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Karl Liebknecht 19100524 Weg mit dem Vagabundenparagraphen!

Karl Liebknecht: Weg mit dem Vagabundenparagraphen!

Reden im preußischen Abgeordnetenhaus zur Begründung eines sozialdemokratischen Antrages

[Nach Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Hauses der Abgeordneten, 21. Legislaturperiode, III. Session 1910, 4. Bd., Berlin 1910, Sp. 5899-5914, 5. Bd., Berlin 1910, Sp. 6354–6356 und nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 3, S. 316-344]

I

24. Mai 1910

Meine Herren, es ist wieder ein Stück preußischer Rückständigkeit, welches ich jetzt zu erörtern habe. Es tut mir leid, dass ich durch ein besonders widriges Geschick heute zum zweiten Male hier als Begründer eines Antrages auftreten muss; aber ich bin nicht schuld daran.

Es handelt sich dieses Mal um das preußische Gesetz über die Aufnahme neu anziehender Personen vom 31. Dezember 1842, und zwar speziell um den Paragraphen 2 Ziffer 2 dieses Gesetzes. Nach dem ersten Paragraphen darf

keinem selbständigen preußischen Untertan an dem Orte, wo er eine eigene Wohnung oder ein Unterkommen sich selbst zu verschaffen imstande ist, der Aufenthalt verweigert oder durch lästige Bedingungen erschwert werden".

Es sind dann in Paragraph 2 Ausnahmebestimmungen getroffen, einmal für den, der durch ein Strafurteil in der freien Wahl seines Aufenthalts beschränkt ist, und dann, in der Ziffer 2 und hier kommt die Bestimmung, die charakteristisch ist und den Gegenstand unserer heutigen Besprechung bildet –, wird von solchen Personen gehandelt,

welche zu Zuchthaus oder wegen eines Verbrechens, wodurch der Täter sich als einen für die öffentliche Sicherheit oder Moralität gefährlichen Menschen darstellt, zu irgendeiner andern Strafe verurteilt worden oder in einer Korrektionsanstalt eingesperrt gewesen sind".

Solche Personen sollen, wenn sie neu anziehen, von gewissen Orten ausgeschlossen werden dürfen, und zwar durch die Landespolizeibehörde. Am Schlusse des Paragraphen ist noch ausdrücklich vermerkt:

Über die Gründe einer solchen Maßregel ist die Landespolizeibehörde nur dem vorgesetzten Ministerium, nicht aber der Partei Rechenschaft zu geben schuldig."

Diese letztere Bestimmung ist bis zu einem gewissen Umfange obsolet geworden, weil ja gegenwärtig das Verwaltungsstreitverfahren gegenüber den Ausweisungen eingeführt ist, es also möglich ist, innerhalb dieses Verwaltungsstreitverfahrens wenigstens eine Angabe der Gründe zu erzwingen, wenngleich heute vor wie nach die Bestimmung bestellt, dass eine Angabe von Gründen für den Betroffenen in der Verfügung selbst nicht notwendig ist, wie das ja leider in Preußen auch sonst der Fall ist; polizeiliche Zwangsverfügungen brauchen ja in Preußen bedauerlicherweise nirgends mit Gründen versehen zu werden. Wir haben einen selbständigen Antrag gestellt, in dieser Hinsicht Remedur zu schaffen. Wir hoffen, dass dieser Antrag noch im Laufe dieser Session zur Beratung kommen wird.

Meine Herren, diese Bestimmung vom Jahre 1842 ist durch das Freizügigkeitsgesetz vom 1. November 1867 aufrechterhalten. Es ist dort gesagt:

Insoweit bestrafte Personen nach den Landesgesetzen bezüglich des Aufenthalts einer Beschränkung durch die Polizeibehörden unterworfen werden können, behält es dabei sein Bewenden."

Nun ist aber später das Reichsstrafgesetzbuch erlassen. Dort ist in Paragraph 38 bestimmt, dass

in den durch das Gesetz vorgesehenen Fällen auf Zulässigkeit von Polizeiaufsicht erkannt werden" darf,

und es ist dann im Paragraphen 39 die Polizeiaufsicht weiter dahin definiert, dass unter anderem

1. dem Verurteilten der Aufenthalt an einzelnen bestimmten Orten von der höheren Landespolizeibehörde untersagt werden" kann.

Meine Herren, es ist die Frage, ob nicht das Gesetz vom Jahre 1842, und zwar gerade die hier fragliche Bestimmung, durch das Reichsstrafgesetzbuch aufgehoben worden ist. Die Antwort darauf ist keineswegs aus dem Ärmel zu schütteln. Bekanntlich hat sich darüber lange Zeit hindurch ein sehr ernster Streit unserer angesehensten Straf- und Staatsrechtslehrer entsponnen. Unter anderem hat der Staatsrechtler von Bar sehr eingehend und lebhaft den Standpunkt vertreten, dass das Gesetz vom Jahre 1842 in der fraglichen Bestimmung aufgehoben sei, während der berühmte Rudolf von Gneist den entgegengesetzten Standpunkt in einem bekannten, ausführlichen, sehr geistreichen Aufsatz vertreten hat. Meine Herren, die Auffassung, die Gneist in dem Archiv für öffentliches Recht von 1886 vertreten hat, und zwar im Anschluss an gewisse Verhandlungen, die sich im Reichstag und im Landtag damals abgespielt hatten, unterliegt meiner Ansicht nach doch, rein juristisch betrachtet, erheblichen Bedenken. Gneist als Verwaltungsrechtler hat ja mit sehr feinem Gefühl den Unterschied zwischen dem Individualrecht und dem Staatsrecht und Verwaltungsrecht zu erkennen vermocht, und es ist ganz gewiss, dass gerade seine Ausführungen über die Grenze zwischen dem Individualrecht und dem Polizeirecht außerordentlich interessant sind. Trotz alledem scheint mir seine Ansicht, dass von dem Strafgesetzbuch und von dem Gesetz von 1842 hier ganz verschiedene Materien geregelt wurden, doch in höchstem Grade bedenklich zu sein. Das Strafgesetzbuch stellt in detaillierter Weise fest, bei welchen Verbrechen, Vergehen, Verfehlungen verschiedener Art, auch Übertretungen, es zulässig ist, Polizeiaufsicht zu verhängen, und es regelt diese Materie ganz gewiss erschöpfend. Wenn es dann des weiteren das Wesen der Polizeiaufsicht in der eben von mir gekennzeichneten Weise charakterisiert, so tut es damit genau dasselbe wie das Gesetz vom Jahre 1842. Im Paragraphen 2 Ziffer 1 heißt es:

wenn jemand durch ein Strafurteil in der freien Wahl seines Aufenthalts beschränkt ist".

Aber dabei ist an die besondere Bestimmung gedacht, die wir ja heute nicht mehr im Strafgesetzbuch haben und die sich nicht mit der Überweisung an die Landespolizeibehörde deckt, wonach bestimmte Wohnsitze angewiesen werden können usw., während zweifellos ein Teil der Materie, der durch die Paragraphen 38 und 39 des Strafgesetzbuches geregelt wird, erst in dem Paragraphen 2 Absatz 2 geregelt ist. Hier wird als eine Wirkung der Strafe bezeichnet, dass der Aufenthalt an gewissen Orten verboten werden kann und gewisse Beschränkungen auferlegt werden können. Es wird nicht, wie Gneist meint, aus einem allgemeinen sicherheitspolizeilichen Interesse heraus, ohne Rücksicht auf die Voraussetzungen, die Möglichkeit einer Beschränkung des freien Aufenthalts gegeben, sondern es wird gerade in Anknüpfung an eine erkannte Strafe zugelassen, dass weitere polizeiliche Maßnahmen getroffen werden. Das scheint mir das Wesentliche zu sein. Wenn die gesetzlichen Bestimmungen, die vor dem Gesetz von 1842 demselben Zwecke dienen sollten, im Allgemeinen davon sprachen, dass bei Bescholtenheit die Zulässigkeit einer polizeilichen Beschränkung im Aufenthalt gegeben sein solle, so erkennt man da die Unabhängigkeit der polizeilichen Maßregel von der Ursache, also von jeder kriminellen Verurteilung auf das Deutlichste. Wenn aber wie bisher nur im Falle einer Verurteilung es zulässig ist, solche polizeilichen Beschränkungen zu verhängen, so scheint mir damit in der Tat auf das Klarste bewiesen, zu sein, dass dieselbe Materie geregelt wird, die in den Paragraphen 38 und 39 des Strafgesetzbuches geregelt ist. Deshalb komme ich trotz der abweichenden Meinung eines so ungemein bedeutenden Kopfes wie des Professors von Gneist zu dem Ergebnis, dass man es mindestens für sehr wahrscheinlich zu halten hat, dass nach dem Willen des Strafgesetzgebers das preußische Gesetz vom Jahre 1842 in den hier fraglichen Bestimmungen hat aufgehoben werden sollen.

