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Karl Liebknecht 19110203 Justiz gegen die Arbeiterklasse

Karl Liebknecht: Justiz gegen die Arbeiterklasse

Rede und persönliche Bemerkung im preußischen Abgeordnetenhaus zum Justizetat

[Nach Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Hauses der Abgeordneten, 21. Legislaturperiode, IV. Session 1911, l. Bd, Berlin 1911, Sp. 1241, 1245-1278 und 1242 und nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 4, S. 48-81]

I

Präsident v. Kröcher: Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Liebknecht.

Liebknecht: Meine Herren, der Standpunkt der Sozialdemokratie, dass Sozialpolitik die beste Kriminalpolitik ist, ist Ihnen im vergangenen Jahre von mir eingehend dargelegt worden. Ich freue mich, dass sich ein Vertreter des Ministeriums des Innern, Herr Geheimrat Krohne, auf dem im vergangenen Jahre abgehaltenen Deutschen Juristentage im wesentlichen in unserem Sinne dahin ausgesprochen hat: dass die persönliche Seite hinter der sozialen Seite des Verbrechens immer mehr zurücktritt, dass nur eine weitsichtige und großzügige, rasch fortschreitende Sozialpolitik einer etwa fortschreitenden Kriminalität Einhalt gebieten könne, und dass insbesondere die Bekämpfung des Wohnungselends eine dringende Forderung der Kriminalpolitik sei, dass die Mitschuld der Gesellschaft an dem Verbrechen energisch betont werben muss –, eine Auffassung, die ja auch in einer ausgezeichneten Weise von unserem verehrten Kollegen, Herrn Geheimrat Liszt, bereits vor längerer Zeit entwickelt worden ist. Meine Herren, ich nehme Bezug auf die Statistik über die Jugendlichen-Kriminalität in den Jahren 1903 und 1904. In diesen beiden Jahren der Prosperität ist die Kriminalität vorbestrafter Jugendlicher mit Rücksicht eben auf diese Prosperität, wie allgemein angenommen wird, soweit man sich um Sozialpolitik kümmert, ganz erheblich zurückgegangen.

Meine Herren, ich darf weiter den ungemein engen Zusammenhang betonen, der besteht zwischen der Höhe des Tagelohns, zwischen der Höhe der Lebenshaltung in den einzelnen Schichten der Bevölkerung und den einzelnen Gebieten des Landes und zwischen der dort herrschenden Kriminalität. Mir liegt eine ausführliche Statistik vor, die sich mit dieser Frage befasst. Um nicht allzu ausführlich sein zu müssen, will ich auf Einzelheiten nicht eingehen.

Von unserer Seite ist stets mit großem Nachdruck in Übereinstimmung mit der Ansicht aller weitsichtigen Kriminalpolitiker der enge Zusammenhang zwischen Alkoholismus und Kriminalität betont worden. Diese Ansicht kann man gerade jetzt als gemeine Meinung bezeichnen.

Vielfach wird beliebt, der Sozialdemokratie den Vorwurf zu machen, dass sie sozusagen eine Förderin des Alkoholgenusses sei. Meine Herren, das Gegenteil ist der Fall. Der Alkoholismus ist allerdings im Wesentlichen durchaus eine soziale und nicht eine bloß persönliche Erscheinung, Wenn natürlich auch Fälle, wo er eine rein persönliche Erscheinung ist, vorkommen und nicht ganz selten sind. Im Allgemeinen aber trägt sie durchaus den Charakter der sozialen Massenerscheinung. Da möchte ich betonen, dass die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften, die man so häufig als sozialdemokratisch zu verschreien sich bemüht mit dem allergrößten Nachdruck und mit einem glänzenden Erfolge – mit einem Erfolge, der vielfach auch von Feinden der Sozialdemokratie anerkannt worden ist den Alkoholismus bekämpfen.

(„Sehr richtig!“ bei den Sozialdemokraten)

Das kann der Sozialdemokratie nicht streitig gemacht werden, auch nicht durch lügenhafte Reichsverbandsflugblätter.

Auf der anderen Seite aber kann ich das Kompliment, das ich mir hier der Sozialdemokratie zu machen herausnehme, nicht allen Parteien des Hauses zurückgeben. Meine Herren, ich erinnere Sie an die äußerst beschämende Tatsache, dass noch in gewissen Teilen des östlichen Deutschlands im vergangenen Jahre festgestellt wurde, dass Schulkinder Schnaps als Deputat bekommen haben,

(„hört, hört!“ bei den Sozialdemokraten)

und zwar gerade in Gegenden, die man speziell als das Junkerparadies Deutschlands zu bezeichnen pflegt.

(Erneutes „Hört, hört!“)

Meine Herren, Wir wissen ja, dass bei den Mitgliedern der rechts stehenden Parteien die theoretischen Anschauungen über die Gefährlichkeit des Alkoholismus häufig in einen unlöslichen Konflikt geraten mit dem höchst materiellen Interesse an einer Ausdehnung des Alkoholismus, mit dem Interesse, das Sie als Schnapsbrenner, als Vertreter der Spiritusindustrie haben.

(„Sehr gut!“ bei den Sozialdemokraten)

Diejenigen, die gegen die Bestrebungen der Sozialdemokratie beim Schnapsboykott in der häufig beliebten Weise agitieren, machen sich damit zu Mitschuldigen derjenigen Verbrechen, die aus dem AlkohoIismus hervorgehen.

|m Übrigen, meine Herren, machen sich diejenigen politischen Machtfaktoren – und dazu rechne ich alle großen Parteien dieses Hauses , die nicht ihre ganze Kraft einsetzen, um sozialpolitische Fortschritte herbeizuführen und unsere soziale Misere, die im Wesentlichen die Ursache der Kriminalität ist, zu beseitigen, dadurch zu den Hauptschuldigen, ich möchte sagen: zu den AlleinschuIdigen der Folgen, die in der vermehrten Kriminalität in die Erscheinung treten.

(„Sehr wahr!“ bei den Sozialdemokraten – Lachen rechts)

Wenn wir so das Hauptgewicht auf die Prophylaxe legen, verkennen wir doch durchaus nicht, dass auch die Kriminaljustiz eine sehr bedeutsame Rolle im Staatswesen spielt, und wir verkennen auch nicht den eigentümlichen Charakter, der gerade unserer Zeit in dieser Beziehung dadurch aufgeprägt ist, dass sie sich in den heftigsten Klassengegensätzen bewegt, so dass eine ungeheure Fülle von Delikten, die rein politisch-sozialer Natur sind und sich nur als Ausfluss des Klassenkampfes, der Klassengegensätze kennzeichnen, tagtäglich die Gerichte beschäftigt. 1Wenn wir nun sehen, dass unsere Gerichte unausgesetzt mit Konflikten gegen das Gesetz befasst werden, die aus der Klassengegensätzlichkeit unserer heutigen Gesellschaft, den schroffen politischen Gegensätzen resultieren, so gibt uns das ganz besondere Veranlassung zu prüfen, inwieweit unsere Justiz durch die Art ihrer Zusammensetzung befähigt ist, in Wahrheit Recht zu sprechen, objektiv Recht zu sprechen. Und wenn wir behaupten, dass im Allgemeinen unsere Justiz in dem Durchschnitt der Erscheinungen als eine Klassenjustiz bezeichnet werden kann, so ist das weit entfernt, ein persönlicher Vorwurf gegen irgendeinen Richter zu sein, so ist das insbesondere weit entfernt, obwohl uns diese Unterstellung gern gemacht wird, von dem Vorwurf der bewussten Rechtsbeugung. Es ist die Charakterisierung einer Erscheinung, die sich aus den schroffen Gegensätzen ergibt, die die verschiedenen Klassen in vieler Beziehung einander verständnislos gegenüberstehen lassen.2 Deshalb ist es nur allzu begründet, wenn die Sozialdemokratie den Anspruch, erhebt, dass die Richter gerade in unserer heutigen zerklüfteten Zeit aus allen Schichten der Gesellschaft, auch aus den „untersten Schichten", Wie Sie das häufig nennen, genommen werden müssen, weil nur auf diese Weise einigermaßen eine Garantie für ein wahrhaft objektives Verfahren bei den Konflikten gewährt werden kann, die sich aus den sozialen Gegensätzen ergeben.

Meine Herren, wie wenig heute eine solche Garantie besteht, das kann ich Ihnen an zahlreichen Beispielen erhärten. Ich will gleich bei der Kriminalpolizei beginnen, und ganz kurz au einen Vorfall aus dem bekannten Allensteiner Prozess erinnern. Es war Herr Kriminalkommissar von Wannowski, der damals in ganz unverhüllter Weise erklärte, dass er es für seine Aufgabe angesehen habe bei den Ermittlungen, die angestellt würden, dafür zu Sorgen, dass alles, was irgendwie zu einer Bloßstellung des Offiziersstandes hätte führen können, verschleiert werde, damit es nicht zur Beute werde der politischen Agitation, insbesondere der Sozialdemokratischen Presse.

