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Karl Liebknecht: Klassenjustiz und Rechtsbeugung

Karl Liebknecht: Klassenjustiz und Rechtsbeugung

Reden im preußischen Abgeordnetenhaus in der zweiten Lesung des Justizetats

[Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Hauses der Abgeordneten, 21. Legislaturperiode, IV. Session 1911, 1. Bd., Berlin 1911, Sp. 1376 f., 1378, 1379, 1380-1382 und 1382]

I

Präsident v. Kröcher: Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Liebknecht.

Liebknecht: Meine Herren, die Bemerkungen, die der Herr Abgeordnete Cassel insbesondere über die Wichtigkeit des Laienelements und seiner möglichst starken Heranziehung zur Rechtsprechung gemacht hat, kann ich im allgemeinen durchaus unterschreiben. Ich möchte nochmals dasjenige unterbreiten, was ich in meiner Rede zum Ministergehalt betont habe, nämlich dass diejenigen, die in dieser Richtung eine Einschränkung herbeizuführen sich bemühen, und diejenigen, die den jetzigen Zustand aufrechterhalten oder noch verschärfen wollen, wonach die Laienrichter nur aus gewissen höheren Schichten der Bevölkerung entnommen werden, sich den einzigen Weg selbst versperren, der vielleicht dazu führen kann, auch in der Klassengesellschaft ein gewisses Vertrauensverhältnis zwischen Volk und Justiz herbeizuführen.

Wenn der Herr Justizminister soeben mit einiger Energie sich gerade gegen die Heftigkeit der Kritik gewandt hat, die an der Justiz vielfach geübt werde, und diese Kritik als nicht ersprießlich bezeichnet hat, so kann ich ihm ganz gern zugeben, dass diese Kritik ein betrübendes Zeichen ist, ein Zeichen dafür, dass irgendetwas nicht in der Ordnung ist. Aber es wäre fehlerhaft, wenn man nun meinte, dass die Kritik es sei, die den Mangel darstelle, und die nun mit allein Nachdruck unterbunden werden müsse. Meine Herren, wo immer eine Kritik in solcher Weise wie hier als Massenerscheinung, möchte ich sagen, hervortritt, ist sie nicht der Ausfluss einer zufälligen, persönlichen, verbrecherischen, anormalen Stimmung einzelner Personen, sondern dann ist diese Kritik als Massenerscheinung die Wirkung eines bestimmten sozialen Übels und stellt die Reaktion auf dieses dar, und deshalb gilt es hier, sich nicht in dieser einseitig bürokratischen Weise gegen die Kritik zu wenden, sondern es wäre gerade Sache der Justizverwaltung, zu untersuchen, woher es denn nun komme, dass die Kritik in dieser scharfen Weise in immer weiteren Kreisen geübt wird.

(„Sehr richtig!“ bei den Sozialdemokraten)

Dann könnte dieser Kritik vielleicht die Spitze nach und nach abgebrochen werden.

Sir haben zu unserem lebhaften Bedauern sehen müssen, dass der Herr Justizminister eigentlich in keinem einzigen Punkte, der für die öffentliche Meinung wesentlich ist, das Zugeständnis abgegeben hat, dass da doch dies und jenes innerhalb der Justiz vielleicht zu bessern sei. Meine Herren, er hat den Mantel der christlichen Liebe und den Mantel seiner Autorität nahezu über alles dasjenige gedeckt, was man öffentlich als Missstand in der Justizpflege bezeichnet.

(„Sehr richtig!“ bei den Sozialdemokraten)

Damit können wir uns in keiner Weise einverstanden erklären. Es ist ein ganz verfehlter Standpunkt, den man auch in dieser hochgradigen Einseitigkeit als preußisch- bürokratisch-engherzig bezeichnen kann, nach welchem unter allen Umständen die Autorität gewahrt werden müsse im Notfalle auf kriminalistischem Wege mit rücksichtsloser Schärfe, mit all den Machtmitteln gewahrt werden müsse, die die Staatsgewalt der Behörde in die Hand gibt. Meine Herren, es sollte gerade am allermeisten der Justiz daran gelegen sein – und diesen Standpunkt müsste der Herr Justizminister meiner Ansicht nach vertreten – dass die Autorität unserer Gerichte eine freiwillig und freudig von der Bevölkerung anerkannte sei. Die Liebe kann man nicht erzwingen, man kann auch die Liebe zur Justiz nicht erzwingen. Was nutzt es dem Herrn Justizminister, wenn er vielleicht durch allerhand Prozesse, die er wegen Beleidigung von Richtern anstrengt, wenn er durch allerhand schroffe Erklärungen, die er hier in Varianten abgibt, denjenigen, die die Kritik üben, den Mund verbindet und dadurch das Übel, wie mir scheint, viel schärfer macht als bisher?

