie haben das Vertrauen zu den Grundbesitzern und den Kapitalisten noch nicht verloren; ich denke, dass wir uns dem aber mit jedem Tag mehr nähern, die Bauernschaft verliert mit jedem Tag mehr ihr Vertrauen zur alten Staatsgewalt, sie erkennt, dass die Regierung in Russland die Erwählten der Bauern, der Soldaten, der Arbeiter usw. sein müssen und niemand sonst; ich denke, dass jeder Tag uns dem näher bringt, nicht weil irgendwelche Parteien dazu raten: nie werden Millionen von Menschen auf die Ratschläge von Parteien hören, wenn diese Ratschläge nicht mit dem zusammenfallen, was die Erfahrung des eigenen Lebens sie lehrt. Wir nähern uns mit raschen Schritten der Zeit, wo es in Russland keine andere Gewalt mehr geben wird, als die der Arbeiter- und Bauerndelegierten. Und wenn man mir sagt, die sofortige Besitzergreifung des Grund und Bodens werde dazu führen, dass der Boden schlecht bearbeitet, die Aussaat schlecht sein wird, so muss ich gestehen, dass unsere Bauern, infolge ihrer Niederdrückung, infolge ihrer seit Jahrhunderten währenden Knechtung durch die Grundbesitzer, den Boden sehr schlecht bearbeiten. In Russland herrscht allerdings eine furchtbare Krise, die das Land, ebenso wie alle kriegführenden Länder, erfasst hat, und Russland wird sich nicht retten können, wenn es nicht zu besseren Methoden der Bodenbearbeitung, zur größten Sparsamkeit in der Verausgabung menschlicher Arbeit übergeht. Könnte aber jetzt, für die erste Aussaat, eine „freiwillige" Vereinbarung mit den Gutsbesitzern irgend etwas ändern? Werden etwa die Gutsbesitzer auf die Bodenbearbeitung besser aufpassen oder werden die Bauern den Boden schlechter bestellen, wenn sie wissen, dass es nicht Gutsbesitzerland ist, sondern Land, das dem gesamten Volk gehört, dass sie nicht dem Gutsbesitzer zahlen, sondern in ihre eigenen Bauernkassen? Das ist ein solcher Unsinn, dass ich mich wundere, wenn ich solche Argumente höre; das ist ganz unwahrscheinlich und von Anfang bis zu Ende nichts als eine Hinterlist der Gutsbesitzer.

Die Grundbesitzer haben begriffen, dass man mit der Knute nicht mehr herrschen kann, das haben sie gut begriffen, und sie gehen zu einer Herrschaftsmethode über, die für Russland neu ist, in Westeuropa aber seit langem besteht. Dass man mit der Knute nicht länger herrschen kann, das haben bei uns zwei Revolutionen bewiesen, und in den westeuropäischen Ländern zeigten das Dutzende von Revolutionen. Aus diesen Revolutionen haben die Grundbesitzer und Kapitalisten gelernt, sie haben daraus gelernt, dass man das Volk mit Betrug, mit Schmeicheleien regieren muss; dass man, auch wenn man ein Ausbeuter ist, sich anpassen muss, ein rotes Abzeichen ins Knopfloch stecken und sagen muss: „wir sind die revolutionäre Demokratie, bitte, wartet nur ab, wir werden schon alles für euch tun." Das Argument, als würden die Bauern den Boden schlechter bestellen, wenn es sich nicht mehr um Gutsbesitzerland handelt, sondern um Land, das dem gesamten Volke gehört, ist geradezu eine Verhöhnung der Bauern, ein Versuch, die Herrschaft über sie durch Betrug aufrecht zu erhalten.