(„Hört, hört!“ bei den Sozialdemokraten)

Meine Herren, wie steht es nun mit der politischen Unbefangenheit unseres Richterstandes? Zunächst ein Wort zur Ausbildung unserer Richter. Der Herr Justizminister hat gerade eben weitere Maßregeln in dieser Richtung in Aussicht gestellt. Ich möchte mir bei dieser Gelegenheit erlauben, zu bitten, dass man die Erfahrungen der amerikanischen und englischen Richterausbildung nicht ganz unberücksichtigt lassen möge. Ich habe Gelegenheit gehabt, auf verschiedenen amerikanischen Universitäten Einblick in die dortige Art der Juristenausbildung zu bekommen, und das kann ich sagen: es ist dort eine sehr erfreuliche Fähigkeit und Energie in der Durchführung dessen zu Tage getreten, dass man die jungen Juristen von vornherein, vom ersten Tage der Ausbildung an mitten in die Praxis hineinstellt, damit sie sofort in der lebendigsten Weise das ganze Prozessbild mit seinen charakteristischen Eigenheiten vor Gesicht bekommen. Die Hörsäle für die Studenten schon des ersten Semesters sind die richtigen Gerichtssäle, da haben sie Geschworenen-Beratungszimmer, und in jeder Beziehung wird sofort praktisch demonstriert. Wer, wie das ja auch mir gegangen ist, weiß, wie unbeholfen heute häufig der Jurist, wenn er aus der Universitätsausbildung in die praktische Justiz hinaustritt, den praktischen Erscheinungen gegenübersteht, wird begreifen, dass in dieser Beziehung dringend Remedur erforderlich ist. Dass man durch die Einführung der bekannten vierten Klausurarbeit etwa einen verständigen Schritt getan habe, wird niemand behaupten können. Inwieweit man die Vorschläge, die von Herrn Professor Zittelmann ausgehen, und die, wie mir scheint, recht verständigen des Staatsanwalts Schwickerath künftig berücksichtigen wird, wird ja die Zukunft lehren; Wir wollen das beste hoffen. Immer wieder muss aber betont werden, dass eine psychologische und sozialpolitische Ausbildung der Richter in erster Linie erforderlich ist, und dass ohne diese Ausbildung von der Beseitigung wesentlicher Missstände keine Rede sein kann.

Meine Herren, was die Auswahl der Juristen anbelangt, so kann ich mich der Auffassung, die auch der Herr Abgeordnete Dr. Zimmer vorgestern zum Ausdruck gebracht hat, dass nämlich die Fragebogen, die gegenwärtig verwendet werden, keinen Bedenken mehr unterliegen, nicht anschließen. Die Fragen nach dem Militärverhältnis, nach dem Vermögen, dem Stande der Eltern und alle diese Sachen mögen ja von dem Standpunkte aus, den Herr Dr. Zimmer eingenommen hat, ganz zweckmäßig sein; ich will ganz gern zugeben, dass nicht jeder Richter in jedes Verhältnis hineinpasst, und dass es infolgedessen der Aufsichtsbehörde überlassen bleiben muss, sich auch in diesen Beziehungen ein klein bisschen freie Hand bei der Besetzung der Richterstellen vorzubehalten. Aber, meine Herren, das ist ja der fundamentale Gegensatz, in dem wir uns zu dem Herrn Dr. Zimmer und zu den meisten Rednern dieses Hauses befinden: Wir halten es geradezu für ausgeschlossen, dass alle diese Fragen nur gestellt werden, um dann ohne Rücksicht darauf, ob etwa irgendwelche sozialen oder politischen Vorurteile durch die Antworten betroffen werden, dennoch alle anzustellen. Wir sind vielmehr überzeugt, dass eine wirklich objektive Prüfung und eine Entscheidung über die Zweckmäßigkeit der Richteranstellung aus diesen Gesichtspunkten heraus, die Herr Dr. Zimmer für zweckmäßig gehalten hat, von unserer Justizverwaltung nicht getroffen werden wird. Wir können da sagen: vestigia terrent! Das, was wir in dieser Richtung aus der Vergangenheit wissen, und wie wir überhaupt die preußische Verwaltung zu beurteilen haben, muss uns durchaus die Zuversicht rauben, dass von den Behörden hier rein fachlich verfahren wird. Meine Herren, wir wissen genau, dass diese Fragen praktisch darauf hinauslaufen, dass sich die Justiz nach engherzigen, preußisch-bürokratischen Gesichtspunkten ihr Material aussuchen will. Und weil wir das unter keinen Umständen billigen und der Regierung das Zutrauen nicht schenken können, dass sie, zumal unter dem Einfluss dieses Hohen Hauses, korrekt verfährt, so verurteilen wir die ganze Art dieser Fragebogen von vornherein und prinzipiell.

Meine Herren, wir werden ja doch von der preußischen Justizverwaltung gar so häufig in einer geradezu in das Komische, Groteske hineingehenden Weise darauf gestoßen, wie sehr sie in sozialen und politischen Vorurteilen befangen ist, wie Sie durchaus einseitig in der Auswahl und der Wertung ihrer Beamten vorgeht. Meine Herren, ein komisches Beispiel dieser Art, das fast nicht in den Ernst der Beratungen dieses Hauses hineingehört – es würde nicht hineingehören, wenn es nicht doch preußische Wirklichkeit wäre – ist der bekannte Fall des Gerichtsvollziehers in Eschwege, der um deswillen im Disziplinarwege verfemt worden ist, weil er eine Arbeit unternommen haben soll, die nicht standesgemäß war. Er soll nämlich, soviel ich aus den Zeitungen entnehme, auf der Straße, ich glaube, Mist abgeladen ober aufgeladen haben. Obwohl wir in dem agrarischen Preußen sind, wo der Mist so außerordentlich beliebt ist, in weiten Kreisen, in sehr maßgeblichen Kreisen, hat man dennoch diese Arbeit eines Gerichtsvollziehers für so unwürdig erachtet, dass man zur Disziplinierung schritt.

Meine Herren, im Übrigen ist ja bekannt, dass man jetzt auch in bürgerlichen Kreisen in lächerlicher Weise Standesvorurteile pflegt und eine Neigung zur sozialen Abgeschlossenheit, zu engherziger Standesbildung hegt die zur Satire reizt. Ich erinnere daran, dass seit einer Reihe von Jahren neben dem Hofkalender und den Taschenbüchern über die gräflichen, freiherrlichen und adligen Familien auch ein „Deutsches Geschlechterbuch" für die Bürgergeschlechter Deutschlands herausgegeben wird, und dass in der Einleitung zu diesem Werk von der Pflicht des modernen Bürgertums gesprochen wird, für Reinhaltung des Blutes zu sorgen, ganz nach der Art des Adels:

Wie er sich räuspert und wie er spuckt,

Das hat man ihm glücklich abgeguckt.

An der Vorurteilslosigkeit einer Regierung, die sich bestenfalls noch auf die bürgerlichen Mittelparteien dieses Hauses stützt, haben wir auch darum allen Anlass zu zweifeln.

Wie steht es, meine Herren, mit der Unabhängigkeit der Richter? Es ist bereits im Jahre 1848 in Bezug auf das damalige Disziplinargesetz für die Richter, das im Wesentlichen im Jahre 1851 nach der Konterrevolution wieder aufgenommen worden ist, von dem alten Grabow betont worden, dass es, wenn dieses Disziplinargesetz aufrecht erhalten bleibe, in wenigen Jahrzehnten mit der Unabhängigkeit des Richterstandes vorüber sein werde; er hat ein ganz besonderes Gewicht darauf gelegt, dass dem Richter auch, wenn er sich außerdienstlich nicht führt, wie es als standesgemäß, wie es insbesondere auch politisch und sozial als standesgemäß erachtet wird, ein Disziplinarverfahren droht. Meine Herren, angesichts dieser Gesetzeslage und angesichts der Praxis, die sich hier breit gemacht hat, müssen wir sagen, dass ein wirklich unabhängiger Richter heute nicht existenzfähig ist,

(Lachen bei den Nationalliberalen – „sehr wahr!“ bei den Sozialdemokraten)

dass das Damoklesschwert der Disziplinierung über ihm hängt an einem ganz dünnen Seidenfädchen,

(„sehr wahr!“ bei den Sozialdemokraten)

das bei der kleinsten Gelegenheit, bei der kleinsten Unruhe in der politischen Luft auf ihn niedersausen kann.