Und, meine Herren, in der Tat, man kommt auch nicht aus dem Gesichtspunkte der Zweckmäßigkeit, der Staatsnotwendigkeit, wie von Gneist des weiteren näher ausgeführt worden ist, zu dem Ergebnis, dass der diesseitige Standpunkt unmöglich sei. Das Strafgesetzbuch verleiht die Möglichkeit, Polizeiaufsicht zu verhängen, in einem so weiten Umfange, dass dem öffentlichen Interesse, auch dem polizeilichen Interesse hier im vollen Umfange genügt sein dürfte. Ich meine, es würde mindestens einer viel detaillierteren Darlegung bedürfen, als sie von Gneist gegeben hat, um zu beweisen, dass die strafgesetzliche Regelung nicht auch in ihrem Schlusserfolg, soweit das Interesse der allgemeinen Sicherheit usw. in Frage kommt, geeignet ist, den Effekt zu erreichen, den das Gesetz vom Jahre 1842 zu erreichen gedachte.

Meine Herren, es scheint mir auch hier wieder einer von den bekannten Kompetenzkonflikten zwischen der Justiz und der Verwaltung vorzuliegen, zwischen dem Strafgesetz und dem Polizeigesetz, einer der berühmten Kompetenzkonflikte, die durch das ganze preußische Staatswesen hindurchgehen und immer und immer wieder Anlass zu Reibereien geben und Anlass zu Übergriffen von Seiten der Polizeigewalt in die durch Gesetze geregelten Verhältnisse der preußischen Staatsangehörigen.

Meine Herren, es ist in dem preußischen Abgeordnetenhause schon öfter über die Vagabundage gesprochen worden. Speziell hat im Jahre 1882 eine eingehende Debatte darüber stattgefunden, ebenso im Reichstage im Jahre 1883. Es sind das Vorgänge, auf die unter anderem, wie ich schon erwähnte, Professor von Gneist Bezug nimmt.

Wenn wir das Gesetz von 1842 unter der Voraussetzung betrachten, dass es dennoch besteht, wie von unsern Verwaltungsgerichten angenommen wird und wie die Regierung annimmt, so müssen wir zunächst einmal unser lebhaftes Befremden über die ungemein weite Fassung dieses Gesetzes äußern. Es steht in dem Gesetze auch nicht die Spur von irgendeiner Beschränkung. Es ist nicht gesagt, welche Delikte begangen sein müssten; es ist nicht gesagt, wie lange die Verbrechen oder andern Delikte vorüber sein müssten, um noch der Polizei das Recht zu geben, in der fraglichen Weise einzugreifen; es ist keine Beschränkung getroffen in Bezug auf die Dauer der polizeilichen Ausweisungen und Aufenthaltsbeschränkungen; es ist keine Beschränkung getroffen in Bezug auf den örtlichen Umkreis, innerhalb dessen der Aufenthalt polizeilich versagt werden kann. Kurzum, wir haben eine gänzlich unbegrenzte Bestimmung, die der Polizei die denkbar weiteste Willkür in die Hand gibt. Es ist auch nicht einmal davon die Rede, dass besondere Umstände vorliegen müssten, aus denen sich ergibt, dass gerade in dem konkreten Fall die öffentliche Sicherheit oder Moralität des besonderen Ortes, wo der Aufenthalt nachgesucht wird, gefährdet sein müsse. Es ist ganz allgemein nur davon die Rede, dass der Betreffende ein die öffentliche Sicherheit oder Moralität gefährdender Mensch sein müsse.

Danach können wir wohl sagen, dass das preußische Gesetz eine so weitgehende Machtbefugnis in die Hände der Polizeiverwaltung legt, wie sie überhaupt in einem ähnlichen Fall nur denkbar ist. Nur eine Beschränkung ist jetzt getroffen im Gegensatz zu früher: Während früher Bescholtenheit bereits ausreichte, eine gerichtliche Bestrafung nicht notwendig war, ist eine gerichtliche Bestrafung jetzt erforderlich. Aber die gerichtlichen Bestrafungen können sehr minimal sein. Mir sind Fälle bekannt, wo der Betreffende vor 10 oder 15 Jahren bestraft ist, mal mit sechs Wochen Gefängnis, mal mit drei Monaten Gefängnis, nicht wegen einer Unredlichkeit oder eines unehrenhaften Deliktes, sondern zum Beispiel wegen Beleidigung oder Körperverletzung, einer Gewalttätigkeit, wo dann Jahre hindurch nichts geschehen ist. Dann kommt der Betreffende plötzlich nach Berlin oder der Umgebung von Berlin, und sofort ereilt ihn das Schicksal der Ausweisung auf Grund des Vagabundenparagraphen. Es ist vom Oberverwaltungsgericht hier auch ein ungemein weiter Spielraum gelassen worden. Ich habe hier ein Urteil in der Hand, wo das Oberverwaltungsgericht ausdrücklich sagt:

Der Umstand, dass seit Verbüßung dieser Strafe eine Reihe von Jahren verflossen ist, schließt die Zulässigkeit der Ausweisung nicht aus, auch wenn der entlassene Sträfling sich seitdem tadellos geführt hat."

Hier ist also der Grundsatz aufgestellt – in Übereinstimmung mit dem Gesetz! –, dass es überhaupt durchaus keine Frist gibt, an die die Polizei gebunden ist. Und hier habe ich eine andere Entscheidung, die beweist, in wie schikanöser Weise das Gesetz angewendet werden kann. Es ist die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts vom 12. Juni 1906 in einer Sache gegen Schultz. Der Betreffende war lange Zeit in Berlin gewesen, und zwar unbeanstandet, dann zog er ausgerechnet eine Woche, vom 10. bis 17. August 1905, aus Berlin fort, um einen Besuch zu machen. Am 17. fuhr er nach Berlin zurück, wo er gewohnt hatte. Nun wurde ihm als einem Neuanziehenden die Erlaubnis zum Aufenthalt versagt. Das Oberverwaltungsgericht hat diesen Standpunkt der Polizeibehörde gebilligt

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

und ausdrücklich festgestellt, dass Schultz, indem er in dieser einen Woche seinen Aufenthalt in Berlin aufgegeben habe, infolgedessen mit Recht als ein Neuanziehender anzusehen gewesen wäre. Das ist geradezu ein unglaublicher Standpunkt. Die Angehörigen der „höheren Stände", der begüterten Kreise, sind gewöhnt, mit einer gewissen Regelmäßigkeit längere Reisen zu machen. Stellen Sie sich einmal vor, dass man in solchen Fällen ihren Aufenthalt in Berlin für erloschen erachten sollte in dieser polizeilich engherzigen Weise, wie das hier geschehen wäre; nehmen Sie an, dass da ähnliche polizeiliche Schikanen stattfinden könnten, so würden Sie das doch geradezu unerhört finden und den Standpunkt des Verwaltungsgerichts nicht begreifen. Wie kann nun, nicht nur die Polizei, sondern sogar das Verwaltungsgericht, als das kontrollierende Organ, einer solchen Auffassung die Tore öffnen, wie das leider geschehen ist. Wenn das am grünen Holz des Verwaltungsgerichts passiert, dann kann man sich die Praxis der Polizei ausmalen.

In der Tat ist diese Praxis vielfach außerordentlich roh, unmenschlich und inhuman. Man wird sich ja mit der Bestimmung grundsätzlich überhaupt nicht befreunden können; aber auch wenn man sie einmal gelten lassen will, so muss man doch sagen, dass die Art ihrer Anwendung durch die preußische Polizei so viel zu wünschen übrig lässt, dass die Polizei es sich gefallen lassen muss, wenn ihr der Vorwurf gemacht wird, dass sie hier die Pflichten der Humanität durchaus nicht überall innehält.