Ich wiederhole, ein Gutsbesitzereigentum darf es überhaupt nicht geben; Besitz ist noch kein Eigentum, der Besitz ist eine vorübergehende Maßnahme, er ändert sich jedes Jahr. Der Bauer, der ein Stück Land in Pacht erhält, wagt nicht, dies Land als sein eigenes zu betrachten. Das Land gehört weder ihm noch dem Gutsbesitzer, es gehört dem Volk. Ich wiederhole, dadurch kann die Bestellung der Felder in diesem Jahr, in diesem Frühjahr nicht schlechter werden. Eine solche Annahme ist so ungeheuerlich und unwahrscheinlich, dass ich euch nur eines sage: man muss sich vor den Gutsbesitzern in Acht nehmen, man darf ihnen nicht vertrauen, man darf sich durch freundliche Worte und Versprechungen nicht betrügen lassen. Man muss daran denken, dass der Mehrheitsbeschluss der Bauern, die in ihren Beschlussfassungen sehr vorsichtig sind, ein gesetzlicher und staatlicher Beschluss ist. In dieser Beziehung kann man sich auf die Bauern verlassen. Ich habe zum Beispiel einen Beschluss der Bauern aus Pensa in Händen, der vom ersten bis zum letzten Punkt durchdrungen ist von außerordentlicher Vorsicht; die Bauern beabsichtigen keine sofortigen Umgestaltungen für ganz Russland, sie wollen sich aber nicht wieder in die unerträglichste Knechtschaft jagen lassen, und darin haben sie Recht. Die schlimmste Knechtschaft ist und bleibt die der Grundbesitzer und Unterdrücker. Darum darf keine Woche, keine Stunde länger mit der Beseitigung dieser Knechtschaft gezögert werden, doch muss jede Besitzergreifung des Bodens eine organisierte sein, nicht als Eigentum, nicht zur Teilung, sondern nur zur gemeinsamen Nutzung des Landes, das dem ganzen Volke gehört.

Diese Frage der Besitzergreifung könnte ich beenden, indem ich antworte: die Einwände gegen unseren Antrag beruhen bei den Grundbesitzern und Kapitalisten auf Betrug, bei den Nichtgrundbesitzern, den Nichtkapitalisten aber, bei den Leuten, die den Wunsch haben, die Interessen der Werktätigen zu verteidigen, beruhen sie auf einem Missverständnis, auf einem übermäßigen Vertrauen zu dem, was die Kapitalisten und Grundbesitzer verlogenerweise von uns erzählen. Prüft man unsere Argumente, so zeigt es sich, dass die gerechte Forderung nach der sofortigen Aufhebung des grundherrlichen Eigentums, ebenso wie der Übergang des Grundeigentums auf das Volk, sich nicht verwirklichen lässt, solange die zentrale Staatsgewalt nicht beisammen ist, doch empfehlen wir aufs Dringendste den sofortigen Übergang des Grund und Bodens in den Besitz der ortsansässigen Bauern, und zwar so, dass nicht die geringste Verletzung der Ordnung zugelassen wird. In unseren Resolutionen erteilen wir diesen Ratschlag; vielleicht ist er überflüssig, weil die Bauern ihn ohnehin in die Wirklichkeit umsetzen.

Ich komme nun zu der zweiten Frage, die die größte Aufmerksamkeit beansprucht, nämlich zu der Frage, was unseres Erachtens im Interesse der werktätigen Massen mit dem Grund und Boden zu geschehen hat, wenn er bereits Volkseigentum geworden und das Privateigentum aufgehoben sein wird. Diese Stunde ist in Russland ganz nahe. In der Tat ist die Macht der Grundherren, wenn noch nicht vernichtet, so doch untergraben. Wenn der Grund und Roden im Besitz aller Bauern ist, wenn es keine Grundherren mehr gibt, was dann, wie soll das Land verteilt werden? Über diese Frage muss meines Erachtens eine gewisse allgemeine Richtschnur festgelegt werden, weil selbstverständlich das Verfügungsrecht stets bei der ortsansässigen Bauernschaft bleibt. In einem demokratischen Staat kann es auch nicht anders sein, das ist so klar, dass man darüber keine weiteren Worte zu verlieren braucht. Wenn aber die Frage gestellt wird, was geschehen muss, damit der Grund und Boden in die Hände der Werktätigen kommt, so sagen wir: wir wollen die Interessen der Lohnarbeiter und der ärmsten Bauern verteidigen. Das stellt sich unsere Partei der russischen bolschewistischen Sozialdemokraten zur Aufgabe. Wir fragen uns: wenn man sagt, dass der Grund und Boden in die Hände des Volkes übergeht, ist es dasselbe, wie wenn man sagt, dass der Grund und Boden in die Hände der Werktätigen übergeht? Und wir antworten: nein, das ist nicht dasselbe! Wenn man sagt, dass der Boden in den Besitz des Volkes übergehen wird, so bedeutet das, dass das Eigentum der Grundherren abgeschafft wird; das bedeutet, dass der gesamte Grund und Boden dem gesamten Volk gehört; das bedeutet, dass jeder, der Boden bekommt, ihn vom ganzen Volke in Pacht nimmt. Bürgert sich eine solche Ordnung ein, so heißt das, dass es keine Unterschiede hinsichtlich des Grundbesitzes mehr gibt, dass der ganze Grund und Boden gleich ist, wie die Bauern oft sagen: „Alle alten Einhegungen werden fallen, die Erde wird frei werden von allen Schranken; dann wird es freies Land und freie Arbeit geben."