Meine Herren, wenn ich in der Frage der Beförderung, in der der Richter von dem guten Willen der Vorgesetzten absolut abhängig ist, hier absehe, weil ich sie im vergangenen Jahre näher erörtert habe, so möchte ich doch nicht unterlassen, hier nochmals auf die geheimen Personalakten zu kommen. Es ist das eine Sache, die nicht ernst genug behandelt werden kann, und es muss von uns immer wieder betont werden, dass die geheimen Personalakten etwas durchaus Ungesetzliches darstellen. Sie sind ungesetzlich überhaupt in der ganzen Verwaltung und sind eine Gefahr für das Volk, für die ganze Öffentlichkeit, für unsere Gesellschaft. Aber, meine Herren, besonders müssen wir die Einrichtung dieser Personalakten bei den Richtern beklagen. Bereits am 31. Juli 1848 sind die geheimen Personalakten aufgehoben worden, und ich habe bisher noch niemals den Versuch einer Rechtfertigung der Wiedereinrichtung ober Aufrechterhaltung dieser geheimen Personalakten von irgendeiner autoritativen Stelle gehört. Ich weiß, dass auch aus den Kreisen des Zentrums heraus wenn ich nicht irre, war es der Kollege Dr. Beß im vorigen Jahre auf diese Tatsache hingewiesen worden ist, und ich kann mich nicht entsinnen, dass damals, obwohl der Appell von dem Vertreter einer der größten Parteien ausging, die Regierung Veranlassung genommen hat, in irgendeiner Weise ihr nach unser Überzeugung ungesetzliches Verhalten zu rechtfertigen.

Meine Herren, nun komme ich auf etwas anderes. Es handelt sich um die Zuziehung der Laien zu unserer Rechtsprechung. Meine Herren, Sie wissen, dass wir Anhänger der Volksgerichte sind; Sie kennen unsern prinzipiellen Standpunkt, nach dem die Richter gewählt werden sollen – freilich nicht nach dem Dreiklassenwahlrecht, sondern nach einem demokratischen Wahlrecht –; Sie wissen, dass wir ein großes Gewicht auf die Zuziehung der Laien legen, ein Gewicht, das ja auch von anderen Seiten dieses Hauses darauf gelegt wird. Wenn wir hören, dass man Schwierigkeiten in Bezug auf die Beschaffung der erforderlichen Zahl geeigneter Laien habe, so nimmt das ganz besonders Wunder. Wenn man die Justizpflege in England und in Amerika kennt, weiß man, dass man dort die Jury, die Geschworenen, nicht nur in Strafsachen, sondern auch in Zivilsachen tagtäglich verwendet. Wenn man sieht, welch eine Fülle geeigneter Personen in diesen Ländern aufgebracht wird, dann greift man sich in der Tat an den Kopf, wenn man in Deutschland jene Klagen hört. Aber diese Klagen werden einem sofort begreiflich, wenn man sich vergegenwärtigt, wie unsere Geschworenenlisten, unsere Schöffenlisten zufammengestellt werden. Da ist nämlich nicht jeder zum Amte eines Schöffen oder Geschworenen befähigt, sondern da wird die Urliste in der sorgfältigsten Weise gesiebt, und ist sie schon gesiebt für die Schöffen, so ist sie dreimal gesiebt für die Geschworenen; da kommen nur diejenigen hinein, die die Aufsichtsbehörde hinein haben möchte. Es ist bekannt, dass in dieser Richtung bei uns eine ganz feste Praxis besteht, wonach man schließlich zu dem Amt eines Schöffen noch Handwerksmeister, kleine Kaufleute usw. heranzieht, aber im Allgemeinen schon nicht mehr zu dem Amte eines Geschworenen. Dazu werden möglichst nur Vertreter aus den höheren, besser situierten Ständen akzeptiert. Nun ist in letzter Zeit ja nach dem Vorgange süddeutscher und etwas demokratischer angehauchter deutscher Bundesstaaten auch in Preußen nach dieser Richtung, vielleicht auch unter dem Einfluss der Geldfrage, eine kleine Änderung wenigstens in Aussicht genommen worden, mindestens in Bezug auf die Schöffen, und wir verkennen nicht, dass die Zusammensetzung der Schöffengerichte sich in letzter Zeit gegen früher vielfach etwas verbessert hat.

Aber wie sieht es mit den Geschworenen? Betrachten Sie doch nur einmal die Zusammensetzung des Schwurgerichts, das über die Moabiter Rädelsführer zu befinden gehabt hat. In diesem Schwurgericht saß nicht ein einziger Arbeiter, nicht ein einziger Angehöriger, möchte ich sagen, des sogenannten kleinen Mittelstandes, es waren fast ausschließlich Angehörige der oberen Stände, und zwar vor allem aus dem Unternehmertum, also aus denjenigen Kreisen, die von vornherein bei diesem Konflikt sozialen Charakters, um den es sich handelte, nach ihrer ganzen Klassenlage nur mit sehr großer Selbstüberwindung sich das Maß von Objektivität verschaffen und sichern konnten, das zu einer halbwegs unparteiischen Rechtsprechung notwendig ist. Wenn man diese Tatsache betrachtet und dann liest, was in der Budgetkommission von einem Vertreter der größten Partei dieses Hauses ausgeführt worden ist, dann glaubt man in der Tat, nicht mehr in einem europäischen Staate zu leben, dann meint man, nach Asien versetzt zu sein, wenn nicht gar nach einem andern noch weniger zivilisierten Weltteil. Es ist von dem Abgeordneten Boehmer mit großem Nachdruck betont worden, dass man das Geschworenenamt zu einem aristokratischen Amte zu machen habe. Er hat hervorgehoben, dass die Arbeiter, die Angehörigen der unteren Stände, wie man auf der rechten Seite so sozial und christlich zu sagen beliebt, nicht die nötige Unabhängigkeit besitzen könnten. Ja, meine Herren, nicht die nötige Unabhängigkeit!

Herr Boehmer hat sich auch bei einer späteren Gelegenheit gewendet gegen die reinen Standesgerichte. Es ist doch ein komisches Zusammentreffen, dass derselbe Herr Boehmer, der die unteren Stände ausschließen will, selbst von der Laiengerichtsbarkeit – auch für die Schöffengerichte galten seine Worte sich dann zum Wortführer macht eines Kampfes gegen die Standesgerichtsbarkeit.

(Zurufe rechts)

Ja, Sie möchten natürlich seine allgemeinen Standesgerichte.

(Zuruf rechts: „es ist verdreht!“)

Ich beziehe mich auf den Wortlaut Ihrer Äußerung in dem betreffenden Bericht. Dort ist ausdrücklich ausgeführt, dass Sie sich gegen die Standesgerichte wenden. Nun, meine Herren, Standesgerichte wollen Sie nicht, Sie wollen sie nicht in dem Sinne, dass Angehörige der unteren Stände über die zu Ihnen gehörigen Delinquenten urteilen sollen. Sie vertreten in der Beziehung nicht einmal dasjenige Maß von Liberalität, das bei uns die Militärjustiz, die Militärstrafprozessordnung besitzt; denn dort ist die Bestimmung getroffen, dass unter den Richtern wenigstens einer oder einige sitzen sollen von demjenigen Grade, dem der Angeklagte angehört. Meine Herren, Sie wollen Standesgerichte, Sie wollen nur Standesgerichte haben, die aus Ihren Stande sich ressortieren, und Sie wollen Standesgerichte, bei denen die unteren Stände Objekte der Rechtspflege sind, während Sie (rechts) als Subjekte der Justiz aufzutreten sich berufen fühlen. Indem ich das Wort Objekt und Subjekt gebrauche, erinnere ich mich ein klein wenig an ein anderes Wort, das von einer mir vielleicht in diesem Augenblick – ich weiß es nicht – sehr nahe sitzenden Seite vor einiger Zeit einmal hier gebraucht ist.

(Große Heiterkeit.)

Nachdem bereits die Justizbürokratie, die beamteten Richter in dieser Weise gesiebt sind, und eine Garantie geschaffen ist, dass sie nicht aus den unteren Ständen entnommen werden können, wollen Sie als Vertreter der privilegierten Klassen noch die Hinzuziehung des Laienelements beschränken auf das Laienelement, das Ihren eigenen Ständen entnommen ist?

(„Sehr wahr!“ bei den Polen)

Das muss festgenagelt werden. Ich bin sehr neugierig, ob Herr Boehmer in der Lage ist, mir nachzuweisen, dass ich nur in der allergeringsten Weise von dem Sinne seiner Ausführungen abgewichen bin.

Was die Frage der Unabhängigkeit der Richter weiter in Bezug auf die Amtsführung im Einzelnen anlangt, möchte ich auf das Schärfste mich gegen einzelne Fälle von Eingriffen in die richterliche Unabhängigkeit wenden, die gerade in den letzten Monaten bekannt geworden sind. An die Spitze stelle ich hierbei das offene Bekenntnis des Herrn Justizministers, das er gerade soeben abgelegt hat in Bezug auf die zweifellose politische Beeinflussung und Terrorisierung der Richter mit Rücksicht auf die Ostmarkenzulage. Ob mit Ostmarkenzulage oder ohne Ostmarkenzulage ist uns absolut gleichgültig. Der Richterstand muss seinem Prinzip nach und seinem Wesen nach geheiligt sein gegenüber derartigen Eingriffen, und da darf dieser Ausweg nicht gewählt werden, dass man irgendeinen Korruptionsfonds in den Etat hineinsetzt und auf diese Weise sich den Einfluss auf den Richterstand garantiert.

