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Karl Liebknecht 19110323 Die Fronde der ostelbischen Junker gegen das Reich

Karl Liebknecht: Die Fronde der ostelbischen Junker gegen das Reich

Rede im preußischen Abgeordnetenhaus zum Staatshaushaltsetat

[Nach Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Hauses der Abgeordneten, 21. Legislaturperiode, IV. Session 1911, 4. Bd., Berlin 1911, Sp. 4893-4908 und nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 4, S. 287-310]

Meine Herren, es ist eigentümlich, dass gerade der Herr Freiherr von Zedlitz als Mentor wegen des häufigen Redens im Hause aufgetreten ist,

(Zuruf bei den Freikonservativen: „Wegen des langen Redens!")

nachdem doch die letzte Geschäftsübersicht erweist, dass er im vergangenen Jahre am Allerhäufigsten geredet hat.

Meine Herren, wir können all diesem Gerede über die zu große Ausführlichkeit der Verhandlungen in diesem Hause durchaus keine Bedeutung beimessen. Wir sind der Überzeugung, dass es nicht angeht, in einem Parlament an den wichtigsten Angelegenheiten ohne ausführliche Erörterung vorüberzugehen. Wir halten es für unsere Pflicht und Schuldigkeit, immer und immer wieder unsere Meinung zu jedem einzelnen Akt der Regierung, zu jedem einzelnen Posten des Etats, zu jedem einzelnen Gesetzentwurf darzulegen. Wir haben das um so mehr nötig, als wir ja dadurch, dass wir aus der Budgetkommission ausgeschlossen sind, verhindert sind, unsere Einwendungen anderwärts als im Plenum vorzubringen.

Und des weiteren, meine Herren, wir sind die Beschwerdeführer; wir sind es, die Tag für Tag Anlass haben, gegen die Art, wie die Regierung in Preußen ausgeübt wird, lebhaften Protest zu erheben. Dass wir unser Herz gegenüber der preußischen Regierung und denen, die hinter ihr stehen, voller haben, dass das Material, das unseren Beschwerden zugrunde liegt, reichlicher und ausführlicher ist, als was Sie vorzubringen in der Lage sind, das ist ganz selbstverständlich. Es ist Ihnen schon wiederholt gesagt worden, dass Sie die Regierenden sind, dass die Regierung bereits hinter den Kulissen von Ihnen instruiert wird, dass Sie infolgedessen nur ganz selten einmal Veranlassung haben, in diesem Hause ernstliche Beschwerden zu erheben. Aber wenn Sie einmal eine Beschwerde gegen die Regierung vorzubringen haben, dann nehmen Sie auch kein Blatt vor den Mund; darüber belehren uns gerade die Vorgänge der heutigen Sitzung aufs Neue.

Meine Herren, wir sind selbstverständlich der Überzeugung, dass der Antrag Zedlitz, der heute mit zur Abstimmung steht, sachlich das Richtige trifft. Seit jeher hat meine Partei das Verlangen erhoben, dass das Abgeordnetenhaus früher einberufen werden möge.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Das ist notwendig, damit dieser Etat, der sich an Bedeutung und Umfang dem Reichsetat durchaus an die Seite stellen kann, eine seiner Bedeutung entsprechende parlamentarische Behandlung erfahren kann.

Wenn der Abgeordnete Freiherr von Zedlitz gemeint hat, man könne die Debatten dadurch abkürzen, dass man den Parteistreit nicht in dieses Haus hineinzieht, so antworte ich ihm, dass gerade der Parteistreit in dieses Haus gehört. Das ist ja das Wesen des Parlamentarismus, dass die Parteien sich im Parlamente auseinandersetzen. Dass hier Reden zum Fenster hinaus gehalten würden, ist eine von den beliebten Redensarten. Meine Herren, ganz selbstverständlich halten wir unsere Reden nicht allein für dieses Haus; wir halten sie natürlich auch für Sie, aber nicht allein für Sie. Auch Sie selbst, meine Herren, halten ja Ihre Reden nicht nur für das Haus; Sie wissen ganz genau die Wirkung nach außen zu schätzen, und gerade Sie (nach rechts) wissen mit der parlamentarischen Demagogie besser Bescheid als vielleicht irgendeine andere Partei.

(Abgeordneter Leinert: „Sehr wahr!")

Meine Herren, dass wir aber ganz naturgemäß – in höherem Maße vielleicht als die anderen Parteien dieses Hauses – die Worte, die wir auffordernd, die wir kritisierend, die wir angreifend und anklagend gegen die Regierung richten, gleichzeitig mit münzen auf das Volk draußen, außerhalb dieses Hauses, das ergibt sich mit Notwendigkeit aus der einen Tatsache, dass die Massen der Wähler, die wir vertreten, in deren Auftrag wir handeln, in diesem Hause nur durch eine ganz kleine Partei vertreten sind, dass diese Wähler draußen im Lande bei weitem die größte Partei repräsentieren,

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

dass wir eine Abänderung der preußischen Zustände, der preußischen Missbräuche nur in der Form für möglich halten können, dass die Stimmung im Volke draußen umgestaltet wird gegenüber der jetzigen, dass das Volk draußen mehr und mehr zu einem entscheidenden politischen Machtfaktor für die Umgestaltung der preußischen politischen Verhältnisse werde.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Und wenn wir in diesem Sinne ganz naturgemäß den Parlamentarismus nicht betrachten als einen geheimen Dialog, gehalten zwischen den Parteien hier in diesem Hause, sondern als eine politische Aktion, die sich vor dem ganzen Lande vollzieht, vor den Augen und den Ohren des ganzen Landes und mit dem Zweck, dass das ganze Land an der parlamentarischen Tätigkeit teilnehme, dass das ganze Land durch sein lebendiges Fühlen und durch seinen lebendigen Willen hinter der parlamentarischen Aktion steht – meine Herren, dann vertreten wir, indem wir uns in diesem Sinne an die Gesamtheit des Volkes wenden, nur das Grundprinzip jeglichen wahren Parlamentarismus, der allerdings Ihnen (zu den Konservativen) nach Ihrem politischen Standpunkt in die Seele hinein verhasst ist.

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, gar mancher blickt heute vielleicht auf die Verhandlungen in diesem Hause, weil manches naive Gemüt wohl erwartet hat, dass aus diesem Hause heraus heute ein Appell an die preußische Staatsregierung ergehen werde, ein Appell auch gleichzeitig an die Reichsregierung, dass sie in jener ungeheuer wichtigen internationalen Frage der schiedsgerichtlichen Beziehungen zwischen Deutschland und den ausländischen Staaten, jener Frage der Abrüstung oder Rüstungsbeschränkung – dass in diesen gerade heute so hochaktuellen Fragen die Reichsregierung rasch vorangehen möge im Interesse der Aufrechterhaltung des Weltfriedens, im Interesse des Deutschen Reiches und des ganzen deutschen Volkes.