Meine Herren, ich habe hier den Fall eines Mannes, der zu den „besseren Ständen" gehört und von dem ich infolgedessen annehmen darf, dass er in seiner Situation von Ihnen in gewissem Sinne leichter verstanden wird als vielleicht ein Arbeiter. Es handelt sich um einen Gastwirt, um den Inhaber eines Hotels. Der Mann hat mir seine Schicksale detailliert geschildert. Nach dem Material, was er mir beigebracht hat, habe ich keinen Anlass, an der Richtigkeit seiner Darstellung zu zweifeln. Er hatte bei Gelegenheit einer Kaiser-Geburtstagsfeier seinen Gästen, die den „höheren Ständen" angehörten, in seinem Hotel einmal die Möglichkeit gegeben, ein Glücksspiel zu spielen: Es ist gejeut worden. Meine Herren, ich weiß, dass manche hier im Hohen Hause sein werden, die auch schon mal gejeut haben; also Anlass zu einer besonderen Empörung dürfte jedenfalls nicht vorliegen; ich bekenne ganz gern, dass ich in meinem Leben auch schon gelegentlich gejeut habe. Der Mann hatte also etwas getan, was ja natürlich nach dem Gesetz verboten ist, aber doch schließlich nichts, was gar so sehr ins Gewicht fällt. Er hatte etwas getan, was ihm leicht die Konzession kosten kann, was aber schließlich nicht immer so ernst genommen wird, dass man die Konzession wirklich sofort entzieht. Der Mann hat aber sein Geschäft aufgeben müssen; es ist ihm unmöglich gemacht worden, anderwärts ein neues Hotel aufzutun; die Konzession ist ihm verweigert worden; er ist um sein Geld gekommen – kurz, es ist ein überaus trauriges Bild, das dieser Mann hier entwirft, der wohlgemerkt in ziemlich jugendlichem Alter stand, als er sich die erwähnte Verfehlung zuschulden kommen ließ. Er hat dann versucht, wenigstens als Angestellter in einer Gastwirtschaft sein Brot zu finden; aber auch da wurde er aus seiner Stellung herausgebracht, es wurde ihm gekündigt, weil ihm die Polizeiverwaltung auf den Fersen saß, weil angefragt wurde, wo er sich aufhielt, und weil dadurch zur Kenntnis seines Chefs kam, dass er in der bezeichneten Weise vorbestraft war.

Dieser Mann schreibt mir:

Hier sind die Erfahrungen eines Mannes, der in seinem ganzen Leben nichts anderes getan und gewollt hat, als durch Rechtschaffenheit, Fleiß und Redlichkeit sich und seinen Mitbürgern weiterzuhelfen, und der, weil er in seiner frühesten Jugend mal in eine böse Affäre verwickelt wurde, sein ganzes Leben bis auf den heutigen Tag Spießruten laufen muss."

Er fügt weiter hinzu:

Hätte ich einen Mord begangen, gestohlen und weiß Gott was alles und mich der Bestrafung durch die Flucht entzogen, alle diese Straftaten wären nach einer gewissen Zeit verjährt, eine Bestrafung unmöglich gewesen. Nur eine erlittene Strafe verjährt niemals, sie ist eine Galeerenkette, angeschmiedet an den Betroffenen für das ganze Leben."

Und er fragt dann an, ob nicht eine gesetzliche Bestimmung möglich wäre, dass nach einer Reihe von Jahren die erlittene Strafe ebenso aus allen Registern gelöscht werden könne, wie ja die strafbaren Handlungen selbst verjähren, wenn eine gewisse Frist abgelaufen ist.

Meine Herren, das ist ein typisches Beispiel. Sie entsinnen sich, welchen Staub der Fall des Schuhmachers Voigt, des Hauptmanns von Köpenick, aufgewirbelt hat. Voigt stand unter Polizeiaufsicht, das ist richtig; aber er war andererseits auch gemäß dem preußischen Vagabundengesetz behandelt worden. Beide Maßregeln – auch die Polizeiaufsicht, besonders wie sie in Preußen vielfach gehandhabt wird, ist durchaus nicht zu billigen und bedarf dringend einer Remedur – beide Maßregeln haben dazu beigetragen, diesen Mann von einem Orte zum andern zu hetzen, es ihm immer von neuem unmöglich zu machen, sich eine feste Existenz zu schaffen, und haben ihn so aus einem Verbrechen schließlich ins andere hineingetrieben.

Der Fall Voigt hat ja bekanntlich zu einer gewissen Bewegung in der Öffentlichkeit geführt, die eine Milderung der Polizeipraxis und wohl auch eine Aufhebung des Vagabundenparagraphen forderte. Leider ist auch hier zu bedauern, dass diese Anregung, die aus einer großmütigen Bewegung aus der bürgerlichen öffentlichen Meinung hervorgegangen ist, auf einen so unfruchtbaren Boden gefallen ist, wie es eben in Preußen überall bei kulturellen Anregungen zu sein pflegt; es ist infolgedessen auf diesem Gebiete nichts geschehen.

Meine Herren, es existiert eine Ausführungsbestimmung – ein Reskript – zu dem Gesetz, die dafür sorgen soll, dass das Gesetz nicht in allzu rigoroser Weise angewandt wird. Diese Bestimmung, die aus dem Jahre 1860 ist, wenn ich nicht irre – ich habe sie im Augenblick nicht zur Hand –, fordert vor allen Dingen Rücksichtnahme darauf, ob der Bestrafte nach der Beschaffenheit des Delikts, welches ihm zur Last gelegt wird, für den Ort, nach welchem er ziehen will, eine besondere Gefahr bedeutet, und es wird den Behörden zur Pflicht gemacht, dafür zu sorgen, dass ihm jedenfalls nicht jede Möglichkeit genommen werde, sein Brot zu verdienen und sein Leben weiter ordnungsmäßig zu fristen. Diese Bestimmungen sind ja gut gemeint, sie sind unter der Ägide des Grafen Schwerin erlassen worden – ich kann das Datum nicht genau angeben, da es mir verlorengegangen ist –; bedauerlicherweise sind sie aber nichts als schöne Worte geblieben, und man ist weit davon entfernt, sich in der Praxis danach zu richten.

Zunächst darf ich darauf hinweisen, dass schon an und für sich eine solche Behandlung der bestraften Personen grundsätzlich verwerflich ist. Wenn jemand bestraft ist, so ist er nach der Auffassung der modernen Strafrechtslehre in ihrer weit überwiegenden Mehrheit als ein Opfer der sozialen Verhältnisse zu betrachten: und wenn er das ist, so muss es als Aufgabe der Strafjustiz gelten und auch derjenigen Maßnahmen, die nach der Strafvollstreckung stattfinden, nach Möglichkeit dafür zu sorgen, dass die Schuld, die die Gesellschaft ihm gegenüber hat, gesühnt werde, dass er in eine Bahn gebracht werde, die es ihm möglich macht, auch unter den heutigen Verhältnissen ein ordentliches und menschenwürdiges Dasein zu finden.

Man hat es hier mit den Ausgestoßenen der Gesellschaft zu tun und nicht nur mit diesen, sondern es sind auch solche, die man in der heutigen Gesellschaft braucht, man kann sie gar nicht entbehren. Es ist ein bekanntes Goethesches Wort:

Man darf das nicht vor keuschen Ohren nennen,

was keusche Herzen nicht entbehren können."

Das gilt auch auf diesem Gebiete der sozialen Scham, möchte ich sagen; man braucht die Massen der Bevölkerung, man braucht eine Reservearmee, die hin- und hergeschoben werden kann, in unseren heutigen Verhältnissen in immer höherem Maße. Auch auf dem Lande brauchen Sie eine Reservearmee, denn Sie brauchen Ihre Schnitter, Ihre Saisonarbeiter, Ausländer, die Sie hineinziehen und wieder abschieben wollen. Allenthalben sehen wir, dass dieses Hin- und Herbewegen der Bevölkerung unumgänglich ist, dass eine unausgesetzte innere Wanderung, Fluktuation, stattfindet, die unserer modernen Zeit in immer höherem Maße einfach ein Bedürfnis ist.