(Zuruf: „bekommen sie nicht!“ – Lachen rechts und im Zentrum)

Meine Herren, lachen Sie darüber! Es ist jedenfalls dann ein Missverständnis auf meiner Seite gewesen. Regen Sie sich nicht weiter darüber auf! Jedenfalls hat der Herr Minister – und das ist das Wesentliche; wir wollen darüber nicht zweifelhaft sein – ausdrücklich erklärt, dass er den Eingriff in die politische Selbständigkeit der Justizbeamten bei den Wahlen billigt und keinen Grund sieht, irgendetwas dagegen einzuwenden, Wenn er sich in den Deckmantel der Ostmarkenzulage hüllt, und das ist dasjenige, was festgehalten werden muss.

(Unruhe)

Weiter, meine Herren, weise ich darauf hin, dass erst vor kurzem in der Königsberger Allgemeinen Zeitung berichtet worden ist, dass in der Provinz Ostpreußen Richtern, die sich zu liberalen Anschauungen bekennen, und auch solchen, die lediglich mittelparteiliche Wahlen unterstützt haben, bedeutet worden ist, dass dies unterlassen werden müsse, obwohl sie die für einen richterlichen Beamten sich ergebenden Grenzen in der politischen Betätigung keineswegs überschritten hätten. Es wird dabei in dieser Zeitung, die keine sozialdemokratische ist, hinzugefügt, dass Richter, die sich in lebhafter Weise für die rechtsstehenden, reaktionären Parteien ins Zeug gelegt haben, in keiner Weise Schwierigkeiten gehabt haben.

Dann liegt mir die Hessische Landeszeitung vom 2. April 1910 vor. In ihr wird berichtet, dass in Kassel der Oberlandesgerichtspräsident gegen einen als Richter tätigen polnischen Gerichtsassessor mit Amtssuspension eingeschritten und das auf Amtsentsetzung einziehende Disziplinarverfahren eingeleitet habe, weil dieser bei einer Gelegenheit Polen habe hoch leben lassen und vielleicht auch etwas anderes getan, wie es heißt, „auch Termine versäumt" habe.

(Zuruf: „Es soll kein Pole sein!“)

Es soll kein Pole sein; dann ist es auch nicht besser.

(Heiterkeit)

Um Himmelswillen, das ist doch nicht der springende Punkt. Es genügt doch, wenn irgend jemand wegen seiner politischen Gesinnung, wegen einer politischen Kundgebung diszipliniert wird. Ob er nun eine polnische Kundgebung sich hat zu schulden kommen lassen, weil er Pole ist, oder obwohl er kein Pole ist, das ist bedeutungslos.

ferner ist in derselben Zeitung über einen Fall berichtet, wonach ein Amtsrichter im Oberlandesgerichtsbezirk Kassel, der bei irgendeinem Jagdstreit mit einem früheren Offizier in Konflikt geraten ist, zunächst einem militärischen ehrengerichtlichen Verfahren unterworfen worden ist; es soll dann auch gegen diesen Herrn das Disziplinarverfahren vor dem Disziplinarsenat des Oberlandesgerichts Kassel erhoben worden sein, und es soll auch die Strafversetzung dieses Richters ausgesprochen worden sein. Inwieweit das zutrifft, vermag ich nicht nachzuprüfen, vielleicht kann aber vom Ministertisch aus in dieser Angelegenheit nähere Auskunft gegeben werden.

Nun komme ich auf etwas anderes. Es ist bei Gelegenheit der ersten Lesung dieses Etats von dem Herrn Abgeordneten Dr. Wiemer in Bezug auf den Prozess Becker der vorsichtige Vorwurf der „Einseitigkeit, wenn nicht der Voreingenommenheit" – das waren wohl die Worte des Herrn Abgeordneten Dr. Wiemer – erhoben worden. Man hat sich gegen diese Worte in der allerschärfsten Weise gewendet und in ihnen bereits eine Beleidigung des Richterstandes erblickt. Meine Herren, wir wollen doch hier kein Blindekuhspiel treiben. Wir sind uns doch darüber klar, dass die Richter eben Menschen sind, die häufig in der lebhaftesten Weise an den politischen Kämpfen teilnehmen und politisch interessiert sind. Dass derartige Richter politisch befangen sein können, ist selbstverständlich, und die Behauptung dieser Befangenheit schließt einen Vorwurf und besonders eine Beleidigung dieser Richter an und für sich gar nicht ein. Man soll doch in Bezug auf die Frage der Befangenheit und der Objektivität der Richter nicht so entsetzlich empfindlich sein. Die Worte, die der Herr Justizminister vorhin wieder ausgesprochen hat, wonach es nach seiner Überzeugung niemand gäbe, der die Objektivität unserer Richter bezweifle, müssen den schärfsten Protest hervorrufen. Ist es denn dem Herrn Justizminister durchaus nicht bekannt, dass man es geradezu als eine allgemeine Erscheinung unserer Zeit bezeichnen kann, dass man kein Vertrauen zur Objektivität unserer Rechtspflege hegt?

(Widerspruch.)

Damit ist nicht im allergeringsten gesagt – ich werde das später noch zu erläutern haben –, dass für alle Fälle den Richtern ein solcher Vorwurf gemacht wird. Eine Befangenheit muss es an und für sich geben, und es muss auch die Möglichkeit geben, dass sie einen Richter unfähig macht, sein Amt auszuüben; sonst würde unser Gesetz nicht besondere Bestimmungen für diesen Fall haben und den Angeklagten die Möglichkeit geben, sich gegen die Amtierung befangener Richter zu wehren.

Meine Herren, wenn wir nun aber anerkennen, dass private Gründe einen Richter in dieser Weise befangen machen können, so heißt es doch in der Tat, wie ich vorhin sagte, Blindekuh spielen, wenn man verkennen will, dass auch politische Befangenheit vorliegen kann. Steht nicht manch einem sein politisches Interesse weit höher als sein privates Interesse? Wie will man es rechtfertigen, dass man jemanden für unbefangen hält, wenn es sich auch in einzelnen Fällen um das Schicksal, möchte ich sagen, seiner höchsten politischen Idee handelt, während man die Möglichkeit der Befangenheit zugibt in dem Augenblick, wo vielleicht sein persönliches Interesse durch einen oder zwei Pfennige berührt wird! Das heißt eine kleinliche Auffassung des Richterstandes. Ich bin der festen Überzeugung, dass ein Richter, der sich vollkommen über sich selbst Rechenschaft ablegt, gern anerkennen wird, dass er unter Umständen nur mit den größten Schwierigkeiten oder gar nicht in der Lage ist, politischen Gegnern gegenüber die Objektivität zu wahren.3

Meine Herren, wenn sich nun speziell der Herr Abgeordnete Boehmer mit Nachdruck gegen solche Vorwürfe in Bezug auf die Richter gemeldet hat, so möchte ich meine Überzeugung ausdrücken, dass jemand, der so wie der Herr Abgeordnete Boehmer mit aller Schärfe und Rücksichtslosigkeit bestimmte, der Sozialdemokratie feindliche und einer rücksichtslosen Politik der Staatsräson freundliche Anschauungen vertritt, dass ein solcher Herr, wenn er als Richter amtiert, schwerlich in der Lage ist, ein wirklich objektives Urteil zu fällen.

(„Oho!“ und Unruhe rechts – Abgeordneter Boehmer: fragen Sie Ihre Genossen bei mir!)

Wenn es doch der Fall sein sollte, dann müsste ich sagen, dass der Herr Abgeordnete Boehmer eine anerkennenswerte und bewundernswerte Leistung von Selbstüberwindung zustande gebracht hat, der ich nicht einen Augenblick zögern werde, den Tribut meiner Anerkennung zu zollen. Aber, meine Herren, Sie werden mir doch nachfühlen, dass das einem solchen Herrn ungemein schwer fallen muss, dass er ein gewaltiges Maß von Selbstüberwindung aufwenden muss, das sich eben gerade aus der einseitigen politischen Stellung ergibt. Wenn dann andererseits der Herr Abgeordnete Boehmer gemeint hat, dass die Richter sich dem Volke nähern sollten, dass die Kluft zwischen dem Volke und dem Richterstande beseitigt werden müsse, ja, meine Herren, dann möchte ich doch meinen, dass jemand, der so grundsätzlich den Standpunkt vertritt, dass der Richterstand und auch die Laienrichter nur ganz bestimmten Schichten der Gesellschaft entnommen werden können, sich damit von vornherein den Weg verschlossen hat, eine wirkliche Fühlung zwischen Richterstand und Volk herbeizuführen.