Bedeutet das, dass das Land allen Werktätigen übergeben wird? Nein, das bedeutet es nicht. Freie Arbeit auf freier Scholle, das bedeutet, dass alle alten Formen des Grundbesitzes verschwunden sind, dass es keinen anderen Grundbesitz gibt als den staatlichen; jeder pachtet den Boden vom Staat; es besteht die allgemeine Staatsgewalt, die Macht aller Arbeiter und Bauern; von dieser Macht nimmt der Bauer das Land als Pächter; zwischen Staat und Bauer gibt es keine Vermittler; alle bekommen das Land auf derselben Grundlage; das ist freie Arbeit auf freier Scholle.

Bedeutet das, dass der Grund und Boden in die Hände aller Werktätigen übergeht? Nein, das bedeutet es nicht. Man kann den Boden nicht essen; um ihn bewirtschaften zu können, braucht man Geräte, Vieh, allerhand Einrichtungen, Geld; ohne Geld, ohne Geräte kann man nicht wirtschaften. Wenn ihr also eine solche Ordnung einführt, dass es freie Arbeit auf freier Erde gibt, wird es keinen adligen Grundbesitz, keine Rangordnung in Bezug auf den Boden geben, es wird nur Eigentum der Allgemeinheit geben und freie Pächter, die den Boden vom Staat pachten. Wenn das durchgeführt sein wird, so heißt es noch nicht, dass der Grund und Boden in die Hände aller Werktätigen übergegangen ist, es bedeutet lediglich, dass jeder Landwirt über den Boden frei verfügen wird; wer Lust dazu hat, wird den staatlichen Grund und Boden frei nehmen. Das wird, im Vergleich zum zaristischen, feudalen Russland, ein großer Schritt vorwärts sein. Das wird ein großer Schritt vorwärts sein, denn das feudale zaristische Russland war ein Russland, in dem 70 Millionen Desjatinen 30.000 Markows, Romanows und ähnlichen Grundherren überlassen waren; jetzt wird es ein Russland sein, in dem es freie Arbeit auf freier Erde geben wird. Schon jetzt ist das in vielen Gegenden geschehen. Russland hat bereits jetzt, im Vergleich zu dem Russland der Zaren und Gutsherren, einen Schritt vorwärts getan, aber das ist kein Übergang des Rodens in die Hände der Werktätigen, es ist vielmehr der Übergang des Bodens in die Hände des einzelnen Landwirts, denn wenn auch der Boden Staatseigentum ist und jeder ihn nehmen kann, der ihn bewirtschaften will, so ist es noch wenig, das Wollen allein genügt nicht, man muss ihn zu bewirtschaften verstehen, aber auch das genügt noch nicht. Jeder Landarbeiter und jeder Bauer versteht es schon, was ihm aber fehlt, ist Vieh, Gerätschaft, Kapital, und darum mag man beschließen, so viel man will, mag man reden, so viel man will, dadurch wird die freie Arbeit auf freier Erde nicht errichtet. Selbst wenn wir in jedem Dorfbezirksamt Aufschriften über den freien Grund und Boden anbrächten, so würde dadurch für die Werktätigen nichts besser werden, ebenso wenig wie die Gefängnisse in den westeuropäischen Republiken, wo sie die Aufschrift „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" tragen, dadurch aufhören, Gefängnisse zu sein. Wenn man an die Fabrik die Worte „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" schreibt, wie es in Amerika der Fall ist, so hört die Fabrik darum doch nicht auf, ein Zuchthaus für die Arbeiter und ein Paradies für die Kapitalisten zu sein.