Wenn nun die Leute, die so als Reservearmee in Zeiten der Prosperität aushilfsweise aufgesogen werden, um in den Zeiten minder günstiger wirtschaftlicher Verhältnisse wieder ausgespien zu werden, auf die Landstraße geraten, wenn sie dann dem Verbrechen zum Opfer fallen – bekanntlich läuft ja die Verbrecherstatistik durchaus mit der Kurve der wirtschaftlichen Verhältnisse, der Krisen, parallel –, ja, dann sind es doch in der Tat Opfer, die den wirtschaftlichen Verhältnissen, die unserer heutigen Gesellschaftsordnung gebracht worden sind, Opfer, die gebracht worden sind, um den herrschenden Klassen der Gesellschaft es zu ermöglichen, Profit zu machen und ihre Funktion innerhalb der brutalen kapitalistischen Gesellschaftsordnung ausfüllen zu können.

Die Gesellschaftsordnung und die herrschenden Klassen als Vertreter und als Verfügungsberechtigte über die wesentlichen Mächte dieser Gesellschaftsordnung sollten nun diese Opfer der eigenen Gesellschaft, der eigenen Sünde, diese Kinder ihrer Sünde, möchte ich sagen, wenn sie dann auf dem Pflaster liegen, nicht wie räudige Hunde behandeln und aus jedem Ort hinauswerfen lassen, wie es nach diesem Gesetze zulässig ist und wie es leider allzu häufig der Fall ist.

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, es ist ja selbstverständlich, dass gerade auch von dem Standpunkte aus, den Sie immer zu vertreten vorgeben, vom Standpunkte eines christlichen Staates aus, ein solches Gesetz in der schärfsten Weise zu verwerfen ist.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Das ist ein Gesetz, demgegenüber sich, wie ich überzeugt bin, auch ein Mitglied Ihrer Partei (nach rechts), das ja nun leider verstorben ist, der von weiten Kreisen persönlich sehr verehrte Pastor von Bodelschwingh, sicherlich auch grundsätzlich hier auf meinen Standpunkt stellen würde. Es ist gerade das Verdienst dieses Herrn innerhalb Ihrer gesellschaftlichen Grundanschauung gewesen, dass er immer und immer wieder darauf hingewiesen hat, dass man auch in dem Vagabunden, in dem Landstreicher, dem Stromer doch schließlich den Menschen zu achten habe, der ebenso gut ein Mensch ist, wie man selbst einer ist. Über die Art der Mittel, die er vorgeschlagen hat, und der Ausführung seiner Grundanschauung sind wir natürlich himmelweit anderer Ansicht gewesen als Pastor von Bodelschwingh; aber das war das Sympathische im Wesen dieses Mannes, dass er hier auf diese Wunde, auf diese Schuld der Gesellschaft immer wieder hingewiesen hat.

Meine Herren, das ist der Grund, aus dem wir die Bestimmungen vom Jahre 1842 grundsätzlich zu verwerfen haben, aus dem wir im Gegensatz dazu die Forderung aufzustellen haben, dass die bestraften Personen nach aller Möglichkeit von der Gesellschaft geschützt und geschirmt werden sollen, dass ihnen die Möglichkeit gegeben werden soll, ein anderes Leben zu beginnen, dass ihnen nicht die Unterkunft in einem neuen Leben durch allerhand polizeiliche Schikanen erschwert werden soll, dass ihnen nicht nur die Wohltätigkeit, sondern ganz bestimmte geordnete staatliche Anstalten zu Hilfe kommen, die dazu beitragen sollen, den entlassenen Strafgefangenen und den Unglücklichen, die da auf der Straße herumliegen und nicht wissen, wo ihr Heim ist, wo sie ihr Haupt hinlegen sollen, die Möglichkeit zu geben, sich wieder als Mensch zu fühlen und zu einem besseren Menschentum aufzuraffen. Alledem wird durch dieses Gesetz in keiner Weise genügt.

Es darf noch weiter gesagt werden, dass das Gesetz auch eine ganz besonders ungünstige Umgestaltung in seiner Wirkung durch die Umgestaltung der allgemeinen Verhältnisse, die sich seit der Emanation des Gesetzes vollzogen hat, erfahren hat. Meine Herren, im Jahre 1842 konnte man wohl Deutschland noch als ein wesentlich agrarisches Land bezeichnen. Es war ein Land, das nicht mit großen Städten übersät war, in dem diese riesigen Menschenansammlungen nicht zu finden waren; es war vor allen Dingen damals noch ein Land, in dem die Sachsengängerei, die Fluktuation der Bevölkerung noch keine so große Rolle spielte, noch keine wirtschaftliche Notwendigkeit war. Nun, meine Herren, wenn man damals sagte: Jeder einzelne preußische Staatsbürger hat schließlich doch in seiner Heimat, wo er unterstützungswohnsitzberechtigt1 ist, den Ort, wo er wohl aufgehoben werden kann und nicht nur etwa der Wohltätigkeit zur Last fällt, sondern wo er schließlich auch Arbeit finden wird – wenn man das damals bei jenen einfachen, gewissermaßen patriarchalischen Verhältnissen noch sagen konnte –, heute liegt das ganz und gar anders. Wie wollen Sie heute den Grundgedanken durchführen, dass sich jeder nur dort aufhalten darf, wo er unterstützungswohnsitzberechtigt ist! Was würde da aus den großen Städten für eine Unmasse von Menschen auf das Land hinüber geschoben werden müssen! Es sind gerade die Herren von der Rechten des Hauses, die diese Konsequenz des Gesetzes auf das äußerste scheuen müssten; sie müssten sich darüber klar sein, dass ja doch ein sehr starker Abstrom vom Lande in die Stadt andauernd stattfindet, und wenn nun die Städte dieses Gesetz allenthalben in rigoroser Weise, wie es an und für sich möglich ist und vielfach geschieht, anwenden, haben die Herren mit der Möglichkeit zu rechnen, dass ihnen allerhand bestrafte Personen in ganz außerordentlich großer Zahl auf das Land hinaus geschickt werden, Leute, die dort keine Arbeit finden können, weil es keine Arbeit gibt, und die infolgedessen der Armenfürsorge zur Last fallen, während sie im Getriebe der großen Welt durchaus einen Bereich der Möglichkeit hätten, sich ein geordnetes Unterkommen und Verdienst zu schaffen.

Meine Herren, so dürfen, wir ohne Übertreibung sagen, dass diese Bestimmungen durch die gänzliche Umgestaltung unserer wirtschaftlichen Verhältnisse an Möglichkeit ihrer Durchführung in weitem Umfange verloren haben und dass sie, wenn sie jetzt und wo sie jetzt auch immer durchgeführt werden, als etwas äußerst Brutales und äußerst Inhumanes und Unmenschliches wirken müssen. Meine Herren, ist es denn nicht selbstverständlich, dass jeder Einzelne die Möglichkeit haben muss, sich dort sein Brot zu verdienen, wenn er es sich ehrlich suchen will, wo gerade innerhalb des allgemeinen Arbeitsmarktes Platz für ihn geschaffen ist? Ihn davon zurückzuhalten bedeutet doch in der Tat eine geradezu unsinnige und unmögliche Handlung.

Wenn jemand nach Berlin angezogen kommt, der irgendwelche Vorstrafen hat, die gerade von der Polizei entdeckt werden und zum Anlass eines solchen Einschreitens genommen werden – denn es wird mit dem Gesetz ziemlich willkürlich verfahren, heute wird es angewandt, und morgen wird es nicht angewandt –, dann wird er nicht nur aus Berlin ausgewiesen, sondern das Formular enthält gleichzeitig nicht weniger als 25 oder vielleicht sogar noch mehr Ortschaften in der Nähe von Berlin, aus denen der Betreffende auch gleichzeitig ausgewiesen wird oder bezüglich derer ihm bedeutet wird, dass er, wenn er dort versuchen würde sich niederzulassen, gleichfalls seine Ausweisung zu gewärtigen haben würde. Ich weiß nicht, ob den Herren Formulare dieser Art bekannt sind; ich nehme das an. Solche Formulare beweisen auf das Deutlichste, mit welcher außerordentlichen Rücksichtslosigkeit die Polizei von dieser Bestimmung Gebrauch zu machen sich vielfach nicht scheut.