Meine Herren, in dieser Kulturfrage, so erwartete man wohl in manchen Kreisen, werde hier in diesem sogenannten Parlamente die Stimme erhoben werden, um dem Fortschritte die Wege rascher zu bahnen. Und statt dass in dieser Frage von größter internationaler Bedeutung, in dieser Frage, die wirklich als eine Kulturfrage ersten Ranges zu bezeichnen ist, von diesem Hause ein Votum abgegeben wird zur Förderung der Kultur und der Menschheitsentwicklung, statt dessen müssen wir erleben, dass heute in theatralischer Aufmachung

(Lachen und Widerspruch bei den Konservativen.)

mit dem berühmten Pomp von der Rechten dieses Hauses hier ein Spektakelstück inszeniert ist zu dem Zwecke, um die Reichsregierung ins Mauseloch hineinzutreiben.

(Lachen bei den Konservativen.)

Meine Herren, die Fronde hat sich wieder einmal erhoben,

(Lachen bei den Konservativen.)

wie wir das so oft in der deutschen Geschichte erlebt haben; die ostelbische Fronde hat sich erhoben, die preußische Fronde hat sich erhoben, die preußische Reaktion hat sich erhoben und die Faust geballt gegen den Reichskanzler, der ja gleichzeitig Ministerpräsident von Preußen ist.1

Meine Herren, das sind ja ganz eigentümliche Vorgänge. Da wird von dem Herrn Abgeordneten Dr. von Heydebrand erzählt, dass es im Interesse des Deutschen Reiches durchaus nicht angängig sei, die Macht Preußens im Bundesrat zu schwächen. Ja, was ist denn das Bestreben der Rechten dieses Hauses in dieser Frage? Nachdem der Statthalter einfach eine Puppe ist – nach dem Vorschlag der Reichsregierung – in den Händen der preußischen Regierung, ist die ganze elsass-lothringische Staatsverwaltung als ein Appendix zu der preußischen Staatsverwaltung gedacht. Wenn man nunmehr dieser Staatsregierung das unbegrenzte Recht auf drei Bundesratsstimmen geben würde, so würde das nicht eine Konzession an Elsass-Lothringen, sondern eine Vermehrung der Macht Preußens bedeuten, und aus diesem Grunde haben sich gerade die elsass-lothringischen Patrioten, denen es darauf ankommt, dass nach aller Möglichkeit wenigstens eine gewisse Selbstverwaltung, ein gewisses Selbstbestimmungsrecht für Elsass-Lothringen eingeführt wird, gegen die einfache Verleihung von drei Bundesratsstimmen ausgesprochen. Dass in dem Augenblick, wo ohne jegliche Bindung uneingeschränkt der elsass-lothringischen Regierung drei Bundesratsstimmen gegeben werden würden, der Einfluss Elsass-Lothringens schwächer sein würde, als wenn Elsass-Lothringen gar keine Stimmen im Bundesrat hätte, das ist die Ansicht aller einsichtigen, mit den Verhältnissen vertrauten Personen. Meine Herren, nur eine Vermehrung des preußischen Einflusses würde dadurch herbeigeführt! Das ist es, was Sie wünschen! Sie sträuben sich in diesem Augenblick nicht so sehr gegen eine Verminderung des preußischen Einflusses, sondern Sie sind bestrebt, eine Vermehrung des preußischen Einflusses herbeizuführen.

Meine Herren, es liegt aber auch ganz außer jeder Möglichkeit, dass, nachdem die elsass-lothringische Staatsregierung zu einer Puppe, wie ich wiederhole, der preußischen Staatsregierung gemacht werden soll, die drei Bundesratsstimmen Elsass-Lothringens, wenn sie gegen Preußen abgegeben werden, jemals wirklich eine ernstliche Gefahr für das Deutsche Reich und für Preußen herbeiführen könnten. Meine Herren, es ist doch ganz offenbar, dass eine solche Kombination geradezu unsinnig ist. Meine Herren, stellen wir uns doch einmal klar vor Augen, dass Preußen an und für sich jetzt bereits die Mehrheit im Bundesrat nicht hat, dass Preußen nur in bestimmten Fällen, in Fragen der Verfassungsänderung, in der Lage ist, sein Veto einzulegen. Aber, meine Herren, schließlich gehören ja doch die süddeutschen Staaten, die süddeutschen Regierungen auch zu Deutschland, und es ist eine geradezu unsägliche, von der borniertesten preußischen Einbildung eingegebene Auffassung, wenn man meint, dass die übrigen Staatsregierungen jemals, wenn es sich um eine wirklich das Wohl des ganzen preußischen Volkes betreffende Frage handeln würde, Preußen in den Rücken fallen und zum Schaden des Reiches eine anderweite Mehrheit erzielen würden. Eine solche Auffassung bedeutet den schwersten Angriff gegen alle deutschen Bundesstaaten außer Preußen; eine solche Insinuation bedeutet, wie wir es bereits wiederholt gehört haben, die erneute schroffste Proklamation des Willens, die preußischen Staatsmaximen unter allen Umständen mit den Lebensnotwendigkeiten des Deutschen Reiches zu identifizieren; es bedeutet eine Proklamation der unbedingten Superiorität des preußischen „Geistes" gegenüber den sämtlichen übrigen Bundesstaaten; es bedeutet die Proklamation eines Anrechts auf die Verpreußung von ganz Deutschland.

Meine Herren, dass wir einer solchen Anschauung scharf widersprechen, brauche ich nicht zu betonen. Wir haben gewiss keine Veranlassung, die süddeutschen, die außerpreußischen Regierungen gerade als Musterregierungen zu preisen; aber um so mehr sind wir der Überzeugung, dass die Besorgnisse, die hier von dem Herrn Abgeordneten von Heydebrand kundgegeben worden sind und sich speziell auch auf die Wohlfahrt des Deutschen Reiches beziehen sollen, in der Tat keine Besorgnisse sind, die aus den Interessen des Deutschen Reiches – selbst in Ihrem „staatserhaltenden" Sinne betrachtet – herausgegriffen worden sind. Denn das ist ausgeschlossen, dass in Bezug auf die Interessen des Deutschen Reiches die übrigen deutschen Bundesregierungen jemals in dieser Weise versagen könnten.

Es sind ausschließlich die engen preußischen Interessen, von denen Herr Abgeordneter von Heydebrand ausgegangen ist.