Meine Herren, es äußert sich diese kastenmäßige Abgeschlossenheit unseres beamteten Richterstandes in Formen, die man oftmals durchaus nicht zu billigen vermag. Ich greife hier auf ein Thema zurück, von dem mir im Augenblick nicht gegenwärtig ist, ob es einer der anderen Herren Redner bereits angeschnitten hat: auf das Thema der Ordnungsstrafen. Meine Herren, die Ordnungsstrafen, die Ungebührstrafen besonders gegen Anwälte sind nicht dazu da, rein sachliche Erörterungen, die dem Richter unbequem, unangenehm und vielleicht auch unrichtig erscheinen, um derartige Erörterungen abzuschneiden.

Meine Herren, wir haben gerade Fälle von Ordnungsstrafen in der letzten Zeit in der preußischen Justiz erlebt, die uns veranlassen, dringend das Ersuchen zu richten an die Richter – nicht an den Herrn Justizminister; wir wollen nicht, dass die Aufsichtsbehörde eingreift –, aber an die Richter draußen im Lande die Mahnung zu richten, dass sie diese mimosenhafte Überempfindlichkeit aufgeben. Meine Herren, denken Sie daran, dass man einen Anwalt um deswillen mit einer Ordnungsstrafe belegt hat, weil er seine Hand in der Hosentasche gehalten hat.

(Große Heiterkeit.)

Ich sehe, dass soeben einige Herren von der Rechten, die offenbar erst jetzt begriffen haben, dass das der Würde dieses Hauses, die auch doch nicht gering sein soll, nicht entspricht, rasch die Hände aus der Hosentasche herausgenommen haben,

(Heiterkeit.)

ich sehe noch viele Hände in den Hosentaschen. Ich habe sie auch noch drin. Mir ist eine Ordnungsstrafe auferlegt worden, weil ich mit einer solchen Haltung, mit gekreuzten Armen, an einen Sachverständigen eine Frage gerichtet habe, der der Gerichtshof den Charakter des höhnischen Tones suppeditiert hat.

Meine Herren, einen anderen Fall: Als der Rechtsanwalt Dr. Alsberg vor kurzem gegenüber dem Antrage eines Staatsanwalts davon sprach, das beantragte Strafmaß sei so ungeheuer hoch, dass man von einem Rekord sprechen könne, wurde, nachdem man in der Wendung keinen ungebührlichen Charakter gefunden hatte, in der nächsten Sitzung doch auf sie zurückgegriffen, und demnächst wird, wenn ich recht unterrichtet bin, eine Ordnungsstrafe verhängt, weil diese Wendung dem Sportleben entnommen sei.

Dann noch einen Fall: Ich habe im vorigen Sommer bei dem Halleschen Gericht die Ablehnung eines Richters vollziehen müssen. Das ist meines Wissens der einzige Fall in meinem Leben gewesen, in welchem ich einen Richter abgelehnt habe. Ich habe zur Begründung der Tatsache, dass ich diesen Richter für befangen halte, gesagt, dass unter seiner Mitwirkung in gleichartigen Prozessen früher das Gericht systematisch gewisse Zeugen, die mit der angehäuften Menschenmenge nur annähernd in Berührung gekommen seien, wegen Verdachts der Mittäterschaft am Auflauf nicht vereidigt habe. Es ist von mir absolut sachlich gesprochen worden; nur das eine Wort „systematisch" wurde herausgegriffen und daraus der Vorwurf der absichtlichen Rechtsbeugung entnommen. Das ist an sich schon eine ungemeine Einseitigkeit, denn man kann etwas systematisch unternehmen, ohne sich bewusst zu sein, dass es ein mit dem Gesetze in Widerspruch stehendes System ist. Im Übrigen hatte ich doch das gute Recht, in dem Augenblick, wo ich über die Befangenheit eines Richters sprach, auch über die Frage zu sprechen, inwieweit dieser Richter seiner Amtspflicht genügt; dann bin ich ja geradezu verpflichtet, darüber zu sprechen. Wenn dann der Gerichtshof, wo ich gerade nur das thema probandum, die Befangenheit des Richters, und dazu noch sehr zurückhaltend berührt hatte, eine Ordnungsstrafe, und gar die höchste Ordnungsstrafe von 100 Mark, verhängt, da steht einem der Verstand still. Aber das Merkwürdigste ist folgendes: Das Oberlandesgericht Naumburg, das über meine Beschwerde zu entscheiden hatte, erklärte: Im Vorwurfe des systematischen Vorgehens sei ohne Weiteres mit Recht der Vorwurf der Rechtsbeugung zu finden gewesen – das will ich akzeptieren, das ist eine Einseitigkeit, die etwa gerade noch menschenmöglich ist –; dann wird aber fortgefahren: „dass in dem Vorwurfe einer Rechtsbeugung eine grobe Ungebühr vor Gericht zu erblicken ist, bedarf keiner Erörterung"! während es sich gerade darum handelte, dass ich sogar das gute Recht hatte, bei Ablehnung eines Richters ihm positiv, allerdings in sachlicher Form, auch den Vorwurf zu machen, dass er wissentlich seine Amtspflicht verletzt habe. Das ist eine Sache, die ganz klar ist, so dass die Haltung der Richter in dieser Beziehung absolut unverständlich ist. Meine Herren, nicht nur nach meiner Auffassung, sondern nach der Auffassung der ganzen Anwaltschaft – sie hat Ausdruck gefunden in Vorträgen im Berliner Anwaltsverein, in Aufsätzen angesehener nicht-sozialdemokratischer Anwälte – hat sich diese Neigung zur Verhängung von Ordnungsstrafen geradezu zu einem Ordnungsstrafenunfug, zu einer neuen Art der Beschränkung der Verteidigung ausgewachsen. Ich meine, dass hier Remedur am Platze wäre.

Meine Herren, wenn ich nun schildern will, wie sich die soziale und politische Einseitigkeit der Richter gelegentlich entlädt, so möchte ich mich zunächst mit dem Landgericht Cottbus befassen, das von allen preußischen Gerichten wohl nahezu die ungünstigste Rolle in dieser Richtung spielt, das in Bezug auf Engherzigkeit und soziale Beschränktheit nichts zu wünschen übriglässt. Meine Herren, da hat die Strafkammer unter Vorsitz des Landgerichtsrats Meyer in einer Privatklagesache einen sozialdemokratischen Redakteur, der nur in einer etwas ironisierenden Wendung von der Seltenheit der Handtücher in dem Krankenhause von Cottbus gesprochen hatte, zu 500 Mark Geldstrafe verurteilt und zur Begründung folgendes angeführt:

Der Artikel ist eine Schmähschrift. Mit Abscheu und Ekel wird jeder bei all diesen Schmähungen erfüllt. Das Gericht hat Erwägungen darüber angestellt, ob eine Geldstrafe genüge bei der verbrecherischen Energie, womit der Angeklagte verletze, und bei seinem Hange, sich an der Ehre anderer zu vergreifen."

Ich meine, ein Richter sollte sich vorsichtiger ausdrücken, besonders wenn er über Beleidigungen zu Gericht sitzt.

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Sodann noch einige Punkte. Bis in die neueste Zeit ist es üblich, gegen sozialdemokratische Redakteure nicht Geldstrafen, sondern Gefängnisstrafen zu beantragen; solche Anträge werden von der Staatsanwaltschaft geradezu usancemäßig damit begründet, dass die Geldstrafen doch nicht von den Redakteuren selbst getragen, sondern von der Parteikasse gezahlt würden. Meine Herren, das ist eine Argumentation, gegen die wir uns auf das Schroffste wenden müssen. Der Richter hat gar kein Recht, sich in dieser Weise um die Strafvollstreckung und die Art der Aufbringung der Strafgelder zu kümmern. Wenn man jenes Prinzip aufrechterhalten wollte, dürfte gegen reiche Leute überhaupt nicht mehr auf Geldstrafen erkannt werden, und man müsste prinzipiell die Verhängung von Geldstrafen über Redakteure, auch über nicht-sozialdemokratische Redakteure, unterlassen.

Meine Herren, der äußerst krasse Fall, dass vor dem Landgericht in Halberstadt die Verurteilung zu einer ernsten Strafe damit begründet worden ist, dass es sich bei der Beleidigten nicht um ein Mädchen aus dem Volke gehandelt habe, bei dem das Ehrgefühl nicht so hoch entwickelt sei, sondern um ein Mädchen aus höheren Ständen, ist ja hier bereits erörtert worden, kann aber nicht niedrig genug gehängt werden, weil er ein empörendes Beispiel für die Einseitigkeit der sozialen Auffassung ist, von der die Richter vielfach beseelt sind.