(„Sehr richtig!“ bei den Sozialdemokraten)

Die Möglichkeit der öffentlichen Aussprache und die Möglichkeit der öffentlichen Kritik ist schließlich doch der einzige Weg, in Fällen solcher Art solcher allgemeinen Missstimmung Abhilfe zu Schaffen. Also, meine Herren, nicht erzwungene Autorität, sondern freiwillig anerkannte Autorität, das ist es, was unserer Justiz fehlt, und diese freiwillige und freudig anerkannte Autorität kann unsere Justiz sich nie und nimmer verschaffen auf dem Wege, den der Herr Justizminister betreten hat, sondern nur auf dem Wege, dass unsere Justiz nach aller Möglichkeit auch Fühlung im Volke sucht, dass sie sich nach aller Möglichkeit bemüht, die Schwierigkeiten, die sich aus unserer Klassengesellschaftsordnung und aus den heftigen politischen Gegensätzen ergeben, zu überwinden, dass unsere Justiz mit anderen Worten nach aller Möglichkeit und mit aller Energie versucht, diejenigen Schäden, die ihr durch den an und für sich organischen und notwendigen Charakter als einer Klassenjustiz aufgedrückt sind, zu mildern. Wenn in dieser Beziehung irgendetwas getan werden soll, so kann es aber nur geschehen mit Hilfe derjenigen Mittel, die von mir in meiner Rede vom vergangenen Freitag angedeutet worden sind, und dass eines der wichtigsten Mittel hierbei ist, dass das Laienelement zur Justiz herangezogen wird, das ist bereits von mir eingangs betont worden.

So kann ich mit dem schließen, womit ich begonnen habe: meine Herren, sorgen Sie dafür, dass der Einfluss des Laienelements mit aller Möglichkeit verstärkt werde; sorgen Sie dafür, dass das Laienelement aus allen Schichten der Gesellschaft entnommen werde, und sorgen Sie dafür, dass unsere Richter eine bessere sozialpolitische Ausbildung und eine bessere psychologische Ausbildung bekommen! Dann wird unsere Justiz in der Lage sein, in höherem Maße als bisher auch den Anforderungen, die wir an sie stellen, gerecht zu werden.

(Beifall bei den Sozialdemokraten)

II

Präsident v. Kröcher: Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Liebknecht.

Liebknecht: Meine Herren, dem Herrn Justizminister möchte ich bemerken: Er hätte in der Tat alte Veranlassung gehabt, aus der fast rührenden, naiven Überschwänglichkeit, mit der die oppositionelle Presse die Urteile in der Moabiter und in der Weddingsache aufgenommen hat, zu erkennen, wo der Weg liegt, das Vertrauen zu unserer Justizpflege zu vermehren.

(„Sehr richtig!“ bei den Sozialdemokraten)

Wenn der Herr Justizminister meint, dass die Art der Kritik, die an die Justiz angelegt wird, so sei, dass sie seine Opposition hervorrufe, so glaube ich, dass er damit durchaus nicht recht hat. Er hat sich unter anderem bekanntlich in der Generaldebatte mit einer ziemlichen Schärfe gegen die Worte des Herrn Abgeordneten Dr. Wiemer gewendet, die auf nichts anderes hinausliefen, als dass das Gericht in dem Beckerprozess einen Standpunkt der „Einseitigkeit, wenn nicht Voreingenommenheit" eingenommen habe. Das ist doch ganz gewiss eine sehr vorsichtige Kritik –

(Lachen rechts)

der Form nach mindestens, wenn es auch in der Sache natürlich eine ernste Kritik ist, aber doch durchaus nicht eine exzessive Kritik. Wenn man nicht einmal eine solche Kritik mehr soll anlegen dürfen, wenn eine solche Kritik bereits dem Herrn Justizminister so exzessiv erscheint, dass er dagegen mit Nachdruck glaubt einschreiten zu müssen, so glaube ich daraus mit Fug und Recht entnehmen zu können, dass sein Standpunkt bezüglich des Verhältnisses zwischen der öffentlichen Meinung und der Justiz der Standpunkt einer engherzigen und über Gebühr von ihrer Vortrefflichkeit überzeugten Bürokratie ist.