Man muss also jetzt an das Weitere denken, in welcher Weise kann erreicht werden, dass es nicht nur freie Arbeit gibt – das ist ein Schritt vorwärts, aber noch kein Schritt zum Schutz der Interessen der Werktätigen, es ist ein Schritt zur Befreiung von der Raubgier der Gutsherren, von der Ausbeutung durch sie, ein Schritt zur Befreiung von den Markows, der Polizei usw., es ist aber kein Schritt zum Schutz der Interessen der Werktätigen, denn ohne Vieh, ohne Geräte, ohne Kapital kann der arme, besitzlose Bauer den Boden nicht bewirtschaften. Aus diesem Grunde hege ich starkes Misstrauen gegen die sogenannten zwei Maßstäbe oder zwei Normen, die Arbeitsnorm und die Existenznorm. Ich weiß, dass in den Parteien der Narodniki stets Betrachtungen und Erläuterungen zu diesen Normen zu finden sind. Ich weiß, dass diese Parteien den Standpunkt vertreten, dass es notwendig sei, diese beiden Normen, diese beiden Maßstäbe einzuführen: die Arbeitsnorm, die Größe des Bodenstückes, über die hinaus die Familie den Boden nicht mehr bearbeiten kann, und die Existenznorm, die Größe des Bodenstückes, deren Unterschreitung schon Hungerleiden bedeuten würde. Ich sage, dass ich dieser Frage nach den Normen oder Maßstäben mit großem Misstrauen gegenüberstehe, und denke, dass dies ein bürokratischer Plan ist, der keinen Nutzen bringen wird, der nicht lebensfähig ist, selbst wenn ihr hier diesen Plan zum Beschluss erhebt. Das ist eben des Pudels Kern! Dieser Plan kann keine irgendwie merkliche Erleichterung in der Lage der Lohnarbeiter und der ärmsten Bauern herbeiführen, dieser Plan wird, selbst wenn ihr ihn annehmt, auf dem Papier bleiben, solange der Kapitalismus herrscht. Dieser Plan wird nicht helfen, einen richtigen Weg für den Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus zu finden.

Wenn man von diesen beiden Maßstäben, von diesen beiden Normen spricht, dann stellt man sich die Sache so vor, als gebe es nur den Grund und Boden und die Bürger und sonst nichts auf Erden. Wenn dem so wäre, würde auch dieser Plan gut sein.