Während ich nun den Fall Becker nur streifen will, ohne ihn zu erörtern, so möchte ich doch ein Urteil in einer Strafsache gegen Voß und Genossen besprechen, das vom Landgericht Flensburg im Dezember 1909 verhängt worden ist. Es handelt sich um die Beleidigung eines Landrats. Da ist eine Frau, die in die schwersten ehelichen Konflikte gekommen ist durch gewisse Unsittlichkeiten, die ich nicht näher erörtern will, die aber im unmittelbarsten Zusammenhang stehen mit der Familie eines höheren Beamten – da ist dieser Frau, die nachher die sie auf das lebhafteste berührenden Vorgänge in etwas drastischer Weise weiter berichtet hat, obwohl im Wesentlichen alles wahr gewesen ist, bei bisher vollkommener Unbestraftheit eine Gefängnisstrafe von drei Monaten zuerkannt worden. Und einem Manne, der nichts weiter getan hat, als diese selben Tatsachen im Wesentlichen auch richtig, wenn auch vielleicht etwas übertrieben, aber jedenfalls so, wie sie ihm berichtet worden waren, in einer Eingabe an den Vorgesetzten dieses Beamten weiterzugeben, ist der gute Glaube abgesprochen, es ist ihm der Paragraph 193 versagt worden. Er ist, obwohl er ein nahezu unbescholtener Mensch ist,

(Heiterkeit. Zurufe rechts: „Nahezu!")

meine Herren, es war ein angesehener Mann, ein Mann, der das Gastwirtsgewerbe noch ausübte, der meines Wissens nur in unwesentliche Konflikte geraten ist wegen seines Gewerbes, der aber schon dadurch, dass er das Gastwirtsgewerbe noch ausübt, beweist, dass ernste Straftaten von ihm nicht begangen sein konnten; das wissen Sie doch ganz genau – diesem Manne ist wegen dieser Eingabe eine Strafe von einem Jahr Gefängnis aufdiktiert worden. Und, meine Herren, zur Begründung der Höhe dieser Strafe – der Angeklagte hat alles in allem ein Jahr acht Monate Gefängnis bekommen, nahezu zwei Jahre, er sollte außer jener Eingabe gesprächsweise einem Dritten gegenüber vom Inhalt der Eingabe erzählt haben – ist dann ausdrücklich gesagt worden – auch hier, ähnlich wie in dem eben von mir erwähnten Falle –, „dass er durch leichtfertiges Gerede namenloses Leid über eine hoch achtbare Familie gebracht hätte" usw.

Ich meine, dass derartige Urteile in der Tat in so schroffem Widerspruch stehen mit dem natürlichen Empfinden und so sehr diktiert sind von sozialer Engherzigkeit und bürokratischem Kastengeist, dass wir sie als Ausflüsse der Klassenjustiz erkennen müssen, wenn auch von einer unmittelbaren politischen Seite der Sache nicht die Rede sein kann.

Dann möchte ich aber einen anderen Fall erwähnen, der sich vor nicht langer Zeit in Stolp abgespielt hat, wo ein Mann wegen Brandstiftung verurteilt worden ist, der aus Berlin stammte und während dessen kurzzeitigen Aufenthalts am Orte ein Brand ausgebrochen war. Da hat der Staatsanwalt zur Begründung seines Antrags auf den Schuldigspruch bei den Geschworenen darauf hingewiesen: Es handle sich um einen Berliner, der aus einem verhetzten politischen Milieu komme, aus einem Milieu, wo man die Landbevölkerung hasse und insbesondere die Neigung, der Landbevölkerung einen Streich zu spielen durch eine Brandstiftung, voraussetzen könne – um einen Mann, der außerdem Leser der „Berliner Volkszeitung", eines der hetzerischsten Organe, das überhaupt in Preußen existiere, sei.

(„Sehr richtig!" bei den Freikonservativen.)

Ich meine, derartige Ausführungen eines Staatsanwalts beweisen, was es mit der „objektivsten Behörde" auf sich hat.

(„Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, dann erinnere ich an das Urteil gegen unsern Freund Markwald, der vier Monate Gefängnis bekommen hat wegen Beleidigung der königlichen Prinzen, weil er in Anknüpfung an die Erhöhung der Krondotation darauf hingewiesen hat: Er könne nicht recht einsehen, warum wegen der Ausstattung der königlichen Prinzen eine Erhöhung notwendig sei, soweit diese Herren erwachsen seien, wäre es doch wohl möglich, dass sie sich selbst unterhielten, denn Arbeit adele. Meine Herren, darin ist eine Beleidigung gefunden worden. Dieser Gedanke ist ein klein bisschen humoristisch ausgeführt; aber, meine Herren, das hat die Sache nicht zum Klappen gebracht. Was das Eingreifen der Behörde veranlasst hat, das ist die Einseitigkeit des politischen Standpunktes, die Auffassung, dass jemand, der mit der Monarchie in enger Beziehung steht, eine geheiligte Persönlichkeit sei und dass man ihm auch nicht in den vorsichtigsten Worten eine Wahrheit sagen dürfe, die vielleicht unbequem empfunden wird.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Im Übrigen noch eins! Sie wissen, dass man nach wie vor gegen die Sozialdemokratie, vielleicht auch gegen andere oppositionelle Parteien, die Verfrommungsverordnungen anwendet, diejenigen Polizeiverordnungen, die an Sonn- und Feiertagen „öffentlich bemerkbare Arbeit" verbieten. Meine Herren, diese Polizeiverordnungen sind in neuester Zeit gerade wieder durch das Kammergericht dahin ausgedeutet worden, dass sie auch auf Wahlzeiten Anwendung finden,

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

also auf Zeiten, wo durch Reichsgesetz an und für sich ausdrücklich die wesentlichen Beschränkungen der einzelstaatlichen Pressgesetze, Plakatgesetze usw. aufgehoben sind. Das Kammergericht hat wiederum die These vertreten, dass es möglich sei, der Agitation durch Flugblätter usw. an Sonn- und Feiertagen durch Polizeiverordnung einen viel wirksameren Hemmschuh anzulegen, als selbst durch das Plakatgesetz und die Gewerbeordnung, die für diese Zeiten ausdrücklich außer Kraft gesetzt sind. Wenn wir nun aber die, ich möchte sagen, urkomische Kasuistik des Kammergerichts Revue passieren lassen und uns die Definition der öffentlich bemerkbaren Arbeit vergegenwärtigen, nach der jede mit einer gewissen Anstrengung verbundene Tätigkeit als eine solche Arbeit anzusehen ist, dann sehen wir sofort, dass eine solche Arbeit von jedem Einzelnen von uns geleistet wird, wenn er irgendein Aktenstück über die Straße transportiert, und dass jeder Fromme, der seine Bibel oder sein Gesangbuch durch die Straße trägt, eine mindestens ebensolche öffentlich bemerkbare Arbeit leistet wie ein Arbeiter, ein Sozialdemokrat, der vielleicht 30 Flugblätter, zu einem Paket eingewickelt, vielleicht sogar in der Tasche trägt. Ich habe es erlebt, dass das Kammergericht verurteilt hat, weil die Tasche weit abgestanden hätte, in der die Flugblätter gewesen seien: Dadurch sei der Eindruck der öffentlichen Arbeit erweckt worden. Ich habe es erlebt, dass man diese Arbeit konstruiert hat, nicht aus dem Gewicht, das getragen wurde, sondern aus dem lebhaften Hin- und Herlaufen von einem Haus zum anderen.

Meine Herren, in erfreulichem Gegensatz zu dieser konstanten Judikatur steht die Einsicht, die die Judikatur gehabt hat gegenüber dem Herrn Rittergutsbesitzer von Gossow, der sonntags seine Knechte auf seinen Wagen steigen ließ und von ihnen Reichsverbandsflugblätter verbreiten ließ. Das war plötzlich keine öffentlich bemerkbare Arbeit, und die Strafverfolgungsbehörden haben die Verfolgung abgelehnt.

Das Material ist wahrlich so groß, dass meine Zeit herum sein würde, ehe ich es in all der an und für sich zweckmäßigen Breite erörtern könnte. Ich werde mich infolgedessen auf das Äußerste beschränken.

Meine Herren, wenn wir weiter bedenken, dass zwei jugendliche Bergarbeiter, Bergjungen, wie sie genannt werden, Reinbrodt und Fiedler aus Hettstedt, bei Gelegenheit der Mansfelder Prozesse im vergangenen Jahre wegen Übertretung der Gewerbeordnung zu je vier Monaten Gefängnis verurteilt worden sind, weil sie Arbeitswillige gehänselt haben sollen, wenn wir daran denken, dass die Strafkammer Anfang 1910 in Hohensalza den zwölfjährigen Schulknaben Dziamski zu einem Jahr und einer Woche Gefängnis und den vierzehnjährigen Schüler Jasinski zu einem Jahr Gefängnis verurteilte wegen der bekannten, in diesem Hause schon erörterten sogenannten Transportgefährdung, so wird man in der Tat nicht verkennen können, dass die Richter in Bezug auf das Strafmaß, also in Bezug auf einen der schwerwiegendsten Teile ihrer Machtvollkommenheit, sich vielfach durchaus nicht befähigt zeigen, diejenige Fühlung mit der öffentlichen Meinung und insbesondere dem Bewusstsein des Volkes, der breiten Massen zu gewinnen, die erforderlich sein würde, um Vertrauen zu unserer Justiz zu erzeugen.