Meine Herren, dass wir es ja hier mit einer wohlvorbereiteten Aktion zu tun haben, beweist eine Publikation der „Kreuz-Zeitung", die vor wenigen Tagen erfolgt ist und in der bereits zwischen den Zeilen, möchte ich sagen, diese Aktion angekündigt gewesen ist. 2Meine Herren, dass wir ja hier mit einer wohlvorbereiteten Aktion zu tun haben, beweist eine Publikationen der Kreuzzeitung, die vor wenigen Tagen erfolgt ist, und in der bereits zwischen den Zeilen, möchte ich sagen, diese Aktion angekündigt gewesen ist. Meine Herren, wenn Ihnen wirklich darum zu tun ist, Elsass-Lothringen an das Deutsche Reich anzugliedern, wenn es Ihnen wirklich ernst ist mit der Besorgnis, dass durch die Verleihung allzu erheblicher politischer Rechte an die Elsass-Lothringer dem Deutschen Reiche Gefahr drohen könnte, meine Herren, dann sollten Sie doch wahrhaftig ein klein wenig Einsicht in die Politik nehmen, wie sie in anderen kultivierten Ländern unterdrückten Völkern gegenüber ausgeübt wird. Meine Herren, angesichts der unseligen Kleinlichkeit dieses bornierten politischen Geistes, mit dem die elsass-lothringische Frage fortgesetzt bei uns besonders vom preußischen Standpunkt aus behandelt wird, ist es notwendig, wieder und wieder auf die wundervollen Erfolge zu verweisen, die die Engländer mit ihrer Taktik gegenüber den Buren gehabt haben, und die Erfolge, die England überhaupt in seiner Taktik gegenüber unterworfenen, kriegerisch besiegten Völkern eingeschlagen hat. Meine Herren, ist denn schließlich eine freiwillige Loyalität der elsass-lothringischen Bevölkerung für Sie ohne jegliche Bedeutung? Und lehrt Sie nicht eine einfache politisch-pädagogische Überlegung, dass Sie die Elsass-Lothringer um so rascher zu loyalen Staatsbürgern erziehen und ihrer Agitation, soweit sie etwa nach Ihrer Ansicht dem deutsch-nationalen Interesse widerstreben sollte, am allerraschesten jeden Boden, jede Wirksamkeit entziehen könnten, wenn Sie den Elsass-Lothringern eine Möglichkeit der Betätigung weitgehender politischer Freiheiten gewähren würden? Meine Herren, diesen Schritt zu tun und auf diese Weise durch Demokratisierung der Verwaltung die freiwillige Liebe der Bevölkerung zu gewinnen, liegt natürlich dem preußischen Geiste, dem preußischen Polizeigeiste, dem preußischen brutalen Gewaltgeiste, viel zu fern.

Meine Herren, es nimmt nicht wunder, dass es hier wieder einmal Freiherr von Zedlitz gewesen ist, der dasjenige, was der Abgeordnete von Heydebrand und der Lasa vorsichtig-diplomatisch verschwiegen oder hinter einem duftigen Schleier reichspatriotischer Phraseologie versteckt hat, mit deutlichen und .plumpen Worten zum Ausdruck gebracht hat,

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

denn er hat erklärt, es sei notwendig, die preußische Macht gegen Süddeutschland zu erweitern, jedenfalls nicht zu mindern, wegen der Gefahr demokratischer Einflüsse im Reiche. Ja, meine Herren, in der Tat, so liegt es: Es sind die relativ freiheitlicheren Verfassungen und Verwaltungen in anderen deutschen Bundesstaaten, die es Ihnen angetan, die bei Ihnen die heftigsten Angsthalluzinationen hervorgerufen haben. Sie besorgen von einer Verstärkung des Einflusses jener freiheitlicheren Staatsverwaltungen im Reiche eine Erschwerung Ihrer agrarischen, reaktionären Politik in der Verwaltung des Reichs, vor allem in Bezug auf die Wirtschaftspolitik, in Bezug auf die Sozialpolitik.

Und, meine Herren, da tritt denn angesichts dieses engherzigen Egoismus, den Sie heute wieder so klassisch zum Ausdruck gebracht haben wie kaum jemals zuvor, die Frage an Sie heran: Wie steht es mit der deutschen Bundestreue, wie steht es mit dem preußischen Selbstvertrauen? Meine Herren, ich muss Ihnen gestehen, dass ich das Selbstvertrauen der preußischen Staatsverwaltung, das Selbstvertrauen der in Preußen herrschenden Parteien nur sehr gering einzuschätzen vermag angesichts der großen Ängstlichkeit, mit der Sie immer wieder bemüht sind, jeglichen freiheitlichen Luftzug von Preußen fernzuhalten. Und Ihre Bundestreue! Wir haben Ihnen schon öfter ein Register aufgemacht, das Ihnen und dem Lande bewiesen hat, wie ernst es mit Ihrer Bundestreue bestellt ist. Der frühere Reichskanzler Fürst von Hohenlohe, der es wohl wissen musste, hat in seinen Memoiren erklärt: „Wenn es ihr Interesse erheischt, pfeifen die preußischen Junker auf das Reich." Das haben wir heute wieder gesehen, und es wird um deswillen nicht weniger wahr, weil Sie die Kühnheit und den Jesuitismus besitzen, Ihre neuen Angriffe gegen das Reich mit Phrasen zu umkleiden, die den Anschein erwecken sollen, als seien Sie auf des Reiches Wohl bedacht.

Meine Herren, wie hat heute Herr von Heydebrand und der Lasa die Reichsregierung, die preußische Regierung vor seine Klinge gefordert, wie hat er sie heute vor sein Forum gezogen und seinen Urteilsspruch abgegeben unter Stirnrunzeln über die Art, wie die Geschäfte der Regierung geführt werden, so apodiktisch und schroff, dass man in der Tat nur noch ein Lächeln übrig behält, wenn Herr von Heydebrand und der Lasa seine Ausführungen mit der Bemerkung begann, dass er nicht in die Reichsregierung eingreifen wolle, dass er darum auch nicht den Weg der Interpellation gewählt habe und dass es ihm weit entfernt liege, in irgendeiner Weise an dem Verhalten der Regierung Kritik üben zu wollen! Wenn man diese von dem Hause mit Lachen aufgenommenen Bemerkungen des Herrn von Heydebrand vergleicht mit dem Ton, mit dem er aufgetreten ist, der in der Tat nur als der Ton eines regierenden und befehlenden Hauptes bezeichnet werden kann, dann wird man nicht bestreiten können, dass es sich hier handelt um einen energischen Ausdruck des unerschütterlichen Willens der hier in Preußen herrschenden reaktionären Partei, dass der Reichsregierung, die im Augenblick etwas gegen den Stachel zu löcken wagt, sofort durch den Appell des Herrn von Heydebrand und der Lasa Räson beizubringen sei. Die preußische Regierung hat den Appell im Augenblick etwas verloren; Sie behandeln sie wie einen Hund, der den Appell verloren hat,

(Unruhe rechts.)

wie einen Hund, der einmal nicht Order pariert hat, und nun wird er heran gepfiffen, und ihm wird sofort eine gehörige Lektion erteilt, er bekommt seine Prügel.

(Große Unruhe und lebhafte Zurufe rechts.)

Ja, das ist schon so.

(Glocke des Präsidenten.)

Präsident von Kröcher: Herr Abgeordneter, dieser Ton ist hier im Hause unpassend. Ich rufe Sie zur Ordnung.

(„Bravo!" rechts.)

Liebknecht: Meine Herren, in einem Punkte kann ich dem Herrn Abgeordneten von Heydebrand nur recht geben und mit Begeisterung recht geben, in seiner Verhöhnung der Selbstverleugnung als eines Staatsprinzips, eines politischen Prinzips. Das brauchte uns allerdings Abgeordneter von Heydebrand nicht so ausführlich auseinanderzusetzen, dass seine Partei die Selbstverleugnung für keine politische Tugend hält, er brauchte uns nicht ein Wort darüber zu sagen, welcherlei Faktoren von seiner Partei als für die Gestaltung der Staaten entscheidend und als Grundlage der politischen Macht betrachtet werden. Er hat uns aufgezählt die Macht der Krone, er hat uns aufgezählt die Macht der Staatsverwaltung, er hat uns aufgezählt die Macht des Militarismus, der Polizei usw. In der Tat, es ist wahr, die preußische Geschichte ist nicht mit Rosenwasser begossen,

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

die preußische Geschichte ist nicht mit Selbstverleugnung und nicht mit christlichen Tugenden geschaffen – das sollten die Herren vom Zentrum sich einmal hinter die Ohren schreiben – geschaffen ist die preußische Macht mit Blut und Eisen,

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

mit Rechtsbruch und mit Gewalt. Darüber sind wir uns vollkommen klar, und das hat auch der Abgeordnete von Heydebrand und der Lasa nun heute mit erfrischender Offenheit rückhaltlos eingeräumt. Meine Herren, aber wir behaupten, dass diese selben Faktoren, die Preußen geschaffen haben, auch gegenwärtig die einzigen Faktoren sind, die Preußen noch aufrechterhalten können.