(„Oho!“ und Lachen rechts und im Zentrum – Zustimmung bei den Sozialdemokraten)

III

Präsident v. Kröcher: Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Liebknecht.

Liebknecht: Ich bestreite die sachliche Richtigkeit dessen, was der Herr Justizminister soeben gesagt hat. Ich darf wohl an die Erinnerung der Herren in diesem Hause appellieren, dass der Herr Justizminister – gerade in Anknüpfung an eine Kritik auch des Herrn Freiherrn v. Zedlitz – die Worte des Herrn Abgeordneten Dr. Wiemer, von denen ich eben sprach, unter die Lupe genommen und gemeint hat, dass das eine Art der Kritik sei, die über die Grenzen hinausgehe.

(Widerspruch – Abgeordneter Peltasohn: „Nur nach der Richtung, dass das Urteil noch nicht rechtskräftig ist!“)

Nein, das bestreite ich nachdrücklich.

Im Übrigen habe ich in meiner Rede am vergangenen Freitag wiederholt Fälle erwähnt, in denen die Gerichte eine geradezu mimosenhafte Empfindlichkeit gegen eine Kritik ihrer Geschäftsführung gezeigt haben, eine Empfindlichkeit, die sich insbesondere in der geradezu zu einer öffentlichen Gefahr ausgewachsenen Neigung zur Verhängung von Ordnungsstrafen kundtut.

(„Sehr richtig!“ und „Bravo!“ bei den Sozialdemokraten)

IV

Präsident v. Kröcher: Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Liebknecht.

Liebknecht: Meine Herren, ich muss dem Herrn Abgeordneten Röchling den Vorwurf machen, dass er über die Bedeutung des Vorwurfes der Klassenjustiz sich nicht hinreichend orientiert hat,

(Lachen im Zentrum und rechts – Abgeordneter Hoffmann: „Sehr richtig!“)

bevor er hier in diesem Hause die Anschuldigung ausgesprochen hat, die wir soeben gehört haben.

(Abgeordneter Hoffmann: „Bonn-Moabit!“)

Meine Herren, Sie fassen das Wort Klassenjustiz in einer kleinlich persönlichen Weise auf,

(Lachen rechts und im Zentrum – Zurufe rechts: „Und Sie?! wie es nicht gemeint und nie gemeint gewesen ist!“ – Lachen rechts und im Zentrum)

Meine Herren, diejenigen, die unter unserem geistigen Einflusse stehen,

(Lachen rechts und im Zentrum)

die sind sozial so geschult –

(Lachen rechts und im Zentrum)

meine Herren, lassen Sie mich zu Ende sprechen; jedenfalls Ihr Lachen hat eine Beweiskraft nicht; Sie kennen ja auch ein bekanntes Sprichwort. – Meine Herren, das darf ich Ihnen sagen: diese Kreise sind in sozialer Beziehung so geschult, dass sie, was wir ihnen tagtäglich und bei allen Erscheinungen des öffentlichen Lebens predigen, die einzelnen Vorgänge, die ihr Missfallen erregen, nicht zurückführen auf Böswilligkeit, auf schlechte Eigenschaften. eine niederträchtige Moral individueller Art einzelner Personen, sondern dass sie sich bemühen, in jeder Erscheinung die ihnen missliebig, die ihnen schädlich entgegentritt, eine soziale Erscheinung, eine Erscheinung, die aus dem Wesen unserer Klassengesellschaftsordnung entspringt, zu sehen. Meine Herren, wenn dieser Standpunkt von uns tagtäglich und in allen Dingen gepredigt wird, und infolgedessen unser Kampf sich stets gegen das System richtet und nicht gegen Personen, sich stets richtet gegen die Grundlagen unserer Gesellschaftsordnung als einer Klassengesellschaftsordnung, nicht aber gegen die moralischen menschlichen Eigenschaften der einzelnen Personen, die in dieser oder jener Klasse stehen, ja, meine Herren, dann liegt es den von uns vertretenen Kreisen durchaus fern, das Wort Klassenjustiz in solch enger, kurzsichtiger Weise zu deuten.