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, ich möchte nicht weiter hinweisen auf die Urteile in dem Mansfelder Streikprozess, von denen bereits die Rede gewesen ist, auf die Urteile in den vielen Demonstrations-Prozessen, die im Verlaufe des letzten Jahres ergangen sind, wo wegen der geringfügigsten Sachen ernste Strafen verhängt worden sind, wegen Beteiligung an den Aufläufen, wo Wochen und selbst Monate Gefängnis erkannt sind wegen eines einzigen Wortes – zum Beispiel Bluthund –, das vielleicht in einer Massensuggestion mal von einem vielleicht bis dahin unbestraften Manne gerufen worden ist. Aber wenn ich noch daran erinnere, dass der Schlosser Adolf Sternitzky, der, auf dem Hinterperron der Straßenbahn stehend, gegenüber einem Sergeanten auf die militärische Disziplin geschimpft haben sollte, dafür am 1. März 1910 mit vier Monaten Gefängnis bestraft worden ist; wenn ich dann schließlich noch hinweise auf den – wenn ich nicht irre, im Laufe dieser Debatte auch schon erwähnten – Fall des Kellners im Gasthof zu Rositten, den ich bereits im vergangenen Jahre hier zur Sprache gebracht habe, wo der Angeklagte wegen Beleidigung eines Oberkriegsgerichtsrats zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt wurde, weil er diesen für einen gesuchten Verbrecher gehalten hat – – dann, meine Herren, werden Sie in der Tat begreifen, dass wir gegenüber vielen Erscheinungen in unserer Justiz nur die allerschärfste Kritik am Platze halten, insbesondere dann, wenn wir die Kehrseite betrachten, die uns ja ein so außerordentliches Agitationsmaterial bietet, speziell den Bonner Fall.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, ich weiß, es ist Ihnen viel zu viel darüber geredet worden.

(Zustimmung.)

Ja, ja; aber uns ist noch lange nicht genug darüber gesprochen worden.

(Heiterkeit.)

Wir werden immer und immer wieder davon reden –

(Zuruf rechts.)

– „weil wir keinen anderen haben"? Ach nein, daran mangelt es uns niemals; wir werden ja so überreichlich mit Material versorgt; unser Material ist ja größer, als dass wir es verarbeiten könnten; wir ersticken ja in unserem Agitationsmaterial.

Also, meine Herren, vergegenwärtigen wir uns, dass diese Bonner Borussen, die Bonner Korpsstudenten, Delikte begangen haben in ihrer Gesamtheit, als eine zusammengeschlossene Menge, Delikte, die zweifellos nicht nur als Transportgefährdung, sondern sogar als Verbrechen gegen Paragraph 315 des Strafgesetzbuches zu charakterisieren sind, dass diese Herren Fensterscheiben in Massen eingeschlagen haben, dass sie Beamte beleidigt haben und überhaupt in schwerster Weise exzediert haben. Der Exzess ist ja allenthalben preisgegeben worden; darüber rede ich mit keinem Worte. Aber davon müssen wir sprechen, dass man diese Leute nun mit Geldstrafen von 20 bis 80 Mark, wenn ich nicht irre, belegt hat.

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Zur Begründung dessen sagt man: Es seien nicht die eigentlichen Täter gewesen, die da auf der Anklagebank saßen – der Prozess hat sich ja in zwei verschiedenen Abteilungen abgespielt –; die Angeklagten seien nur kleinerer Delikte, der Einschlagung von Scheiben und gewisser Beleidigungen oder polizeilicher Ordnungswidrigkeiten überführt worden. Ja, meine Herren, wenn derartige Delikte von Angehörigen anderer Stände begangen worden wären – darüber braucht man ja kein Wort zu verlieren, das wissen Sie so gut wie ich –, dann wären doch Strafen verhängt worden, die sich auf das Vielfache derer belaufen haben würden, die das Gericht über die Bonner Borussen verhängte, auch wenn gar nichts anderes festgestellt worden wäre, als was man dort festgestellt hat; dann wären mindestens Wochen über Wochen an Haftstrafen verhängt worden.

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Wir haben es doch bei den Moabiter Prozessen4 erlebt, meine Herren, dass absolut unbescholtene Leute, die – unter einer Massensuggestion stehend, nach den Feststellungen des Schwurgerichts – groben Unfug verübt haben, indem sie nicht eine Laterne zerworfen, sondern nur danach geworfen haben, mit der höchst zulässigen Strafe von sechs Wochen Haft belegt sind. In dem Wedding-Prozess5 ist ein Mann, der den besten Leumund besaß und bis dahin unbestraft war, weil er ein ganz ähnliches Delikt begangen hatte, mit einem Monat Gefängnis wegen versuchter Sachbeschädigung bestraft worden; der Staatsanwalt war natürlich noch viel schroffer aufgetreten und hatte noch strengere Bestrafung gefordert. Und dann muss ich betonen: Im Bonner Fall ist man so zag und so zahm und so vorsichtig gewesen in der Konstruktion der Schuld. Vergleichen Sie einmal damit die Konstruktion der Schuld in dem Moabiter Prozesse, in Aufruhrprozessen ähnlicher Art, die sich gegen die Angehörigen der Arbeiterklasse richteten. Da pflegt man gar nicht so sorgfältig zu untersuchen, was gerade dem Einzelnen nachgewiesen ist, wie oft hat man sich da auf das sehr bequeme Aushilfsmittel zurückgezogen, Gemeinschaftlichkeit anzunehmen und daraus zu konstruieren, dass mit gefangen mit gehangen sei: Wer in dieser ganzen Gesellschaft gewesen ist, wenn er auch im einzelnen Falle die Hand vielleicht erweislich nicht erhoben hat, habe durch sein ganzes Verhalten in gewolltem und bewusstem Zusammenwirken zu dem Erfolge beigetragen, sei also der gemeinschaftlichen Täterschaft überführt und ebenso zu bestrafen, als ob die von anderen Mitwirkenden verübten Einzelhandlungen von ihm selbst verübt seien. Meine Herren, so wird im Allgemeinen gern konstruiert, wenn es sich um Angehörige anderer Stände handelt. Hier war man so ungeheuer vorsichtig.

Und was nun das Allerschönste ist: Nachdem die Herren Bonner Borussen schon an und für sich so glimpflich davongekommen sind, dass man von einer Bestrafung anständigerweise schon gar nicht mehr reden sollte – denn diese Geldstrafen sind ja Lappalien für diese hoch mögenden und mit einem guten Portemonnaie versehenen Herren –,

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

meine Herren, nachdem das bereits geschehen war und die Öffentlichkeit weit über die Grenzen der Sozialdemokratie hinaus aufgeregt hat, da muss ausgerechnet auch noch die Begnadigung des Herrn von Finkenstein und des Herrn von Quistorp kommen.

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Ich kann Ihnen nur sagen: Die Fülle unseres Dankes für Sie und für alle die Instanzen, die dieses Material für uns zusammen tragen, kennt keine Grenzen, in Worte kann ich unsere Dankbarkeit nicht kleiden.

(Abgeordneter Hoffmann: „Sehr gut!" – Lachen rechts.)

Arbeiten Sie nur so weiter, möge die preußische Justiz nur so weiterarbeiten, möge man in Bezug auf die Ausübung des Begnadigungsrechts nur so weiterarbeiten – uns ist um uns dabei nicht bange. Aber Ihnen sollte vielleicht etwas bange sein um Sie selbst.6

Meine Herren, ich habe hier noch einen Punkt, den ich im vergangenen Jahre kurz erwähnte: das Verhältnis der Justiz zur Verwaltung. Meine Herren, ich betone wiederholt, dass ich entgegen einer Äußerung, die Herr Senatspräsident Lindenberg im vergangenen Jahre gewissermaßen als Antwort auf meine Rede hier tat, die Behauptung aufrecht erhalten, eine Behauptung, die unzweifelhaft richtig ist, dass unsere Justiz sich insofern mit vollkommen gebundenen Händen der Verwaltung ausgeliefert hat, als sie sich aus eigenem Willen grundsätzlich das Recht abspricht, über die Zweckmäßigkeit von Verwaltungsmaßnahmen ihrerseits zu urteilen. Wenn Herr Senatspräsident Lindenberg meinte, dass es sich hier um eine Vorschrift des Gesetzes handele, so verwechselt er mit dieser Frage die Vorschrift des Polizeigesetzes von 1851, die sich mit dem Erlass von Polizeiverordnungen befasst und die Rechtsgültigkeit der Polizeiverordnungen nicht nachprüfen lässt unter dem Gesichtspunkt ihrer Zweckmäßigkeit. Diese Frage hat aber mit der von mir erörterten Frage gar nichts zu tun. Und wenn wir weiter sehen, wie die Verwaltung mit unserer Justiz umgeht, wenn es sich um die amtliche Zeugnisverweigerung und um die Frage der Vorlegung von Akten handelt, von sogenannten Geheimakten, wenn wir hören, wie der Herr Polizeiminister, der Herr Minister des Innern, die Nichtvorlegung der Polizeiakten im Prozess Becker zu motivieren versucht hat, dann muss man das mit aller Schärfe als der Justiz unwürdig bezeichnen, oder auch feststellen, dass die Justiz an diesem Zustande, dass sie als fünftes Rad am Wagen gegenüber der Verwaltung behandelt wird, selbst mitschuldig ist.