Aber die Sache verhält sich anders. Es besteht die Macht des Kapitals, die Macht des Geldes, ohne Geld kann es auf der freiesten Erde, mögen die „Maßstäbe" sein wie sie wollen, keine Wirtschaft geben, denn solange das Geld bleibt, bleibt auch die Lohnarbeit bestehen. Das aber bedeutet, dass die reichen Bauern, von denen es in Russland nicht weniger als eine Million Familien gibt, die Lohnarbeiter unterdrücken und ausbeuten und sie auch auf der „freien" Erde unterdrücken würden. Diese reichen Bauern mieten stets, nicht etwa als Ausnahme, sondern in der Regel, Arbeiter – auf einen Tag, auf ein Jahr oder für eine andere festgesetzte Zeit – d. h. sie beuten die ärmsten Bauern, die Proletarier aus. Und daneben gibt es Millionen und aber Millionen von Bauern, die kein Pferd besitzen, die nicht bestehen können, ohne ihre Arbeitskraft zu verkaufen, ohne sich in der Fremde einen Erwerb zu suchen usw. Solange die Macht des Geldes besteht, werden alle „Normen" im besten Falle im praktischen Leben untauglich sein, denn sie berücksichtigen die Hauptsache nicht, nämlich dass das Eigentum an Geräten, an Vieh, an Geld ungleichmäßig verteilt ist; sie berücksichtigen den Umstand nicht, dass es die Lohnarbeit gibt, die der Ausbeutung unterworfen ist. Diese grundlegende Tatsache des gegenwärtigen russischen Lebens kann nicht umgangen werden, und wenn wir irgendwelche „Maßstäbe" einführen, so wird das Leben sie umgehen, und die „Maßstäbe" werden auf dem Papier bleiben. Darum kann man nicht den Weg der Einführung von Normen oder Maßstäben gehen, wenn man die Interessen der besitzlosen und ärmsten Bauern verteidigen will in dieser gewaltigen Umgestaltung Russlands, die ihr jetzt vollbringt und die ihr zweifellos vollbringen werdet, wenn das Privateigentum am Grund und Boden aufgehoben, wenn ein Schritt vorwärts gemacht sein wird auf dem Wege zur besseren sozialistischen Zukunft. Wenn man in dieser gewaltigen Umgestaltung, die ihr erst begonnen habt und die weit um sich greifen wird, weil es keine Kraft gibt, die das verhindern könnte, die Interessen der Arbeiter und der ärmsten Bauern verteidigen will, muss man einen anderen Weg suchen.

Ich und meine Parteifreunde, in deren Namen zu sprechen ich die Ehre habe, wir kennen nur zwei solche Wege der Verteidigung der Interessen der landwirtschaftlichen Lohnarbeiter und ärmsten Bauern, und diese beiden Wege empfehlen wir der Aufmerksamkeit des Bauernrates.

Der erste Weg – das ist die Organisation der landwirtschaftlichen Lohnarbeiter und der ärmsten Bauern. Wir wünschen und empfehlen, dass in jedem Bauernkomitee, in jedem Amtsbezirk, jedem Kreis, jedem Gouvernement eine besondere Fraktion oder besondere Gruppe von landwirtschaftlichen Lohnarbeitern und ärmsten Bauern gebildet werde, von solchen, die sich fragen müssen: wenn der Boden morgen in den Besitz des Volkes übergeht – und das wird er unbedingt, denn das Volk will es –, was tun wir dann? Wir, die wir kein Vieh, kein Gerät besitzen, woher sollen wir all das nehmen? Wie sollen wir wirtschaften? Wie sollen wir unsere Interessen verteidigen? Wie können wir dafür sorgen, dass der Grund und Boden, der Volksbesitz sein wird, nicht nur in die Hände von Besitzenden gelange? Wenn er in die Hände derjenigen gerät, die genügend viel Vieh und Gerät besitzen, werden wir dann viel Nutzen davon haben? Haben wir dazu diese gewaltige Umwälzung vollbracht? Ist es das, was uns not tut?

Der Grund und Boden wird dem „Volk" gehören, aber das genügt nicht für den Schutz der Interessen der landwirtschaftlichen Lohnarbeiter. Der Hauptweg ist nicht der, dass von hier aus, von oben her, oder durch das Bauernkomitee ein „Maßstab" für den Grundbesitz des Einzelnen festgelegt wird. Diese Maßstäbe werden nichts nützen, solange das Kapital herrscht, sie werden die Herrschaft des Kapitalismus nicht beseitigen. Damit man sich vom Joch des Kapitalismus befreien kann, damit der dem Volke gehörende Grund und Boden in den Besitz der Werktätigen übergeht, dazu gibt es nur einen Hauptweg: es ist der Weg der Organisation der landwirtschaftlichen Lohnarbeiter, die sich leiten lassen werden von ihrer Erfahrung, von ihren Beobachtungen, von ihrem Misstrauen gegen alles, was ihnen die Ausbeuter sagen, mögen diese auch ein rotes Bändchen im Knopfloch tragen und sich „revolutionäre Demokratie" nennen.