(Lachen rechts.)

Auch heute gibt es von all den schönen christlichen und moralischen Grundsätzen nicht einen einzigen, der in der preußischen Staatsverwaltung irgendwie jemals praktiziert würde. Habe ich es nötig darauf zu verweisen, wie man in Preußen regiert? Ich denke an die Behandlung der Bergarbeiter, an die Behandlung der Eisenbahnarbeiter und sonstigen Staatsarbeiter.

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Ich denke daran, dass diesen Staatsarbeitern gegen Gesetz und Recht das Koalitionsrecht verwehrt wird. Ich denke daran, dass man den Bergarbeitern das Koalitionsrecht zu rauben im Begriffe steht.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Ich denke daran, dass man die Staatsarbeiter in Bezug auf ihre materielle Lage aufs Schmählichste misshandelt: Die Ausführungen meines Freundes Hoffmann vor zwei Tagen haben eine brennende Schmach für diesen Teil der preußischen Staatsverwaltung enthüllt. Ich denke an die Amtsführung des Landwirtschaftsministers, ich denke an seine berühmte Konzession gegenüber den Kali-Schmiergeldern3. Ich frage, wie steht es mit der Gesindeordnung in Preußen, wie steht es mit der Lage der Land- und Forstarbeiter in Preußen, wie steht es mit dem Legitimationszwange? Ist nicht in der Landwirtschaftsverwaltung allenthalben alles darauf zugeschnitten, die Masse des Volkes zu unterdrücken und auszubeuten und für das Wohlergehen der agrarischen Kreise, der großen Grundbesitzer, die Verwaltung und Gesetzgebung des Staats und des Reiches zu missbrauchen!

Und wenn ich auf die Justizverwaltung blicke, auf die Verhandlungen, die wir in diesem Jahre über sie geführt haben, so beweisen auch diese, wie recht Herr von Heydebrand und der Lasa in seiner Charakterisierung des preußischen Wesens hat. Denken Sie doch an jenes Amoklaufen, das sowohl vom Regierungstische wie aus diesem Hause von maßgeblicher Seite veranstaltet wurde gegenüber denjenigen preußischen Gerichten, die, wie im Moabiter Fall, es gewagt hatten, ein klein wenig die Zügel zu lockern, an denen Sie die preußische Justizverwaltung zu halten pflegen.

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Es ist nicht nötig, im Einzelnen hier auf die Fälle näher einzugehen, es ist auch nicht nötig, hier im einzelnen das Sündenregister des Ministers des Innern aufzuzählen, den man in diesem Hause ja nicht „Polizeiminister" nennen darf, offenbar, weil das Wort preußische „Polizei" sogar beim Präsidenten einen unangenehmen Beigeschmack bekommen hat.

(„Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.)

Habe ich nötig, auf die Landratsdebatten zu verweisen und auf die offene Proklamation der ungesetzlichen Willkür gegen oppositionelle Parteien, die wir in diesem Hause auch vom Regierungstische haben hören müssen? Soll ich erinnern an die Beschönigung der Polizeitaten von Moabit und daran, dass bis zum heutigen Tage es weder der Justiz noch der Polizeiverwaltung gelungen ist, von jenen durch das Urteil der Strafkammer des Landgerichts I schuldig gesprochenen Polizeibeamten einen einzigen zu erwischen? Dass es der preußischen Justiz, den Polizeibeamten bis zum heutigen Tage nicht gelungen ist – angeblich haben sie sich ja darum bemüht –, jene Mörder des Arbeiters Herrmann4 zu finden?

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Ich muss immer und immer wieder auf den Mord des Arbeiters Herrmann zurückkommen; wir werden nie und nimmer rasten, bis die preußische Staatsverwaltung hier ihre Pflicht und Schuldigkeit getan haben wird, und wir werden immer wieder mit Fingern zeigen auf dieses Kainszeichen, dieses Schandmal, das die preußische Polizeiverwaltung trägt.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten. – Glocke des Präsidenten.)

Präsident von Kröcher: Herr Abgeordneter, Sie dürfen nicht sagen, dass eine Verwaltung des preußischen Staats das Schandmal des Kainszeichens trägt. Herr Abgeordneter Dr. Liebknecht, ich rufe Sie zum zweiten Mal zur Ordnung und mache Sie auf die geschäftsordnungsmäßigen Folgen eines dritten Ordnungsrufs aufmerksam.

(„Bravo!" rechts.)

Liebknecht: Wir können auch in Bezug auf den Herrn Kultusminister, indem wir die Grundauffassung des Herrn Abgeordneten von Heydebrand und der Lasa bestätigen, nur immer wieder fragen: Was hat er denn – ich will auf die Antimodernistenangelegenheit5, auf die Lehrfreiheit in Preußen und dergleichen Sachen nicht weiter eingehen –, was hat er denn in der Angelegenheit jener Schulaufsichtsmaßregeln getan, die ich vor wenigen Wochen in diesem Hause vorgebracht habe? Bis vor wenigen Tagen haben die Schulaufsichtsorgane in den Turn-, Gesangunterricht usw. der Arbeiterjugend bis zu 21 Jahren nach demselben Schema eingegriffen, das vor dem 28. Juni 1910, vor dem Erlass jenes Reichsgerichtsurteils in Sachen Weber und Wildung, gehandhabt worden ist. Jetzt hat uns der Herr Kultusminister vor einigen Wochen kundgetan, dass er ein Rundschreiben erlassen habe, das die Praxis der Schulaufsichtsorgane mit der Entscheidung des Reichsgerichts in Einklang zu setzen bestimmt sei. Der Herr Kultusminister hat uns jedoch dies Zirkular nicht mitgeteilt; er hat seinen Inhalt auch nicht näher bezeichnet und hat insbesondere jede Auslassung darüber verweigert, ob er gewillt ist, denjenigen deutschen Reichs- und Staatsbürgern, gegen die bisher auf Grund rechtsungültiger, verfassungs- und gesetzwidriger Schulaufsichtsverfügungen Exekutivstrafen in maßlosem Umfang festgesetzt sind, denjenigen gegenüber, denen auf Grund solcher Verfügungen die Freiheit geraubt worden ist und die sogar auf Grund solcher rechtsungültigen Verfügungen aus ihrem Vaterland hinaus gejagt worden sind – ich erinnere hier nur an die Fälle Cieslok und Poniecki, die ich ausführlich vorgetragen habe –, ob er gewillt ist, hier Remedur eintreten zu lassen, ob er gewillt ist, dafür Sorge zu tragen, dass den Betroffenen Genugtuung wird, dass sie unter Aufhebung der ungesetzlichen Verfügungen und Maßregeln in den vorigen Stand eingesetzt werden. Das haben wir zu fordern, und wir haben zu fordern, dass der Herr Kultusminister anerkennt, dass jeder Versuch der Schulaufsichtsorgane, gegen solche Personen im Schulaufsichtswege einzuschreiten, die nicht gewerbsmäßig, wie in allen den hier in Frage kommenden Verordnungen, Gesetzen und Instruktionen vorausgesetzt wird, einen „Unterricht" erteilen, für ungesetzlich erklärt werden muss und dass er dem mit allem Nachdruck entgegenzutreten hat, dass künftig die Schulverwaltung in dieser Richtung über das Gesetz hinaus exzediert. In allen diesen Fragen haben wir bisher von dem Herrn Kultusminister, der das Schoßkind der reaktionären Parteien ist, nichts gehört. Wir fordern ihn von neuem heraus, dass er eine Erklärung nach dieser Richtung abgeben möge, und wir erwarten, dass sie spätestens bei der dritten Lesung des Kultusetats abgegeben wird.

