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Wladimir I. Lenin 19171224 Thesen über die Konstituante

Wladimir I. Lenin: Thesen über die Konstituante

[Abgefasst am 24. (11.) oder 25. (12.) Dez. 1917 „Prawda", Nr. 213, 26. (13.) Dezember 1917. Nach Sämtliche Werke, Band 22 1934, S. 132-136]

1. Die Forderung der Einberufung der Konstituante gehörte ganz mit Recht zum Programm der revolutionären Sozialdemokratie, weil in der bürgerlichen Republik die Konstituante die höchste Form der Demokratie ist und weil die imperialistische Republik mit Kerenski an der Spitze bei der Schaffung des Parlaments die Fälschung der Wahlen durch eine Reihe von Verletzungen der Demokratie vorbereitete.

2. Die revolutionäre Sozialdemokratie, die die Forderung der Einberufung der Konstituante aufstellte, betonte seit Beginn der Revolution von 1917 wiederholt, dass die Räterepublik eine höhere Form der Demokratie ist als die gewöhnliche bürgerliche Republik mit einer Konstituante.

3. Für den Übergang von der bürgerlichen zur sozialistischen Ordnung, für die Diktatur des Proletariats ist die Republik der Arbeiter-, Soldaten- und Bauernräte nicht nur eine höhere Form der demokratischen Einrichtungen (im Vergleich mit der gewöhnlichen bürgerlichen Republik und der Konstituante als ihrer Krönung), sondern auch die einzige Form, die imstande ist, einen möglichst schmerzlosen Übergang zum Sozialismus zu sichern.

4. Die Einberufung der Konstituante in unserer Revolution, auf Grund von Listen, die Mitte Oktober 1917 eingereicht worden sind, geht unter Verhältnissen vor sich, die es unmöglich machen, dass der Wille des Volkes im Allgemeinen und der werktätigen Massen im Besonderen bei den Wahlen zu dieser Konstituante richtig zum Ausdruck kommt.

5. Erstens bringt das Proportionalwahlsystem nur dann den wirklichen Willen des Volkes zum Ausdruck, wenn die Wahllisten der Parteien wirklich der Gliederung des Volkes in jene Parteigruppierungen entsprechen, die sich in diesen Listen widerspiegeln. Bei uns dagegen hat bekanntlich die Partei, die von Mai bis Oktober die größte Zahl der Anhänger im Volke und insbesondere unter der Bauernschaft hatte, die Partei der Sozialrevolutionäre, Mitte Oktober 1917, einheitliche Kandidatenlisten für die Konstituante aufgestellt, hat sich jedoch nach den Wahlen zur Konstituante, vor ihrer Einberufung, gespalten.

Infolgedessen besteht nicht einmal eine formale Übereinstimmung zwischen dem Willen der Wähler in ihrer Masse und der Zusammensetzung der Abgeordneten der Konstituante, und kann auch nicht bestehen.

6. Zweitens, eine noch wichtigere, keine formale, keine juristische, sondern eine gesellschaftlich-ökonomische Klassenursache des Missverhältnisses zwischen dem Willen des Volkes und besonders der werktätigen Klassen und der Zusammensetzung der Konstituante ist der Umstand, dass die Wahlen zur Konstituante vor sich gingen, als die erdrückende Mehrheit des Volkes noch nicht den ganzen Umfang und die Bedeutung der Oktoberrevolution, der Sowjetrevolution, der proletarisch-bäuerlichen Revolution erkennen konnte, die am 7. November (25. Oktober) 1917, d. h. nach der Einreichung der Kandidatenlisten zur Konstituante, begonnen hat.

7. Die Oktoberrevolution, die die Macht für die Räte eroberte, die politische Herrschaft den Händen der Bourgeoisie entriss und sie dem Proletariat und der armen Bauernschaft übergab, macht vor unseren Augen die aufeinanderfolgenden Etappen ihrer Entwicklung durch.