Nur die selbständige Organisation an allen Orten, nur die eigene Erfahrung kann den ärmsten Bauern eine Schule sein. Diese Erfahrung aber wird keine leichte sein, wir können nicht versprechen und versprechen auch nicht, dass Milch und Honig fließen werden. Nein, die Grundherren werden zwar gestürzt werden, weil das Volk es will, aber der Kapitalismus bleibt. Diesen zu stürzen ist viel schwieriger, dazu führt ein anderer Weg. Das ist der Weg der selbständigen besonderen Organisationen der landwirtschaftlichen Lohnarbeiter und ärmsten Bauern.

Das ist es, was unsere Partei in den Vordergrund stellt. Nur von diesem Weg kann man tatsächlich den allmählichen, nicht leichten, aber sicheren Übergang des Bodens in die Hände der Werktätigen erwarten.

Der zweite Schritt, den unsere Partei empfiehlt, besteht darin, dass aus jedem landwirtschaftlichen Großbetrieb, beispielsweise aus jedem großen Gut, deren es in Russland 30.000 gibt, so schnell wie möglich Musterwirtschaften gebildet werden, die gemeinsam von den Landarbeitern im Verein mit gelehrten Agronomen, unter Verwendung des gutsherrlichen Viehs, der Gerätschaften usw. zu bearbeiten wären. Ohne diese gemeinsame Bearbeitung unter der Leitung der Räte der Landarbeiter wird man nicht erreichen, dass der gesamte Grund und Boden in die Hände der Werktätigen übergeht. Natürlich ist die gemeinsame Bearbeitung eine schwierige Sache, natürlich wäre es Wahnsinn, wenn man sich einbilden wollte, dass eine solche gemeinsame Bearbeitung des Bodens von oben her dekretiert und aufgezwungen werden könnte, weil die jahrhundertelange Gewohnheit an die Einzelwirtschaft nicht plötzlich verschwinden kann, weil man dazu Geld braucht, weil man sich den neuen Lebensformen erst anpassen muss. Wenn diese Ratschläge, diese Ansicht über die gemeinsame Bodenbearbeitung, das gemeinsame Inventar und Vieh, mit der zweckmäßigsten Verwendung der Geräte unter der Leitung von Agronomen, wenn diese Ratschläge Erfindungen einzelner Parteien wären, so wäre es schlimm. Denn auf den Rat irgendeiner Partei hin treten keine Änderungen im Leben des Volkes ein, auf den Rat irgendeiner Partei hin machen nicht viele Millionen von Menschen Revolution, eine solche Wandlung aber wird eine viel größere Revolution sein als der Sturz des schwachsinnigen Nikolai Romanow. Ich wiederhole, Millionen von Menschen machen nicht Revolution auf Bestellung, sie machen sie, wenn die ausweglose Not sie dazu zwingt, wenn das Volk in eine unerträgliche Lage geraten ist, wenn der allgemeine Ansturm, die Entschlossenheit Dutzender Millionen von Menschen alle alten Schranken niederreißt und tatsächlich imstande ist, ein neues Leben zu schaffen. Wenn wir zu einer solchen Maßnahme raten, wenn wir raten, mit Vorsicht an sie heranzugehen, wenn wir sagen, dass sie zur Notwendigkeit wird, so leiten wir das nicht aus unserem Programm, aus unserer sozialistischen Lehre ab, sondern wir tun es, weil wir als Sozialisten durch die Beobachtung des Lebens der westeuropäischen Völker zu dieser Schlussfolgerung gelangt sind. Wir wissen, dass es dort viele Revolutionen gegeben hat, die demokratische Republiken geschaffen haben; wir wissen, dass in Amerika im Jahre 1865 die Sklavenhalter besiegt wurden4 und dass dann hunderte Millionen von Desjatinen an die Bauern umsonst oder fast umsonst verteilt worden sind, und trotzdem herrscht dort der Kapitalismus, wie nirgends sonst, und unterdrückt die werktätigen Massen ebenso, wenn nicht noch mehr, wie in anderen Ländern. Die sozialistische Lehre und die Beobachtung anderer Völker ist es also, die uns zu der festen Überzeugung brachte, dass es ohne die gemeinsame Bodenbearbeitung durch die Landarbeiter unter Anwendung der besten Maschinen und unter Leitung von wissenschaftlich gebildeten Agronomen keinen Ausweg aus der Knechtschaft des Kapitalismus gibt. Würden wir uns aber nur auf die Erfahrung der westeuropäischen Staaten stützen, so stände es schlimm um unsere Sache in Russland, denn das russische Volk ist nur dann in seiner Masse fähig, einen ernsten Schritt auf dem neuen Weg zu machen, wenn die äußerste Not sich einstellt. Und wir sagen: es ist eben die Zeit gekommen, wo diese äußerste Not für das gesamte russische Volk an die Tür pocht. Diese äußerste Not besteht darin, dass man in der alten Weise nicht mehr wirtschaften kann. Wenn wir in alter Weise in kleinen Wirtschaften sitzen werden, und sei es auch als freie Bürger auf freier Scholle, so droht uns doch der unvermeidliche Untergang, weil der wirtschaftliche Zerfall mit jedem Tage, mit jeder Stunde näher rückt. Davon sprechen alle; das ist eine Tatsache, die nicht durch den bösen Willen einzelner Leute verursacht ist, sondern durch den räuberischen Weltkrieg, durch den Kapitalismus.