Meine Herren, ich habe vorhin schon darauf hingewiesen, dass das Gesetz auch insofern eine Schwierigkeit enthält, als es die Ausweisung gestattet,.wenn der Betreffende ein Neuanziehender ist. Nun, der Begriff des Neuanziehenden ist ganz unklar gelassen. Ich habe schon Fälle erlebt, wo das Verwaltungsgericht noch nach einem halben Jahr den Betreffenden für einen Neuanziehenden gehalten hat, nachdem er bereits Wohnung genommen, sich fest eingewurzelt, Arbeit gefunden, sich Möbel gekauft, sich überhaupt mit seiner Familie vollkommen fest angesiedelt hatte. Allerdings erkennt das Verwaltungsgericht eine Grenze an: Die Ermittlungen über die Vorstrafen und über die etwaige Ausweisung dürfen nämlich nicht gar so spät liegen. Wenn also die Polizei, ohne dass der Betreffende überhaupt etwas davon weiß, vielleicht vierzehn Tage oder drei Wochen, nachdem er angezogen und gemeldet ist, mit den Ermittlungen über ihn beginnt, diese sich aber über Monate hinziehen, ohne dass er eine Ahnung davon hat, dann geht ihm, obwohl er einen festen Wohnsitz hier genommen hat, die Ausweisungsverfügung zu, und er gilt dann nach den Bestimmungen des Gesetzes und der Judikatur des Verwaltungsgerichts noch immer als Neuanziehender.

Meine Herren, dass dadurch geradezu Verbrechen gezüchtet werden, bedarf gar nicht der näheren Ausführung. Stellen Sie sich doch einmal vor: Irgendeine Familie – ich habe in meiner Praxis manche Fälle derart persönlich durchgemacht – hat sich Möbel angeschafft, hat feste Arbeit gefunden, auf längere Zeit eine Wohnung gemietet! Wenn sie nun polizeilich ausgewiesen wird, wird sie von der Pflicht, die Wohnungsmiete zu bezahlen, nicht entbunden; also sie müssen für die Dauer des Mietvertrages die Miete bezahlen. Sie können oft ihre Möbel nicht transportieren; das macht ungeheure Kosten. Soweit die Möbel nicht von dem Hauswirt reteniert werden, werden sie also verschleudert, weil die Unglücklichen beim Umzug nicht in der Lage sind, all das Zeug mit sich zu schleppen, und weil sie nicht wissen, wohin sie gehören. Arbeit ist dagewesen, der Mann hat verdienen können; jetzt wird er hinaus gestoßen ohne jede Arbeit und sitzt vollständig auf dem Pflaster. Er war vielleicht in ganz erträglichen Verhältnissen. Er und seine Arbeitgeber beteuern, dass er ein ordentlicher, fleißiger Mann sei. Alle Erfordernisse, die man an einen ordentlichen Menschen stellen kann, sind erfüllt; aber die Polizei beißt ihn hinaus, und das Verwaltungsgericht hat keine Handhabe, wenn das Gesetz in dieser Weise angewendet wird, das seinerseits zu redressieren, weil ja über die Zweckmäßigkeit der einzelnen Anordnungen zu entscheiden nach der bedauerlichen Judikatur nicht die Aufgabe des Verwaltungsgerichts ist.

Nun stellen Sie sich einmal die Konsequenzen vor. Die Polizei hat das Recht, jeden, der vorbestraft ist, auszuweisen. Sie hat nicht die Pflicht; sie braucht ihm nicht sofort, wenn er kommt, zu sagen, dass er ausgewiesen wird. Nun ist jemand vorbestraft und sucht sich einen Wohnsitz. Das könnte mir selbst passieren; denn ich bin ja auch wegen eines Verbrechens mit Strafe belegt, die unbedingt der Polizei jederzeit das Recht gibt, mich auszuweisen. Ich schwebe vollkommen im Dunkeln, ob die Polizei von diesem Recht Gebrauch machen wird oder nicht; denn sie braucht es mir nicht zu sagen. Schön, die Polizei macht schließlich von ihrem Recht Gebrauch. Nun stehe ich vor der Tatsache, aus einer preußischen Gemeinde ausgewiesen zu sein. Aber es existieren in Preußen Hunderte und Tausende von Gemeinden. Ich habe die Wahl, in welche ich gehen will; aber bei jeder einzelnen Gemeinde tritt dieselbe Frage an mich heran: Wird sie mich aufnehmen oder nicht? Wenn ich an die betreffende Polizeibehörde schreiben würde, ob sie mich bei meinen Vorstrafen aufnehmen würde, so dass ich die Reise nicht umsonst zu machen brauchte, ich würde eine schöne Antwort bekommen. Man würde mir bedeuten, dass man mich nicht wünsche, oder ich würde gar keine Antwort bekommen. So steht der Betreffende, der aus einer Gemeinde ausgewiesen wird, nicht nur vor der Kalamität, die ich vorhin geschildert habe und die sich aus dieser Ausweisung allein ergibt, sondern er steht vor der absoluten Ungewissheit seiner künftigen Existenz, weil es keine Stelle gibt, die berechtigt oder verpflichtet wäre zu sagen: dort und dorthin darfst du gehen und darfst nicht ausgewiesen werden.

Nun sagt man allerdings: Wo der Unterstützungswohnsitz ist, darf man nicht ausgewiesen werden. Das ist ganz richtig; aber wer weiß immer, wo der Unterstützungswohnsitz ist, und in wie außerordentlich vielen Fällen ist der Unterstützungswohnsitz nicht nur den Betreffenden ungewiss, sondern wie oft streiten sich die Behörden über den Unterstützungswohnsitz. Zudem ist der Unterstützungswohnsitz, wie ich mir eingangs auszuführen gestattet habe, zumeist der denkbar ungeeignetste Ort, um eine neue Existenz, eine geordnete bürgerliche Existenz für den Betreffenden zu ermöglichen.

Es ist für jeden, der einmal vorbestraft ist, durch die formale Handhabe des Gesetzes vom Jahre 1842 schlechterdings ein Ding der Unmöglichkeit, nur einen Augenblick seines Lebens gewiss zu sein; er muss jeden Augenblick die Besorgnis hegen, dass die Polizei die Schlinge, die ihm um den Hals liegt, zuzieht und er wieder einmal aus seiner bürgerlichen Existenz herausgerissen wird, mag sie auch noch so geordnet sein.

Das sind Erscheinungen, die auf das ernsteste Missbilligung verdienen, und dieses Gesetz müsste meiner Ansicht nach von Ihrem Standpunkt aus, vom Standpunkt Ihres Interesses aus, vom Standpunkt des Interesses jeder einzelnen Partei in diesem Hause bekämpft werden, seine Abschaffung oder mindestens seine starke Modifikation müsste erstrebt werden. Dieses sinnlose Hin- und Herzerren, zu dem sich vielfach gegenwärtig die Anwendung des Gesetzes gestaltet hat, hat nichts weiter als Nachteile für die Gesamtheit des Gemeinwesens im Gefolge und ist bei weitem nicht geeignet, den Erfolg zu erzielen, der durch dieses Gesetz erzielt werden soll.

Meine Herren, wenn Sie meinen, dass damit etwa nun die Möglichkeiten, dieses Gesetz in schikanöser Weise zu gebrauchen, erschöpft seien, so täuschen Sie sich, und zwar, weil Sie eben in Preußen sind. Es würde kein preußisches Gesetz sein, und wir würden nicht in Preußen leben, wenn nicht auch dieses Gesetz, das seinem ganzen Wesen nach durchaus nicht als ein politisches Gesetz gedacht ist, doch auch als ein politisches Gesetz angewandt worden wäre. Meine Herren, es ist vielfältig gegenüber missliebigen Personen, die nichts anderes getan haben, als sich politische Strafen zuzuziehen, von diesem Gesetze Anwendung gemacht worden, insbesondere auch gegenüber meinen Parteigenossen. Ich erinnere insbesondere an den Fall eines recht bekannten Schriftstellers, der sich früher – und wohl auch jetzt noch – zur Sozialdemokratie rechnete, eines angesehenen Gelehrten, der seinen Wohnsitz in einem Vororte von Berlin, in Wilmersdorf, hatte. Dort hat man ihn geduldet, dort hat er jahrelang gewohnt. Er hatte sich während seiner Redakteurtätigkeit in Magdeburg einige Beleidigungsstrafen zugezogen. Nun wollte er von Wilmersdorf nach Friedenau ziehen. Als er in Friedenau sich meldet, wird ihm von der Polizei bedeutet, dass sie von dem Gesetz vom Jahre 1842 Gebrauch machen und ihn auf Grund des Vagabundenparagraphen ausweisen werde.