Wenn wir so feststellen können, dass es bei der jüngsten Beratung des Etats und bei der Gesamtheit der bisherigen Beratungen nicht gelungen ist, innerhalb der preußischen Staatsverwaltung auch nur einen nennenswerten erfreulichen Zug festzustellen

(Abgeordneter Hirsch-Berlin: „Sehr richtig!")

auf dem Gebiet der Bergwerksverwaltung, der Verwaltung der öffentlichen Arbeiten, der Polizei, der Justiz, des Kultus, und wo immer wir anfragen mögen, so können wir auf der anderen Seite feststellen, dass eine unausgesetzte und unverkennbare Neigung zur Verstärkung der staatlichen Zentralgewalt und insbesondere der Polizeigewalt bei jeder Gelegenheit zum Ausdruck kommt. So ist für Preußen dasjenige charakteristisch, was geschieht, aber auch dasjenige – und vielleicht in noch höherem Maße –, was nicht geschieht.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Es ist und bleibt die heute neu bestätigte Wahrheit, dass die Herren auf der Rechten das Regime in Preußen in den Händen haben und dass sie die Regierung recht straff und energisch zu führen wissen.

Man hat die Frage aufgeworfen, ob wir nicht eigentlich das Ideal einer parlamentarischen Regierung haben. Denn in der Tat, wir müssen ja feststellen, dass es kaum irgendwo eine solche Homogenität der Regierung und des Mehrheitswillens eines Parlamentes gibt wie gerade in Preußen. Das scheint ja ein hoch idealer Zustand. Aber, meine Herren, wir sind uns darüber im Klaren – und jeder verständige Mensch ist sich darüber im Klaren –, dass diese Homogenität ausschließlich dadurch erzielt wird, dass die Mehrheit dieses Hauses von dieser selben Verwaltung, die mit der Mehrheit in diesem Hause wiederum übereinstimmt, eben erst geschaffen worden ist, wie andererseits die Verwaltung eben in den Händen der Anhänger dieser großen Parteien liegt. Es ist die Verwaltung draußen im Lande, die Verwaltung in ihren einzelnen Zweigen, mit all der Inkarnation der brutalen Machtmittel des Staates, die hinter den großen Parteien dieses Hauses steht; und dass natürlich, wenn so die Mehrheit dieses Hauses ein Ausdruck des Willens der Verwaltung ist, diese Mehrheit des Hauses mit der Verwaltung und der Staatsregierung übereinstimmt, das ist ja ganz selbstverständlich.

Meine Herren (zur Rechten), Sie haben in Preußen die Verwaltung in Händen; Sie haben damit die Macht: Darüber sind wir uns klar. Wir haben die Beispiele dafür erst bei der jüngsten Beratung gesehen; wir haben gesehen, wie gerade jetzt bei der Beratung über die Frage einer Fortführung des Mittellandkanals die Regierung in der Tat von den großen Parteien dieses Hauses in einer geradezu unwürdigen Weise behandelt worden ist und wie sie sich das mit Kusshand hat gefallen lassen.

Meine Herren, wir können feststellen, dass in allen möglichen Fragen die Verwaltung sich auch über Recht und Gesetz hinweggesetzt hat. Wir haben bei der Etatberatung die schärfsten Vorwürfe gegenüber den verschiedenen Ministerien wegen konstanter Ungesetzlichkeit der Maßnahmen immer wieder zu erheben und zu unterstreichen gehabt. Das besagt: dass die Verwaltung in Preußen nicht nur alle sonstigen staatlichen Funktionen regiert, sondern sich auch über das Gesetz stellt, dass die Verwaltungswillkür in Preußen die oberste Regierungsmaxime bildet.

Meine Herren, dass die Gesetze gegenüber den Interessen der herrschenden Klassen durchaus als Quantité negligeable betrachtet werden, das ist Ihnen so oft ad oculos demonstriert worden, das ist auch so oft selbst vom Ministertisch als richtig zugegeben worden, dass man es hier nur zu konstatieren braucht als eine vor aller Augen offensichtliche Tatsache. Man kann wohl sagen, dass für Preußen das Gebot gilt und dass dies die Quintessenz der heutigen Worte des Herrn Abgeordneten von Heydebrand und der Lasa war, die er der preußischen Regierung zugerufen hat: Du sollst den Kaiser, das Reich und das Gesetz verlassen und Herrn von Heydebrand anhangen.

(Heiterkeit.)

Das ist der Wille der herrschenden Parteien in diesem Hause.

Meine Herren, Sie kennen das berühmte Wort: noblesse oblige. Leider ist dieses Wort sehr zweideutig; das oblige kann sowohl aktiv wie passiv sein. Sie (zur Rechten) fassen es in dem Sinne auf, dass der Adel nicht Sie, die Adligen, verpflichtet, sondern dass der Adel, das heißt die Adligen, das heißt das Junkertum, andere zu verpflichten berechtigt sind. Und von diesem Standpunkt führen Sie Ihre Staatsregierung.

Meine Herren, die politische Konstellation ist ja gegenwärtig von ganz hervorragendem Interesse, besonders, wenn man auf jene historische Sitzung, darf ich sagen, zurückgreift, in der der Herr Abgeordnete Schiffer der Konservativen Partei in schroffer und leidenschaftlicher Weise den Vorwurf mangelnder Gesetzlichkeit und mangelnden Rechtsgefühls machte und das Tischtuch, so gut wie es einem Nationalliberalen überhaupt möglich ist, zwischen sich und der Rechten zerschnitt. Meine Herren, in jener Sitzung stand alsbald der Herr Abgeordnete Dr. von Heydebrand auf und hielt jene große aufklärende Rede, in der er den Parteien dieses Hauses, insbesondere den Nationalliberalen, sein hoc volo, sic jubeo zurief. Meine Herren, Sie wissen ja, wieso diese Sitzung, die als symbolisch bezeichnet werden kann für die heutige Situation, mit einem schroffen Missklang zu enden drohte, als aus dem Zentrum heraus sich der „Arbeitervertreter" Herr Gronowski erhob und eine Hetzrede gegen die Sozialdemokratie, gegen die Arbeiterpartei, hielt.