Der Krieg hat unzählige Menschen vernichtet, die ganze Welt schwimmt in Blut, der Krieg führte die ganze Welt ins Verderben. Das ist keine Übertreibung. Niemand ist des morgigen Tages sicher; davon sprechen alle. Seht euch die „Iswestija" des Rates der Arbeiter- und Soldatendeputierten an, dort sagen alle, die Kapitalisten greifen zu passiver Resistenz und zu Aussperrungen. Das heißt: es gibt keine Arbeit, und die Kapitalisten entlassen die Arbeiter in Massen. So weit hat dieser verbrecherische Krieg nicht nur Russland, sondern alle Länder gebracht.

Aus diesem Grunde sagen wir: die Einzelbewirtschaftung, und sei es auch durch „freie Arbeit auf freier Scholle", ist kein Ausweg aus der schrecklichen Krise, aus der allgemeinen Zerstörung, ist keine Rettung. Notwendig ist die allgemeine Arbeitspflicht, die außerordentlich sparsame Ausnutzung der menschlichen Arbeit. Eine außerordentlich starke und entschlossene Staatsmacht ist notwendig, die imstande wäre, diese allgemeine Arbeitspflicht durchzuführen; die Beamten können sie nicht durchführen, sie kann nur durchgeführt werden von den Räten der Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten, weil sie das Volk selber, die Volksmassen selber sind, weil sie keine bürokratische Staatsmacht sind, nur sie, die das ganze Leben der Bauern von oben bis unten kennen, sind imstande, die Arbeitspflicht, den Schutz der menschlichen Arbeit einzuführen und eine Vergeudung der Arbeit des Bauern zu verhüten, so dass der Übergang zur gemeinsamen Bodenbearbeitung allmählich und behutsam erfolgen könnte. Das ist eine schwierige Sache, aber man muss in den großen Musterwirtschaften zur gemeinsamen Bodenbearbeitung übergehen, sonst kann der Zustand der Zerrüttung, die geradezu verzweifelte Lage, in der sich Russland befindet, nicht überwunden werden, und es wäre der größte Fehler, wenn jemand glauben wollte, dass eine so gewaltige Umgestaltung im Leben des Volkes mit einem Schlage vollbracht werden könne. Nein, das bedarf einer großen Arbeit, bedarf der Anstrengung, der Entschlossenheit und der Tatkraft jedes einzelnen Bauern, jedes Arbeiters an dem Ort, wo er wohnt, in dem Betriebe, den er kennt, in der Produktion, in der er seit Jahrzehnten beschäftigt ist. Eine solche Sache lässt sich nicht auf Befehl machen, aber sie muss gemacht werden, denn der Eroberungskrieg hat die gesamte Menschheit an den Rand des Abgrundes gebracht. Dutzende Millionen von Menschenleben sind vernichtet, noch mehr wird durch diesen schrecklichen Krieg vernichtet werden, wenn wir nicht unsere ganze Kraft anspannen, wenn nicht alle Organisationen der Arbeiter- und der Bauerndeputiertenräte gemeinsam und entschieden vorgehen und den Weg zur gemeinsamen Bodenbearbeitung ohne Kapitalisten, ohne Grundbesitzer beschreiten. Einzig und allein dieser Weg wird den wirklichen Übergang des Bodens in die Hände der Werktätigen ermöglichen.