Meine Herren, also ein Mann, der akademische Qualitäten besitzt, ein Mann in einer guten äußeren Situation, ein hochgebildeter Mann, ein tüchtiger Gelehrter, ein Mann, dessen Vorstrafen rein auf politischem Gebiet liegen und der in einem Vorort von Berlin unbeanstandet jahrelang gelebt hat, wird auf Grund dieses Gesetzes plötzlich vor die Alternative gestellt, entweder nach Wilmersdorf zurückzugehen oder anderswohin zu ziehen, wo er seinen Unterstützungswohnsitz gehabt haben mag, oder in der Welt als Vagabund herum zu streifen, weil die Polizei ihn jedenfalls in Friedenau nicht dulden mag.

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Das ist doch ein konzentriertes Extrakt, kann man sagen, zur Kennzeichnung der preußischen Rückständigkeit. Wie man sagt, dass die Katze das Mausen nicht lassen kann, so kann man sagen, dass die preußische Regierung es nicht lassen kann, alle die Gesetze, die ihr überhaupt in die Hand kommen, auch politisch in irgendeiner Weise zu missbrauchen.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

In dem Fall, von dem ich spreche – ich will den Namen des Parteifreundes hier in diesem Falle nicht nennen, aber ich bin gern bereit, ihn jedem der Herren, der es wünscht, persönlich mitzuteilen –, in diesem Falle hat sich allerdings das Berliner Polizeipräsidium schließlich eines Besseren besonnen: Es ist den Herren sanft bedeutet worden, dass die Öffentlichkeit, die Polizei doch wohl etwas gar zu sehr blamiert würde, wenn sie auf ihrem Standpunkt beharre, und nach einigem Hin- und Hergezerre hat denn schließlich auch der Dezernent diese höchst blamable Verfügung der Polizei zurückgenommen. Meine Herren, aber das lässt sich nicht bestreiten, dass wir bei der Beschaffenheit unserer preußischen Polizeiverwaltung, unseres preußischen Ministeriums des Innern stets damit zu rechnen haben, dass dieses Gesetz auch künftig wie bisher – und in politisch aufgeregten Zeiten vielleicht noch mehr als bisher – politisch missbraucht werden wird. Und auch das ist ein Grund, der uns ganz besonders veranlasst, auf Aufhebung dieses Gesetzes zu dringen, dieses Gesetzes, meine Herren, das eine Bankrotterklärung bedeutet der heutigen Kriminaljustiz und des heutigen Strafensystems, das an Stelle des Besserungsprinzips, an Stelle des Prinzips, die Menschen, die gesunken sind, zu fördern und zu heben, und an Stelle jedes sozialen Erziehungsprinzips das Prinzip der Unschädlichmachung, das Prinzip der Behandlung en canaille, des Hinausstoßens, wie man keinen Hund hinaus stoßen möchte, gesetzt hat.

Meine Herren, dieses Gesetz ist des weiteren schon um deswillen als höchst gefährlich zu bezeichnen, weil es in gar keiner Weise eine Grenze für seine Anwendung setzt. Und unserer Polizei, die ja überhaupt an dem Grundmangel leidet, den nicht nur wir Sozialdemokraten hervorheben, sondern den auch einsichtige Polizeileute selbst immer wieder betonen, dass sie zu sehr auf Repression und zu wenig auf Prävention ausgehe, ein derartiges Blankogesetz mit der Möglichkeit zu einer solchen Willkür in der Hand zu lassen, das ist doch eine sehr böse Sache und dürfte dem Interesse aller freiheitlich gesonnenen Menschen, aber auch, wie mir scheint, den Interessen der größeren Parteien dieses Hauses nicht mehr entsprechen.

Es fehlt uns ja leider eine Statistik über die Ausweisungen auf Grund dieses Paragraphen; jedenfalls ist eine Statistik darüber mir nicht zugänglich geworden. Ich glaube aber, dass die Zahl der Anwendungen dieses Gesetzes gar nicht gering ist. Es scheint allerdings, als ob in letzter Zeit die Regierung von dieser Bestimmung etwas weniger Gebrauch gemacht habe. Ich habe allerdings keinen Überblick darüber; meine rein persönlichen Erfahrungen genügen nicht, um mir einen Überblick zu verschaffen.

Wenn Professor von Gneist aber gemeint hat, dass das Gesetz schon um deswegen völlig hinreiche, weil es unter der Kontrolle der Verwaltungsgesetzgebung stünde, so glaube ich, bereits durch die vorhin von mir angeführten Entscheidungen bewiesen zu haben, dass man sich in dieser Beziehung auf das Verwaltungsgericht durchaus nicht verlassen kann. Das Verwaltungsgericht wird der willkürlichen Anwendung der Gesetze keinerlei Damm entgegensetzen, und es kann diesen Damm auch nach seiner eigenen Judikatur nicht entgegensetzen; denn die Willkür wird auf dem Gebiet der Zweckmäßigkeit liegen, und das Gebiet der Zweckmäßigkeit ist der Beurteilung des Verwaltungsgerichts nach dessen ständiger bedauerlicher Judikatur leider entzogen.

Nun, meine Herren, ist es bemerkenswert, dass auch bei diesem Gesetz die anderen deutschen Bundesstaaten ihre Staatsinteressen, ihre öffentlichen Angelegenheiten in einer weit fortgeschritteneren Weise geregelt haben, als es in Preußen der Fall ist. Ich erinnere zunächst an das bayrische Gesetz vom 25. April 1868. Dort ist in Artikel 45 Ziffer 5 bis 8 das Erforderliche bestimmt. Danach können Verbrechen und Vergehen gegen die Sittlichkeit, Diebstahl und Unterschlagung, Betrug, Hehlerei, Fälschung und dann Bestrafungen, die in einem Jahre mehrfach wegen der üblichen Übertretungen, wie Vagabundage usw., erfolgt sind, wenn auf Freiheitsstrafe erkannt ist, das Recht zur Ausweisung geben. Aber das Recht zur Ausweisung kann nur ausgeübt werden in der Zeit von der Rechtskraft des Urteils bis zum Ablauf von zwei Jahren seit dem Ende des Strafvollzuges und auch in diesen hier fraglichen Fällen nur auf die Dauer von zwei Jahren, wobei die Strafen allerdings nicht eingerechnet sind. Sie sehen hier eine starke Abgrenzung in der Richtung, dass nur innerhalb einer bestimmten Zeit die Verfügung erlassen werden darf, dass sie nur wegen bestimmter Verbrechen ergehen darf und dass schließlich die Ausweisung auch nur auf eine bestimmte Dauer erfolgen kann.

In genau derselben oder in ähnlicher Weise wird in Ziffer 6 bestimmt, dass andere Delikte gegen die Polizeistrafgesetze zur Ausweisung bis zum Ablauf eines Jahres nach Beendigung des Strafvollzuges berechtigen, aber auch hier nur auf die Dauer von zwei Jahren. Selbst bei Prostituierten ist die Ausweisungsbefugnis nur auf zwei Jahre, nicht allgemein, gegeben, so dass einem Mädchen, das früher Prostitution betrieben hat, wenn es sich ordentlich zu führen begonnen hat, aus den früheren Verfehlungen keine dauernden Nachteile erwachsen können. Es folgen dann weiter einige andere Bestimmungen, die gleichfalls zeigen, wie weit man sich in Bayern bemüht hat, die polizeiliche Willkür durch gesetzliche Maßregeln einzuschränken.

In Württemberg ist es ganz ähnlich. Dort haben Sie auch eine doppelte Befristung: des Zeitraums, innerhalb dessen die Ausweisung überhaupt erfolgen kann, und dann auch des Zeitraums, auf den die Ausweisung erfolgen darf. Es handelt sich um das Gesetz vom 16. Juni 1885, Artikel 57. Dort ist die Ausweisung zugelassen: wenn in den letzten fünf Jahren jemand mit mehr als einjähriger Freiheitsstrafe bestraft worden ist; wenn er in den letzten fünf Jahren wegen Kuppelei, Diebstahls, Hehlerei, Betrugs oder gewerbsmäßigen Wilderns mit Gefängnis von mehr als sechs Wochen, während des Ehrverlusts, wenn er in den letzten drei Jahren wegen Bettelns, Landstreichens, Prostitution, Arbeitsscheu mit Haft von mindestens einer Woche oder wegen einer dieser Übertretungen wiederholt bestraft ist.