(Zustimmung bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, das war symbolisch. Da hat das Zentrum –

(Abgeordneter Ramdohr: „Hände weg!" – Heiterkeit.)

Sie haben Recht: Ich weiß ja, dass, wenn man Ihnen die Hände hinstreckt, man stets zu gewärtigen hat, dass einem etwas daraus weggenommen wird.

(„Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren! Es ist charakteristisch, dass die Herren vom Zentrum sich hier durch diese Rede – sie kann ja politisch nur in diesem Zusammenhange verstanden werden – als die Vermittler zwischen den agrar-kapitalistischen und den industriell-kapitalistischen Parteien angeboten haben auf der Basis eines Kampfes gegen die Sozialdemokratie.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Nicht anders konnte das damalige Vorgehen des Zentrums verstanden werden.

So sehen wir denn, wie nicht nur draußen im Lande ein Kampf um die Seele des Volkes geführt wird, sondern wie auch in diesem Hause ein Kampf um die Seele gewisser Parteien gekämpft wird. Besonders ist es die Seele der Herren Nationalliberalen, um die es auch die Herren vom Zentrum bangt. Sie möchten sie vom Bösen erlösen, damit sie wieder in die Herrlichkeit des preußischen Regierungsfähigkeits-Paradieses einziehen können. Meine Herren, wir sind uns nicht einen Augenblick darüber unklar gewesen, dass die Herren Nationalliberalen noch nicht wissen, wohin sie gehören.

(Lebhafter Widerspruch bei den Nationalliberalen.)

Sie haben sich noch nicht entschlossen, ob sie nach rechts oder nach links gehen sollen; der Fehdehandschuh ist noch nicht aufgehoben, den Herr von Heydebrand und der Lasa damals in ritterlicher Weise

(Lachen rechts.)

ihnen hingeworfen hat. Meine Herren, der Kampf gegen die Sozialdemokratie ist ja stets die geeignetste Basis gewesen, um eine Einigung aller bürgerlichen Parteien herbeizuführen

(„Sehr richtig!" rechts und bei den Nationalliberalen.)

zu dem Kampf, den sie im Interesse der preußischen und der deutschen Reaktion für erforderlich halten.

(Abgeordneter Hoffmann: „Sehr richtig!")

Meine Herren, versuchen Sie nur Ihr Heil. Wir sind ja nicht für die Herren Nationalliberalen verantwortlich; wir können nicht ihrer Seele Hüter sein, sie müssen selbst wissen, wohin sie gehören. Wie wenig sie das wissen, hat ja jüngst die Nachwahl in Gießen-Nidda gezeigt.

(„Aha!" rechts und Heiterkeit.)

Haben wir etwa ein Interesse daran, dass die Herren Nationalliberalen sich vor aller Welt blamieren? dass sie sich so ihre politische Stellung erschweren? Uns kann eine solche Klärung nur recht sein.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Von besonders lebhaftem Interesse ist ja die Beziehung zwischen der Rechten dieses Hauses und dem Zentrum. Herr Freiherr von Zedlitz und die hinter ihm stehende Partei haben sich ja mit Leib und Seele der Regierungsgewalt verkauft. Das ist die gouvernementale Partei, die selten mehr will, als dass die Regierung ihren Willen möglichst wirksam durchsetzen kann. Sie, meine Herren (zur Rechten und zum Zentrum), sind zwar die Mächte, die hinter der Regierung stehen; aber Sie sind doch die Mächte, die die Geschäfte eben nicht für die Regierung, sondern für diejenigen, die hinter Ihnen stehen, geführt wissen wollen. Daher sehen wir mit besonderem Interesse, auf welcher Basis diese beiden, einander in vieler Hinsicht so ungeheuer entgegengesetzten Parteien – das Zentrum und die Deutschkonservativen – das Bündnis geschlossen haben, unter dem gegenwärtig dem deutschen Volke beinahe der Atem auszugehen droht.

(Große Heiterkeit rechts.)

Ja, meine Herren, Sie möchten uns erdrosseln.

Nun, meine Herren, das ist ja das merkwürdige: Hier die evangelische Partei katexochen, hier die katholische Partei katexochen, und trotz alledem geht man zusammen. Und da kommt die Borromäus-Enzyklika6, und da kommt der Antimodernisteneid, und die Herren von der Rechten veranstalten Scheingefechte und lassen die Herren vom Zentrum ungeschoren laufen. Es waren ja alles nur Theaterhiebe, die Sie (zur Rechten) ausgeteilt haben, Schläge mit der Narrenpritsche bei der Debatte über die Borromäus-Enzyklika, genauso wie bei der Debatte über den Antimodernisteneid.

Meine Herren, Sie von der Rechten sehen vielleicht doch nicht ganz ein, wie das im Einzelnen zusammenhängt. Die Herren vom Zentrum sind ja – ich will keine Beleidigung aussprechen, ich will nicht sagen, was ich sagen wollte, ich will mich ausdrücken –: sind ja mit allen Wassern gewaschen, da sie schon in allen Parteilagern gestanden haben, hinter alle Ofen in der Politik schon geguckt haben. Die Herren vom Zentrum wissen ja vielleicht noch besser als Sie von der Rechten, wie die Sache eigentlich zusammenhängt; ihnen kommt es vor allen Dingen auf die Kirchenpolitik an, alle andere Politik tritt demgegenüber zurück; und so haben sie alle sozialpolitischen Pflichten, ihre allgemeinen staatspolitischen Pflichten und Programmsätze einfach preisgegeben

(Lebhafter Widerspruch im Zentrum.)

gegen kirchenpolitische Zugeständnisse; darüber sind wir uns vollkommen klar; das ist schwarz auf weiß niedergelegt, und wenn sie auch mit allen Wassern gewaschen sind, das Wasser gibt es nicht, das das von ihnen abwaschen könnte, was ich eben gesagt habe.

Meine Herren, so haben Sie sich für Ihre agrarischen Interessen das Zentrum durch kirchenpolitische Zugeständnisse eingekauft, und nun fordern Sie Arm in Arm mit ihm das Jahrhundert in die Schranken.

(Große Heiterkeit.)

Das Jahrhundert, das Sie in die Schranken fordern, ist freilich nicht das heutige, es ist das vergangene Jahrhundert; das heutige Jahrhundert wird mit Ihnen wohl fertig werden.

(Große Heiterkeit rechts.)