1 Der Resolutionsentwurf zur Agrarfrage wurde von Lenin auf dem ersten Allrussischen Kongress der Bauerndeputierten eingebracht und erhielt bei der Abstimmung nur wenige Stimmen. – Näheres über den ersten Bauernkongress siehe Anmerkung 167, S. 569 des ersten Halbbandes.

2 Es handelt sich um die Sitzung des Haupt-Landkomitees vom 2. Juni (20. Mai) 1917. In dieser Sitzung wurde eine Deklaration zur Agrarfrage angenommen, in der es u. a. hieß: „… Der künftigen Agrarreform muss der Gedanke zugrunde liegen, dass alle Ländereien von landwirtschaftlicher Bedeutung in die Nutznießung der werktätigen ackerbauenden Bevölkerung übergehen müssen … Bis zur Einberufung der Konstituierenden Versammlung kann niemand eine endgültige Lösung der Agrarfrage beschließen und erst recht nicht durchführen… Die Versuche der Bevölkerung, durch Besitzergreifung fremder Ländereien auf eigne Faust ihre Landnot zu beheben, bilden eine ernste Gefahr für den Staat und werden statt einer Lösung der Agrarfrage eine Menge neuer Fragen aufrollen, die ohne die heftigsten Erschütterungen des gesamten Lebens des Volkes nicht gelöst werden können…" Zwecks besserer Vorbereitung der Agrarreform wird in der Deklaration vorgeschlagen, die Organisierung von Landkomitees in die Wege zu leiten, „deren Tätigkeit über den vom Gesetz festgelegten Rahmen nicht hinausgehen darf". Der Antrag Smilgas , sich für die sofortige organisierte Besitzergreifung der gutsherrlichen Ländereien durch die Bauernschaft auszusprechen, wurde von der sozial-revolutionären Mehrheit abgelehnt.

3 Wolost – der aus mehreren Dorfgemeinden bestehende Verwaltungsbezirk. Die Red.

4 Der nordamerikanische Bürgerkrieg (1861-1865) war seinem Wesen nach ein Kampf zwischen der Bourgeoisie des Nordens und Ostens und der Grundaristokratie des Südens um die Herrschaft im Staate. Die Plantagenwirtschaft der Südstaaten beruhte auf Sklavenarbeit. Die industriellen Nord- und Oststaaten konnten sich mit der Vorherrschaft der Südstaaten, die die Sklaverei auszudehnen suchten, nicht abfinden, da die Industrie zu ihrer Entwicklung der „freien" Arbeitskräfte bedarf. Der jahrzehntelang währende Kampf steigerte sich schließlich 1861 zum offenen Bürgerkrieg. Der Krieg verlief anfangs für die Südstaaten günstig, auf die Dauer jedoch mussten sie gegenüber der industriellen Überlegenheit des Nordens unterliegen, und so endete der Bürgerkrieg mit der völligen militärischen Zertrümmerung der Südtruppen. Am 22. September 1862 erließ der Präsident der Nordstaaten Lincoln eine Proklamation, die alle in den Südstaaten gehaltenen Sklaven mit Wirkung vom 1. Januar 1863 ab für frei erklärte. 1865 wurde die Abschaffung der Sklaverei durch einen Verfassungszusatz zum allgemeinen Gesetz erhoben. Der amerikanische Bürgerkrieg ebnete den Boden für die kapitalistische Entwicklung der Vereinigten Staaten.

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