Außerdem muss die Dauer, auf die die Verweisung erfolgt, nach Vorschrift des Gesetzes ausdrücklich angegeben sein. Es gibt also nicht die Willkür, einfach zu sagen: du wirst ad infinitum verwiesen, sondern die Verweisung kann nur abgegrenzt erfolgen.

Was Sachsen anbelangt, so kann man sagen, dass dieses Land in gewisser Beziehung die vorgeschrittenste Gesetzgebung auf diesem Gebiete hat, wenngleich Bayern ihm in anderer Richtung überlegen ist. Sachsen hat eine Einschränkung, die höchst wichtig ist; sie findet sich in dem Gesetz vom 15. April 1886, in Paragraph 1, wo es heißt:

Bestraften Personen kann der Aufenthalt untersagt werden, wenn nach den daselbst waltenden örtlichen und persönlichen Verhältnissen zu befürchten ist, dass dieser Aufenthalt den Bestraften im besonderen Grade Gelegenheit zur Wiederholung von Rechtsverletzungen in der angezeigten Richtung darbieten und dadurch Gefährdungen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit verursacht werden."

Es ist also hier ein Versuch unternommen, den Begriff der Gefährdung der öffentlichen Ordnung besonders zu umgrenzen. Ich will mich nicht darüber auslassen, ob ich diesen Versuch für gelungen halte; aber jedenfalls verdient er alle Beachtung, und in der Richtung dieses Versuches werden sich meines Erachtens unter anderem auch die legislatorischen Reformbewegungen in Preußen zu bewegen haben.

In Paragraph 2 heißt es, dass die Ausweisung gestattet ist, wenn wegen Verbrechens oder Vergehens sechs Wochen erkannt sind; sodann, wenn jemand wegen Verbrechens oder Vergehens in den letzten fünf Jahren wiederholt, und zwar wenigstens einmal, mit einer Freiheitsstrafe belegt ist; drittens, wenn jemand wegen Verbrechens, Vergehens oder Übertretungen im letzten Jahre wiederholt und wenigstens einmal mit Freiheitsstrafe belegt worden ist.

Dann gibt es in Paragraph 3 Einschränkungen, die recht human sind, die wenigstens in der Richtung der Humanität liegen, wenn ich auch nicht sage, dass die Aufgaben der Humanität im Entferntesten erfüllt sind. Die bestrafte Ehefrau soll zunächst nicht ausgewiesen werden können. Wer in ehrbarer häuslicher Gemeinschaft lebt und dort seine Subsistenz bezieht, soll auch nicht ausgewiesen werden können, gleichviel, ob er bestraft ist oder nicht – eine sehr vernünftige, sehr verständige Vorschrift. Dann soll ein Aufenthalt von mehr als zwei Jahren bei ständigem ehrbarem Erwerb die Möglichkeit, Schwierigkeiten zu bereiten, aufheben. Dann ist gesagt – und das ist die allerwichtigste Bestimmung in dem sächsischen Gesetz, die ganz besondere Nachahmung verdient – in Paragraph 3: Wenn jemand ausgewiesen ist, darf er aus einem mindestens 25 Kilometer von diesem Orte entfernt liegenden Orte nicht ausgewiesen werden, wenn er sich nicht einer neuen Straftat schuldig macht. Damit ist eine örtliche Umgrenzung des Bezirkes gegeben, aus dem die Ausweisung erfolgen kann, und es ist dem Betroffenen die Möglichkeit gegeben, sich ein klares Bild über seine Zukunft zu machen und über den Ort, wo er seine Zelte aufschlagen will. Das ist höchst wichtig. Paragraph 6 bestimmt dann auch, dass das Recht zur Ausweisung nur ein Jahr lang seit Verbüßung der Strafe besteht, nicht, wie das Oberverwaltungsgericht sagt, ohne Rücksicht darauf, wie viel Zeit seit Verbüßung der Strafe verflossen ist. Die Dauer der Ausweisung ist auch hier auf höchstens zwei Jahre abgegrenzt.

Das sächsische Gesetz hat trotz Gneist – es ist allerdings zur Zeit des bekannten Aufsatzes von Gneist dieses Gesetz ihm wahrscheinlich noch nicht bekannt gewesen; es ist etwa erst zur selben Zeit erschienen – doch eine Möglichkeit gefunden, wenn auch nur in nuce, in den Anfangsgründen, durch eine präzise gesetzliche Umgrenzung auch auf diesem Gebiete der polizeilichen Willkür Schranken zu setzen, und ich meine, meine Herren, wenn andere deutsche Bundesstaaten dies fertiggebracht haben, dass es mindestens doch auch Preußen fertig kriegen sollte.

Wenn man, meine Herren, nicht so weit geht wie wir, die wir die Aufhebung des Paragraphen 2 Absatz 2 des Gesetzes von 1842 schlechterdings verlangen, wenn man meint, dass das zu Fährlichkeiten führt, wenn man sich nicht belehren lässt durch die Beispiele von London und Paris, über die wir ja gar zu gern die Nase zu rümpfen pflegen, besonders in polizeilicher Beziehung, obwohl, wie mir scheint, unsere Polizei von der in diesen Großstädten manches lernen könnte – dort ist das Recht auf Freizügigkeit durch gesetzliche Bestimmungen als absolutes Recht begründet und gilt als Grundrecht, wie es bei uns 1848 auch gedacht gewesen ist –, selbst wenn man diesen Standpunkt nicht billigt, so werden Sie doch nicht verkennen können, dass die Art der Fassung des preußischen Gesetzes zu Folgerungen führt, die auch vom Standpunkt der herrschenden Parteien dieses Hauses im höchsten Maße zu bedauern sind. Sie werden nicht verkennen dürfen, dass unsere heutige Gesellschaftsordnung gerade die Aufgabe hat, alle diejenigen, die sie ausgebeutet hat, nicht, wenn sie schließlich ausgepresst sind wie eine Zitrone, einfach davon zu werfen, wie wenn sie wertloser Plunder wären; Sie werden nicht verkennen dürfen, dass es grade Aufgabe eines christlichen Staates ist, Vorsorge zu treffen, dass den Anforderungen des Christentums gegenüber den Mühseligen und Beladenen entsprochen werde.

Meine Herren, beweisen Sie durch die Beschlussfassung über unseren Antrag, wie Sie in Wirklichkeit den christlichen Staat auffassen und in welchem Umfange Sie bereit sind, das Wort vom Christentum, das Sie so gern im Munde führen, auch in die Tat umzusetzen.

(„Bravo!" bei den Sozialdemokraten.)

II

2. Juni 1910

Die Erlasse, von denen der Unterstaatssekretär gesprochen hat, sind uns leider nicht im Wortlaut mitgeteilt, so dass wir nicht in der Lage sind nachzuprüfen, inwieweit sie etwa innerhalb des Verwaltungsrahmens dasjenige annähernd erfüllen, womit man sich eventuell einverstanden erklären kann. Im Allgemeinen wird man aber sagen dürfen, dass der Gesichtspunkt, von dem der Unterstaatssekretär ausging, dass das Gesetz nur Anwendung finde bei schweren Verbrechern, wenn er auch jetzt maßgebend sein sollte, sicherlich früher nicht maßgebend gewesen ist. Es ist zweifellos – und ich habe dafür eine genügende Anzahl von Belegen beigebracht bei meiner Begründung –, dass das Gesetz früher in sehr rigoroser Weise angewandt worden ist auch in den Fällen, wo von schweren Verbrechen überhaupt keine Rede gewesen ist. Ich habe einige Fälle angeführt, in denen es sich nur um geringfügige Strafen wegen Körperverletzung und Beleidigung gehandelt hat, um ehrenrührige Sachen überhaupt nicht.