8. Sie begann mit dem Siege vom 6.-7. November (24.-25. Oktober) in der Hauptstadt, als der Zweite Allrussische Kongress der Arbeiter- und Soldatenräte, dieser Avantgarde der Proletarier und des politisch regsten Teils der Bauernschaft, die Mehrheit den Bolschewiki brachte und sie an die Macht stellte.

9. Die Revolution erfasste dann im Laufe des November und Dezember die gesamte Masse der Armee und der Bauernschaft und kam vor allem zum Ausdruck in der Absetzung und in der Neuwahl der alten Spitzenorganisationen (Armeekomitees, Gouvernements-, Bauernkomitees, des Zentralexekutivkomitees, des Allrussischen Bauernrats usw.), die die überholte, kompromisslerische Etappe der Revolution, ihre bürgerliche und nicht ihre proletarische Etappe vertraten, und deshalb unvermeidlich unter dem Ansturm breiterer, größerer Volksmassen von der Bühne abtreten mussten.

10. Diese machtvolle Bewegung der ausgebeuteten Massen zur Umbildung der leitenden Körperschaften ihrer Organisationen ist auch jetzt, Mitte Dezember 1917, noch nicht abgeschlossen, und der noch nicht beendete Eisenbahnerkongress ist eine der Etappen dieser Bewegung.

11. Die Gruppierung der Klassenkräfte Russlands in ihrem Klassenkampfe gestaltet sich also in Wirklichkeit im November und Dezember 1917 prinzipiell anders als diejenige, die in den Kandidatenlisten der Parteien zur Konstituante um die Mitte Oktober 1917 ihren Ausdruck finden konnte.

12. Die letzten Ereignisse in der Ukraine (teilweise auch in Finnland, in Weißrussland und im Kaukasus) zeigen ebenfalls, wie im Laufe des Kampfes zwischen dem bürgerlichen Nationalismus der Ukrainischen Rada, des Finnländischen Sejms usw. einerseits und der Sowjetmacht, der proletarisch-bäuerlichen Revolution einer jeden dieser nationalen Republiken andererseits sich eine neue Gruppierung der Klassenkräfte herausbildet.

13. Schließlich hat der Bürgerkrieg, der mit dem konterrevolutionären Aufstand der Kadetten, Kaledinanhänger gegen die Sowjetmacht, gegen die Arbeiter- und Bauernregierung begann, den Klassenkampf endgültig verschärft und jede Möglichkeit beseitigt, auf formal-demokratischem Wege die brennendsten Fragen zu entscheiden, die die Geschichte den Völkern Russlands und in erster Linie der Arbeiterklasse und der Bauernschaft gestellt hat.

14. Nur der völlige Sieg der Arbeiter und Bauern über den Aufstand der Bourgeoisie und der Gutsbesitzer (der in der Bewegung der Kadetten und Kaledinanhänger seinen Ausdruck gefunden hat), nur die rücksichtslose militärische Unterdrückung dieses Aufstandes der Sklavenhalter ist imstande, die proletarisch-bäuerliche Revolution wirklich zu sichern. Der Gang der Ereignisse und die Entwicklung des Klassenkampfes in der Revolution haben dazu geführt, dass die Losung „Alle Macht der Konstituante", die die Errungenschaften der Arbeiter- und Bauernrevolution, die Rätemacht, den Beschluss des Zweiten Allrussischen Kongresses der Arbeiter- und Soldatenräte, des Zweiten Allrussischen Kongresses der Bauernräte usw. außer acht lässt, in Wirklichkeit zu, einer Losung der Kadetten und Kaledinleute und ihrer Helfershelfer geworden ist. Es wird dem ganzen Volke klar, dass diese Losung faktisch den Kampf zur Beseitigung der Sowjetmacht bedeutet und dass die Konstituante, wenn sie in einen Gegensatz zur Sowjetmacht geriete, unvermeidlich zum politischen Tod verurteilt wäre.