Wie weit das Zentrum in seiner Taktik, in seiner Preisgabe aller Interessen des Volkes geht bloß für die kirchenpolitischen Interessen, beweist schlagend die Wahlparole, die von ihm jetzt ausgegeben worden ist, die im Aufruf gegen die Sozialdemokratie, in der Warnung vor falschen Stichwahlen gipfelt. Mit Haut und Haaren haben Sie sich auf dem Gebiet der inneren Politik usw. der Rechten verschrieben, um des Vorteils innerhalb der Kirchenpolitik willen. Freilich nicht nur um dieses Vorteils willen. Sie befinden sich politisch, meine Herren vom Zentrum, unausgesetzt in einem Zustand des labilen Gleichgewichts, in dem Gleichgewicht, das sich dadurch charakterisiert, dass es bloß eines kleinen Anstoßes bedarf – und sofort sind Sie aus dem Gleichgewicht gebracht. Bei Ihnen kämpfen mächtige agrarische Interessen mit anderen kapitalistischen und auch mit gewissen schwächlichen sozialpolitischen Interessen, die gleichzeitig Interessen der Demagogie sind. Und dann kommen die Interessen des Klerus, und so wie sich der Absolutismus als staatlicher Absolutismus am ehesten gestalten konnte, als sich verschiedene Klassen im Staate die Waage hielten, so geben die Interessen des Klerus bei Ihnen schließlich den Ausschlag. Und nachdem bereits eine so starke agrarische Tendenz in Ihnen wirkt, bedarf es nur noch eines kleinen Anstoßes im kirchenpolitischen Interesse, um Sie vollkommen nach rechts hinüber zu werfen Und jetzt liegen Sie rechts – :In den Armen liegen sich beide und weinen vor Glück und vor Freude.

Meine Herren, das ist für uns in Preußen das charakteristische, das ist gleichzeitig das charakteristische für die ganze deutsche Reichspolitik, und damit, meine Herren, ist der preußische „Geist", das preußische Wesen, charakterisiert als ein Wesen der Rückständigkeit, der Gewalt und der Willkür ganz in dem Sinne, in dem Herr Abgeordneter von Heydebrand und der Lasa es charakterisiert hat, und zwar nicht allein der Entstehung der preußischen Staatsgewalt nach, sondern auch nach der Art der Aufrechterhaltung dieser Staatsgewalt. Aber, meine Herren, dieses preußische Wesen ist glücklicherweise nur das offizielle preußische Wesen, nur das Wesen glücklicherweise der „oberen Zehntausend", vielleicht der oberen Paarmalhunderttausend; meine Herren, es ist nicht das preußische Wesen des preußischen Volkes – ein Wort, das Sie (nach rechts) lästerlich dann und wann auch einmal in den Mund nehmen, obwohl Sie sich die Zunge verbrennen sollten, wenn Sie überhaupt vom preußischen Volke in diesem Hause reden.

(Lachen rechts.)

Meine Herren, das preußische Volk in dieser breiten Masse, das von uns repräsentiert wird

(Große Heiterkeit rechts. – „Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

das preußische Volk, das in seiner breiten Masse von uns repräsentiert wird

(Erneute große Heiterkeit rechts.)

meine Herren, Ihr Lachen ändert ja nichts daran; in diesem Falle kann ich sagen: Zahlen beweisen. Also, meine Herren, reden wir darüber nicht; es ist ja nur ein Verlegenheitslachen, jenes traditionelle Verlegenheitslachen, welches Sie (nach rechts) bei derartigen Festnagelungen immer so köstlich zustande zu bringen wissen. Meine Herren, die Masse des preußischen Volkes ist allerdings anders gesonnen: Sie wünscht keine Regierung der Willkür, sondern eine Regierung der Gesetzlichkeit, sie wünscht keine Regierung der Oligarchie, sondern eine Regierung der Mehrheit, sie wünscht keine Reaktion, sondern Fortschritte, sie wünscht keine Gewaltherrschaft, sondern sie wünscht freiheitliche Demokratie, Demokratie im breitesten Sinne des Wortes, Demokratie für die Zusammensetzung des Parlaments, Demokratie für die Verwaltung des Staates. Meine Herren, das ist der preußische Geist, an dem wir schließlich genesen werden in Preußen, der preußische Geist, den die Sozialdemokratie repräsentiert.

(Rufe: „Aha!" und große Heiterkeit rechts.)

Meine Herren, und da sehen Sie denn sofort, dass die Wahlrechtsfrage die zentrale Frage ist und bleibt für die ganze Gestaltung der preußischen Politik und der Reichspolitik.

Meine Herren, die Etatverhandlungen, soweit sie die Wahlrechtsfrage betrafen, waren so charakteristisch wie möglich durch das, was gesagt wurde, und durch das, was nicht gesagt wurde. In den ersten Tagen ist das Wort Wahlrecht dann und wann ausgesprochen worden auch von anderen Parteien des Hauses. In den späteren Tagen ist das Wort Wahlrecht nur noch von Vertretern der Sozialdemokratie ausgesprochen worden,

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

und alle anderen Parteien haben das Wort Wahlrecht überhaupt nicht mehr gefunden.

(Lachen rechts.)

Es ist ein Menetekel, dieses Wort Wahlrecht, vor dem Sie (nach rechts) Ihre Augen verschließen möchten.

Meine Herren, die Königliche Staatsregierung hat erklärt, dass sie ihrerseits sich außerstande sehe, eine neue Wahlrechtsvorlage einzubringen, solange sich die Parteikonstellation in diesem Hause nicht geändert habe, solange nicht die veränderte Parteikonstellation ihr von vornherein die Garantie gebe, dass ein neuer Entwurf eine andere Aufnahme finde als der vorjährige Entwurf.

Nun, meine Herren, damit hat die Königliche Staatsregierung im Grunde genommen das getan, was sonst immer von Ihnen (nach rechts) so außerordentlich gehasst und verachtet wird: Sie hat, anders können ihre Worte wohl nicht gedeutet werden, appelliert an eine Macht außerhalb dieses Hauses. Denn wie sollten die Zusammensetzung dieses Hauses und die Stimmung in diesem Hause anders werden, wie sollte der Wille dieses Hauses nach einer anderen Richtung gebeugt werden als durch einen Druck von außen? Ja, meine Herren, das ist die letzte Verlegenheitshoffnung der Staatsregierung. Ich nehme dabei an, dass es ihr heute noch ernst ist mit der Erfüllung der Versprechungen, die in der Thronrede vom Oktober 19087 gegeben worden sind! Gerade vom Standpunkte dieser Annahme aus, die die günstigste für die Staatsregierung ist, müssen wir feststellen, dass die Staatsregierung an Mächte außerhalb dieses Hauses appelliert hat.

Ihnen, den Herren von der Rechten, freilich will es wohl gefallen, dass sich die Staatsregierung so verhält, sie scheint Ihnen sogar noch zu weit zu gehen. Sie erachten ja das Versprechen der Thronrede für genügend erfüllt durch den verunglückten Entwurf des vergangenen Jahres. Sollte man es für möglich halten, dass Sie, meine Herren, von der Rechten speziell, die Sie so sehr Ihren Willen gegenüber der Staatsverwaltung durchzusetzen wissen, das feierliche Versprechen der Staatsregierung bereits für gelöst ansehen, nachdem ein vergeblicher Versuch zur Erfüllung gemacht worden ist! Würden Sie es sich bieten lassen, wenn die Staatsregierung etwa einen Versuch in Ihrem Interesse einmal vergeblich gemacht hätte und dann erklären würde: Nun niemals wieder; wir haben unser Versprechen erfüllt?

Aber, meine Herren, es ergibt sich aus alledem, dass die Regierung in der Tat auch in der Wahlrechtsfrage einfach kapituliert hat vor der Rechten dieses Hauses, und mit aller wünschenswerten Deutlichkeit, dass die Entscheidung in der Wahlrechtsfrage immer mehr und mehr außerhalb dieses Hauses gelegt werden muss. Und, meine Herren, damit komme ich auf die Frage, die in diesem Hause in den letzten Tagen und heute wiederholt berührt worden ist, auf die Frage der jetzt bevorstehenden Reichstagswahl.