Ich habe des Weiteren darauf hingewiesen, dass das Gesetz bedauerlicherweise nicht selten politisch missbraucht ist, dass Personen, die nur wegen politischer Vergehen verfolgt gewesen sind, ausgewiesen worden sind; mir sind allerdings in der letzten Zeit Fälle dieser Art nicht bekannt geworden. Mir ist zuletzt vor mehreren Jahren der Fall eines Anarchisten durch die Finger gegangen, der ein Anarchist deutscher Farbe war, der sich nicht einer Gewalttätigkeit schuldig gemacht hatte, sondern der nur wegen politischer Pressvergehen verurteilt worden war und dem dann auf Grund dessen der Aufenthalt in der Umgebung von Berlin unmöglich gemacht und die Existenz vernichtet wurde. Ich habe heute – und das dürfte ganz pikant sein – Gelegenheit, Sie mit einem Fall bekanntzumachen, der ein Mitglied dieses Hauses betroffen hat, nämlich unsern Parteifreund Hoffmann. Der Abgeordnete Hoffmann erhielt am 5. November 1894 eine Verfügung folgender Art vom Berliner Polizeipräsidenten:

Es ist zu meiner Kenntnis gelangt, dass Sie seit dem Jahre 1891 zu Magdeburg, Zeitz, Naumburg wiederholt wegen öffentlicher Beleidigung und Vergehens gegen das Pressgesetz mit Geldstrafe und Gefängnis bestraft sind."

Ich bemerke, es handelt sich um drei Gefängnisstrafen von nur kurzer Zeit, zehn Tage, vierzehn Tage und ein Monat. Nun fährt der Erlass fort:

Von der mir auf Grund des Paragraphen 2 Nr. 2 des Gesetzes vom 31. Dezember 1842 und des Paragraphen 3 des Gesetzes über die Freizügigkeit vom 1. November 1867 zustehenden Befugnis, bestrafte Personen von Landespolizei wegen vom Aufenthalt in Berlin auszuschließen, will ich im vorliegenden Fall mit Rücksicht darauf, dass Sie hier einen reellen Broterwerb gefunden haben, vorläufig"

das „vorläufig" ist dick unterstrichen –

keinen Gebrauch machen und Ihnen den Aufenthalt hier versuchsweise gestatten. Es geschieht dies jedoch nur unter Vorbehalt jederzeitigen Widerrufs und in der Voraussetzung, dass Sie weder zu polizeilichem noch zu gerichtlichem Einschreiten Anlass geben werden. Sollte Ihr Verhalten dieser Erwartung nicht entsprechen, so würde ich mich genötigt sehen, die oben erwähnten Bestimmungen unnachsichtlich gegen Sie zur Anwendung zu bringen"

Gegenüber dieser Verfügung möchte ich bemerken, dass das Gesetz nur die Ausweisung Neuanziehender gestattet, dass es also zweifellos eine Gesetzwidrigkeit ist, jemanden „vorläufig" zuzulassen und sich den Widerruf der Zulassung vorzubehalten. Dazu gibt das Gesetz von 1842 zweifellos keine Handhabe.

Im Übrigen ist Herr Hoffmann ein geborener Berliner gewesen, und dadurch war es der Polizeibehörde außerordentlich schwer gemacht, ihn aus Berlin auszuweisen. Herr Hoffmann begab sich auf das Polizeipräsidium, sprach dort mit dem Grafen Stillfried und suchte ihm klarzumachen, dass eine Ausweisung bei ihm nicht in Frage kommen könne. Graf Stillfried verwies ihn darauf, dass er zehn Jahre von Berlin abwesend gewesen sei. Herr Hoffmann erwiderte ihm, dass daran sieben Wochen fehlten, und als dann Graf Stillfried erstaunt fragte, wo er denn diese sieben Wochen gewesen sei, konnte ihm Herr Hoffmann in seiner sarkastischen Weise antworten: „Moabit, Untersuchungsgefängnis, Flügel D, 4. Etage, Zelle 584; vom 7. Januar bis 28. Februar 1884."

(Heiterkeit.)

Meine Herren, Herr Hoffmann ist damals nicht aus Berlin ausgewiesen worden. Aber Sie sehen doch aus dieser Geschichte, wie man dieses Gesetz anwenden kann und wie man es früher anzuwenden versucht hat. Ich traue der preußischen Polizei nicht über den Weg; wenn sie eine Machtbefugnis in der Hand hat und sie heute auch nicht anwendet, so sind wir doch nicht sicher, dass sie nicht bereits morgen einen in höchstem Maße verwerflichen Gebrauch davon macht.

(Abgeordneter Hoffmann: „Sehr wahr!")

Infolgedessen dürfen wir unter keinen Umständen eine solche Machtbefugnis in den Händen der preußischen Polizei lassen. Es ist eigentümlich, dass hier wiederum derselbe Versuch gemacht wird, von dem ich neulich bereits bei der Erörterung über das Pressgesetz gesprochen habe und der auch beim preußischen Vereinsgesetz gemacht worden ist: Man will das Gesetz nicht abändern, man will die Möglichkeit in Händen behalten, es nach seinem Belieben und Ermessen anzuwenden, es wenigstens gelegentlich aus der Rumpelkammer herauszuholen. Man will nur im Verwaltungswege schöne Verfügungen und Anweisungen treffen, die aber keinen Menschen binden, am wenigsten natürlich die Zentralinstanz, die sie erlässt. Mit einer solchen Selbstkorrektur der preußischen Polizeibehörde können wir uns nicht begnügen.

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Es ist absolut notwendig, dass die Grundsätze, nach denen dieses Verfahren zu reformieren ist, gesetzlich festgelegt werden, wie das ja Herr Abgeordneter Lusensky bereits gefordert hat. Die Methode, im Verwaltungswege Abhilfe zu schaffen, können wir unter gar keinen Umständen für hinreichend erachten.

Wenn der Herr Unterstaatssekretär und der Herr Minister durch die Erlasse anerkannt haben, dass in der Tat für die Anwendung des Gesetzes in jenem ungemein weiten, uneingeschränkten Umfange, den zu charakterisieren ich mir neulich hier gestattet habe, kein Bedürfnis mehr besteht, wenn also anerkannt ist, dass Einschränkungen möglich sind – das ist ja auch ganz selbstverständlich, nachdem, wie ich dargelegt habe, in Bayern, in Württemberg und in Sachsen sehr erhebliche Einschränkungen gesetzlich vorgenommen worden sind –, dann ist damit auch anerkannt, dass unser Antrag berechtigt ist, dass unser Verlangen gerechtfertigt ist, Mittel und Wege zu suchen, um eine gesetzliche Beseitigung oder mindestens Einschränkung dieser Bestimmungen in irgendeiner Weise vorzubereiten und so dafür zu sorgen, dass den Grundsätzen der Humanität auf diesem Gebiete in einer Weise, die die Polizei bindet und ihr die Möglichkeit der Willkür raubt, Rechnung getragen wird.

Es mag vielleicht sein, dass in der letzten Zeit keine Klagen zu den Ohren der Staatsregierung mehr gedrungen sind und dass man infolgedessen glaubt, die erlassenen Verfügungen entsprächen den Bedürfnissen. Ich würde eine solche Schlussfolgerung für sehr bedenklich halten. Wer in der Praxis des Lebens steht, speziell als Jurist, weiß, wie häufig gerade das schwerste Unrecht den am meisten bedrückten und elendsten Personen geschieht, ohne dass diese auch nur die moralische Fähigkeit besäßen, zu remonstrieren; sie laufen einfach wie weggejagte Hunde davon und mucksen sich gar nicht, sie sind eben in dieser besten der Welten daran gewöhnt, behandelt zu werden wie räudige Hunde. Man kann aus dem Fehlen solcher Beschwerden keine Folgerungen ziehen, wie sie die Regierung gezogen hat; durch die Ausführungen ist in keiner Weise die Dringlichkeit der von uns geforderten Reform für widerlegt zu erachten, und wir können nur von neuem das dringende Ersuchen stellen, dass unserem Antrage Folge gegeben werde.2

(„Bravo!" bei den Sozialdemokraten.)

1 Nach dem Reichsgesetz über den Unterstützungswohnsitz vom 6. Juni 1870 (abgeändert am 12. März 1894 und 30. Mai 1908) galt der Ort, an dem einer bestimmten hilfsbedürftigen Person Aufenthalt und öffentliche Unterstützung gewährt werden musste, als Unterstützungswohnsitz. Er wurde erworben durch Abstammung, bei weiblichen Personen durch Heirat und durch längeren ununterbrochenen Aufenthalt. Er ging verloren durch Erwerbung eines anderen Unterstützungswohnsitzes oder nach einjähriger ununterbrochener Abwesenheit.

2 Der Antrag wurde abgelehnt. Die Red.

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