15. Zu den besonders akuten Fragen des Volkslebens gehört die Friedensfrage. Ein wirklich revolutionärer Kampf für den Frieden in Russland begann erst nach dem Sieg der Revolution vom 7. November (25. Oktober), und die ersten Früchte dieses Sieges waren die Veröffentlichung der Geheimverträge, der Abschluss des Waffenstillstands und die Aufnahme von öffentlichen Verhandlungen über einen allgemeinen Frieden ohne Annexionen und Kontributionen.

Die breiten Volksmassen erhalten erst jetzt tatsächlich die volle Möglichkeit, offen die Politik des revolutionären Kampfes für den Frieden zu verfolgen und ihre Ergebnisse zu studieren.

Während der Wahlen zur Konstituante hatten die Volksmassen diese Möglichkeit nicht.

Es ist klar, dass auch in dieser Hinsicht ein Missverhältnis zwischen der Zusammensetzung der Abgeordneten der Konstituante und dem wirklichen Volkswillen in der Frage der Beendigung des Krieges unvermeidlich ist.

16. Aus der Gesamtheit der oben dargelegten Umstände ergibt sich, dass eine Konstituante, die auf Grund der Kandidatenlisten der Parteien einberufen wird, die vor der proletarisch-bäuerlichen Revolution bestanden, als die Bourgeoisie noch herrschte, unvermeidlich in Kollision gerät mit dem Willen und den Interessen der werktätigen und ausgebeuteten Klassen, die am 7. November (25. Oktober) die sozialistische Revolution gegen die Bourgeoisie begonnen haben. Natürlich stehen die Interessen dieser Revolution höher als die formalen Rechte der Konstituante, selbst wenn diese formalen Rechte nicht dadurch untergraben worden wären, dass in dem Gesetz über die Konstituante das Recht des Volkes auf Neuwahlen seiner Abgeordneten zu jeder beliebigen Zeit nicht anerkannt wird.

17. Jeder direkte oder indirekte Versuch, die Frage der Konstituante von einem formal-juristischen Standpunkt im Rahmen der gewöhnlichen bürgerlichen Demokratie zu betrachten, ohne Berücksichtigung des Klassenkampfes und des Bürgerkrieges, ist ein Verrat an der Sache des Proletariats und ein Übergang zum Standpunkt der Bourgeoisie. Es ist die unbedingte Pflicht der revolutionären Sozialdemokratie, alle vor diesem Fehler zu warnen, in den einige Mitglieder der Spitzenorganisationen des Bolschewismus verfallen sind, die den Oktoberaufstand und die Aufgaben der Diktatur des Proletariats nicht richtig einzuschätzen vermochten.

18. Die einzige Chance auf eine schmerzlose Lösung der Krise, die infolge des Missverhältnisses zwischen den Wahlen zur Konstituante und dem Willen des Volkes sowie den Interessen der werktätigen und ausgebeuteten Klassen entstanden ist, ist eine möglichst breite und rasche Verwirklichung des Rechtes der Vornahme von Neuwahlen der Abgeordneten zur Konstituante durch das Volk, die Bestätigung des Gesetzes des Zentralexekutivkomitees über diese Neuwahlen durch die Konstituante selbst und eine vorbehaltlose Erklärung der Konstituante über die Anerkennung der Sowjetmacht, der Sowjetrevolution, ihrer Politik in der Friedensfrage, der Landfrage, der Frage der Arbeiterkontrolle, und der entschiedene Anschluss der Konstituante an das Lager der Gegner der Konterrevolution, der Kadetten und Kaledinleute.

19. Ohne diese Bedingungen kann die im Zusammenhange mit der Konstituante entstandene Krise nur auf revolutionärem Wege, nur durch möglichst energische, rasche, feste und entschiedene revolutionäre Maßnahmen der Sowjetmacht gegen die Konterrevolution der Kadetten und Kaledinleute gelöst werden, ganz gleich hinter welchen Losungen und Institutionen (auch wenn es die Zugehörigkeit zur Konstituante wäre) sich diese Konterrevolution verstecken mag. Jeder Versuch, der Sowjetmacht die Hände in diesem Kampfe zu binden, wäre eine Unterstützung der Konterrevolution.

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