Was heißt denn das Wort Klassenjustiz? Es deutet ja auch direkt auf die Grundlage unserer sozialen Auffassung, es deutet auf die Klassen als solche; es heißt nicht Rechtsbeugung, es heißt Klassenjustiz. Was heißt das? Eine Justiz, die aus dem Klassengegensatz entspringt, die also aus einer gesellschaftlichen Erscheinung hervorgeht. Und, meine Herren, dass wir ein gutes Recht haben, darauf hinzuweisen, dass aus der sozialen Zerrissenheit unserer heutigen Zeit, die nicht nur von unserer Partei, sondern auch von anderen Kreisen beklagt wird, deren Wesen allerdings nur von unserer Partei, wie mir scheint, erkannt wird, und für die nur unsere Partei die wirklichen radikalen Abhilfsmittel zu finden sucht,

(Unruhe)

meine Herren, dass aus dieser Zerrissenheit unserer heutigen Gesellschaft sich notwendig auch eine Art Justiz ergeben muss, die durch die Einseitigkeit der Klassenlage, der ganzen Situation, der daraus sich ergebenden Weltanschauung der Richter, die eben nur aus einzelnen Klassen entnommen werden, beeinträchtigt wird, das ist so selbstverständlich;

(„sehr wahr!“ bei den Sozialdemokraten)

das folgt aus dem Wesen unserer Klassengesellschaft mit der Notwendigkeit, mit der überhaupt irgendeine Wirkung aus irgendeiner Ursache folgt.

(„Sehr wahr!“ bei den Sozialdemokraten)

Sir haben deshalb überall und stets an der Überzeugung festzuhalten und zu betonen, dass unsere Justiz Klassenjustiz ist, weil sie heute überhaupt gar nichts anderes sein kann.

(„Sehr richtig!“ bei den Sozialdemokraten)

Und dennoch, meine Herren, habe ich, wie Sie wohl nicht verkennen werden, in meiner neulichen Rede zum Gehalt des Justizministers mit recht – für uns wenigstens – viel bedeutenden Worten die relativ günstigen Erscheinungen unserer heutigen Justiz und den guten Sitten, von dem unser Richterstand zu einem großen Teil zweifellos beseelt ist, anerkannt. Ich meine, mehr kann man in der Tat nicht verlangen. Und das Wort Klassenjustiz in dieser engherzig kleinlichen Weise auszudeuten, wie das ja vielfach der Fall ist, das entspricht nicht unserer Auffassung. Das sollte auch Ihrem Verständnis von unserer Partei widersprechen; darüber sollten Sie längst hinaus sein. Sie sollten mit uns die Probleme diskutieren,

(Zuruf: „Das fehlte noch!“)

die sich aus dem Wesen unserer Gesellschaft als einer Klassengesellschaftsordnung ergeben. Aber diesen Ernst lassen Sie vermissen, sobald diese ernstesten Probleme berührt werden, die bis in die tiefsten Wurzeln unserer Gesellschaftsordnung hineingehen, indem Sie jede ernste Erörterung mit Gelächter und mit einer Heiterkeit, einem Spott begegnen, die der Würde eines auf geistiger Höhe flehenden Parlaments nicht entsprechen.

(Lachen)

Damit nutzen Sie unserer Justiz nie und nimmer. Im Sinne einer Verständlichen Reform kann ihr nur auf dem Wege geholfen werden, den wir versucht haben, Ihnen immer und immer wieder zu weisen.

(„Bravo!“ bei den Sozialdemokraten Lachen)

V

Präsident v. Kröcher: Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Liebknecht.

Liebknecht: Meine Herren, was heißt das? Will der Herr Abgeordnete Dr. Röchling damit sagen, dass wir die Klassengegensätze geschaffen haben?

(Lebhafte Zurufe: „Ja!“)

Meine Herren, dann finde ich kein anderes Wort mehr als jenes, das einst in sehr ernster Stunde gesprochen worden ist: O sancta simplicitas!

(„Sehr gut!“ bei den Sozialdemokraten – Lachen)

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