Meine Herren, von Ihrer Seite wird die Taktik innegehalten, die man wohl als Wanzentaktik bezeichnen möchte. Sie hoffen, durch Verschleppung der Neuwahlen zu erzielen, dass die Stimmung im Volke draußen eine andere werde; Sie rechnen auf die Abstumpfung im Volke draußen, Sie rechnen auf die Vergesslichkeit des Volkes, auf eine bessere Konjunktur, und Sie rechnen schließlich damit, dass die preußische Regierung eine Wahlparole, die ihr nicht durch die Umstände gegeben wird, künstlich konstruieren wird. Meine Herren, wir haben bis zum heutigen Tag eine offizielle Erklärung von der Staatsregierung noch nicht bekommen über jene Enthüllung des Herrn Pfemfert über die Absichten, die in hohen Regierungskreisen bestehen sollen, eine Wahlparole in hochverräterischer Weise, in landesverräterischer Weise im Interesse der herrschenden Klassen, im Interesse der Aufrechterhaltung des gegenwärtigen preußischen Regimes künstlich zu schaffen. Meine Herren, wenn wir lesen, wie gerade jetzt der „Reichsbote" von Neuem als den einzigen Ausweg bezeichnet den nachdrücklichsten Appell an die nationale Ehre, der nur gerade in der Weise denkbar ist, wie es nach den Projekten, die Herr Pfemfert an die große Glocke gehängt hat, anscheinend beabsichtigt wird und wie es auch dem sauberen Plan entspricht, der bereits vor Jahresfrist unter anderem in der „Post" propagiert wurde. Wenn wir dies sehen, so ergibt sich der ernste Verdacht, dass hier höchst staatsgefährliche Dinge im bösesten Sinne des Wortes vor sich gehen, bei denen auch gerade die maßgeblichen Parteien dieses Hauses ihre Hände im Spiel haben. Nach den Publikationen des Herrn Pfemfert soll bei jenen hochverräterischen Verhandlungen, abgesehen von den Herren Ministern, die ja eine so große Rolle in Preußen nicht spielen, und abgesehen vom Reichskanzler, der auch – besonders angesichts der heutigen Verhandlungen – der Erwähnung kaum noch wert erscheint, kein geringerer als der Abgeordnete von Heydebrand und der Lasa in höchst persönlicher Person mit anwesend gewesen sein.

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, so sehen wir die enge Verbindung dieser staatsgefährlichen Pläne, die – ich möchte meine Hand ins Feuer legen – in der Tat gehegt werden und über die uns jede Aufklärung hartnäckig verweigert wird, mit den führenden Mannen der preußischen Junkerreaktion. Meine Herren, hier ist es notwendig, einen Appell im Interesse des Reiches, im Interesse der Gesamtheit des deutschen Volkes zu erheben, aber nicht den Appell, den der Abgeordnete von Heydebrand und der Lasa erhoben hat, sondern den Appell, den wir immer und immer wieder nicht Ihnen, sondern dem Volke ins Land hinausrufen werden, den Appell: dass sich die Massen des Volkes klarwerden mögen über die Rückständigkeit, über die Staatsgefährlichkeit und Reichsfeindschaft des preußischen Junkertums, den Appell, dass die Massen des Volkes sich endlich erheben, sich endlich aufbäumen und ihre ganze Kraft anwenden mögen, um das Knie auf die Brust und um den Daumen aufs Auge zu drücken der in Preußen herrschenden Gewaltregierung, die von der Mehrheit in diesem Hause repräsentiert wird.

(Lebhafter Beifall bei den Sozialdemokraten. Lachen rechts. Erneuter Beifall bei den Sozialdemokraten.)

1 Die reaktionären Parteien hatten der preußischen Regierung vorgeworfen, bei den Beratungen über die Verfassung für Elsass-Lothringen den Einfluss Preußens im Bundesrat nicht genügend gewahrt zu haben. Die Red.

2 Der Rest des Absatzes bis „besiegten Völkern eingeschlagen hat.“ fehlt in den „Reden und Schriften“. Angesichts der Folgen, die die britische Teile-und Herrsche-Politik auf mehreren Kontinenten bis heute hat, waren Liebknechts Ausführungen sicherlich völlig verfehlt.

3 Gemeint ist die in den Reichstagsdebatten über das Kaligesetz 1910/1911 bekannt gewordene Praxis des deutschen Kalisyndikats, großen landwirtschaftlichen Gesellschaften und Organisationen besonders hohe Rabatte für den Absatz von Kalisalzen zu gewähren. Als Gegenleistung wurden sie vertraglich verpflichtet, Propaganda für die Düngung mit Kali zu treiben.

4 Während der Moabiter Unruhen im Herbst 1910 wurde der Arbeiter Herrmann am 27. September 1910 von zwei Polizisten durch Säbelhiebe so schwer verletzt, dass er am 3. Oktober 1910 starb. Die Arbeitermörder wurden durch den Staatsapparat gedeckt, so dass es der Polizei trotz angeblich jahrelanger Ermittlungen nicht gelang, sie aufzuspüren und zu bestrafen. Die Klage der Witwe des ermordeten Arbeiters auf Schadenersatz wurde jahrelang verschleppt.

5 Der (Anti-)modernisteneid war ein Glaubenseid, der vom Papst von den katholischen Geistlichen und allen staatlichen Lehrern, die zugleich ein Priesteramt als Prediger oder Beichtiger versahen, gefordert wurde. Er sollte dem „Schutz des Glaubens" dienen, richtete sich gegen die um 1900 innerhalb der katholischen Kirche entstandene Bewegung, die versuchte, die katholische Lehre und modernes (naturwissenschaftliches) Denken (Modernismus) zu verbinden. Er richtete sich gegen den Fortschritt in Wissenschaft, Forschung und Erkenntnis und schränkte damit die Lehrtätigkeit der katholischen Lehrer an den staatlichen Hochschulen ein.

6 Gemeint ist die vom Papst am 26. Mai 1910, zum 300. Jahrestag der Heiligsprechung des Erzbischofs Karl Borromäus von Mailand, erlassene Enzyklika. Sie enthält scharfe Ausfälle gegen die evangelische Kirche und ihre Reformatoren und löste besonders unter der evangelischen Bourgeoisie eine Empörung aus. Am 9. Juni 1910 musste sich das preußische Abgeordnetenhaus mit verschiedenen Interpellationen gegen die Borromäus-Enzyklika befassen. Der preußische Ministerpräsident gab eine nichtssagende Erklärung ab, die bewies, dass die Regierung nicht bereit war, gegen das katholische Zentrum, eine Koalitionspartei, vorzugehen.

7 Gemeint ist die Rede Wilhelms II. zur Eröffnung des preußischen Abgeordnetenhauses am 20. Oktober 1908, in der er sich auf Grund des anwachsenden Wahlrechtskampfes der deutschen Arbeiterklasse zu dem Zugeständnis gezwungen sah, dass das preußische Wahlrecht einer Änderung bedürfe.

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