(„Sehr gut!“ bei den Sozialdemokraten)

Meine Herren, nun ein paar Worte über die Untersuchungsrichter. Unsere Untersuchungsrichter an den großen Gerichten sind schwer überlastet, und das hat ernste Missstände im Gefolge. Ich weiß besonders von Berlin, dass diese Herren mit den wichtigsten Arbeiten überhäuft sind, so dass sie ohne schwere Beschädigung ihrer Gesundheit diese Arbeiten nicht leisten können und naturgemäß auch nicht ohne schwerste Beschädigung der Interessen der Angeklagten. Und wenn die Sorgfalt der Untersuchung im einzelnen Falle unter dieser Überlastung vielleicht nicht leiden mag, weil ich ganz gern konzedieren will, dass die Herren summa summarum sich bemühen, mit großer Sorgfalt und Akkuratesse zu arbeiten, so leidet doch der Angeklagte insofern, als er, in der Regel in Untersuchungshaft befindlich, dann wenigstens in Bezug auf die Dauer der Untersuchungshaft ungünstig gestellt wird; die Voruntersuchung muss sich in die Länge ziehen. Ich bin fest überzeugt, dass die Berechtigung dieser Klage dem Herrn Justizminister bestätigt werden wird, wenn er die Untersuchungsrichter bei dem Berliner Landgerichten einmal darüber befragen wird.

Meine Herren, in Bezug auf die Frage der Untersuchungshaft hätte ich viel Material vorzubringen. Mir liegen Fälle vor, wo ohne jeden verständigen Anlass Untersuchungshaft verhängt worden ist. Z.B. ist das vor wenigen Monaten in Landsberg a. d. Warthe gegen einen gewissen Kubath geschehen, gegen einen Mann, der in geordneten Verhältnissen lebte, der nichts weiter getan haben soll, als einen Apotheker beleidigt zu haben.

(„Hört, hört!“ bei den Sozialdemokraten)

Später konstruierte man noch die Beleidigung eines Richters. Er ist dann allerdings freigelassen worden.

Meine Herren, dann darf ich noch besonders auf die außerordentlich erstaunlichen Fälle der Verhängung von Untersuchungshaft in dem Moabiter Prozess verweisen. Dort hat man Leute in Untersuchungshaft genommen, die wegen solcher Delikte angeklagt waren, die nicht mehr als 3 Monate Gefängnis im Höchstfalle zur Folge haben können.

Dann, meine Herren, möchte ich ein paar Worte auf die Art der Vollstreckung der Untersuchungshaft verwenden. Ich halte die Methode, in der bei uns die Untersuchungshaft vollstreckt wird, für ungesetzlich. Die Untersuchungshaft soll gerade nur diejenigen Nachteile für den Häftling im Gefolge haben, die sich aus dem unmittelbaren Zweck der Untersuchungshaft ergeben; er soll der eigentlichen Gefängnisdisziplin nicht unterworfen werden. Daraus ergibt sich zunächst einmal, dass die Anwendung der Disziplinarmittel, die man bei uns in Preußen auch Untersuchungshäftlingen gegenüber für zulässig hält, mit dem Geist unserer Strafprozessordnung nicht in Einklang zu bringen ist. Es ergibt sich aber weiter, dass bei Untersuchungsgefangenen die Frage der Beköstigung, die Frage der Bekleidung, die Frage vor allen Dingen auch der Art der Beschäftigung in einer äußerst liberalen Weise beantwortet werden muss. Meine Herren, ich muss es immer wieder erleben, dass mir Untersuchungsgefangene klagen, sie bekämen kein Schreibmaterial.

(„sehr wahr!“ bei den Sozialdemokraten)

dass ihnen nur zu gewissen Zeiten die Erlaubnis zum Schreiben gegeben wird.

(„Sehr wahr!“ bei den Sozialdemokraten)

Meine Herren, das ist direkt ungesetzlich. Dem Untersuchungshäftling dürfen nicht im Allergeringsten Schwierigkeiten bereitet werden; er darf die Bücher haben, die er haben will; er darf Papier haben, so viel er will; er darf schreiben, so viel er will; er darf vor allen Dingen auch nach außen korrespondieren, so viel er will, natürlich mit der einen Einschränkung in dem Falle, wo die Untersuchungshaft wegen Kollusionsverdacht verhängt worden ist; das ist eine Sache für sich. Im Übrigen: die Kontrolle des Richters à la bonheur, sie ist gesetzlich geregelt. Aber wie will man rechtfertigen, dass man in dieser Beziehung dem Untersuchungshäftling vielfach Beschränkungen auferlegt. Hier muss Remedur geschaffen werden. Auch die Art, wie man sie visitiert, ihnen Gelder und Papiere abnimmt, wenn man sie einsperrt, und wenn die Untersuchungshaft nur wegen Fluchtverdachts verhängt ist, – das sind Sachen, die nicht vorkommen sollten, und hier könnte die Justizverwaltung wahrhaftig, ohne irgendwie ein ernsthaftes Interesse der Staatsräson preiszugeben, Remedur eintreten lassen.

Meine Herren, wenn man gegen die Sozialdemokratie den Vorwurf erhebt, dass sie mit Unrecht unserer Rechtspflege einen politischen Charakter beimesse, so möchte ich doch darauf hinweisen, dass gerade unsere Justizverwaltungsbehörden, die Staatsanwaltschaften, in dieser Richtung mit dem besten Beispiele vorangehen, wie ja die eine Tatsache beweist, dass die Staatsanwaltschaft in allen größeren Orten mindestens SpeziaIdezernenten für politische Angelegenheiten hat, die die besondere Aufgabe haben, die Pressorgane der Oppositionsparteien, die im politischen Vordergrund stehen, zu durchsuchen und in zweckmäßigen Fällen zur Verantwortung zu ziehen.

Meine Herren, eine Frage, die mich hier dann noch lebhaft interessieren, ist die des Strafvollzuges. Da liegt uns vielerlei Material aus der jüngsten Zeit vor, von Redakteuren politischer Oppositionsparteien, besonders von sozialdemokratischen Redakteuren, denen die Selbstbeschäftigung, zum Teil auch die Selbstbeköstigung in den Gefängnissen versagt worden ist. Der Fall des Redakteurs Steinkamp in Werl ist noch in der Erinnerung; er hat sich jetzt bereits vor Jahresfrist abgespielt. Dann ist in der Presse im vergangenen Sommer der Fall des Redakteurs Schiller von der Breslauer Volkswacht erwähnt worden, der im Gefängnis von Wohlau war. Weiter erinnere ich an die unwürdige Behandlung, die meinem Parteifreund Markwald, dem Königsberger Redakteur, in dem Braunsberger Gefängnis zuteil geworden ist, wie ihm dort sogar die Selbstbeköstigung vermehrt worden ist, obwohl seine Gesundheit schweren Schaden litt. Aus der neuesten Zeit stammt ein Fall, der sich in Erfurt abgespielt hat, der Fall des Redakteurs Dahl, der sich unmittelbar anschließt an den Fall des Redakteurs Hennig und den Fall des Redakteurs Stange, die früher in Erfurt in genau derselben Weise behandelt worden sind: man hat diesen Männern die Selbstbeschäftigung schlechterdings verwehrt und den Redakteur Dahl mit dem Stanzen von Etiketten, den Hennig mit dem Flechten von Körben und Stange mit dem Zupfen von Gräsern und dem Verlesen von Linsen beschäftigt.

(„Hört, hört!“ bei den Sozialdemokraten)

Nun, meine Herren, Wir haben uns gerade vorgestern über die Frage unterhalten, wie man den Schäden der Gefängnisarbeit beikommen könne. Sie fträuben sich dagegen, und zwar mit Recht, dass aus den Gefängnissen heraus der freien Arbeit eine zwecklose und schmutzige Konkurrenz gemacht werde. Meine Herren, Was soll man denn angesichts solcher Klagen dazu sagen, dass nun die Gefängnisverwaltung es sich geradezu zur Aufgabe macht, Leute, die ihrem ganzen Entwicklungsgange nach nicht dazu geschaffen, nicht dazu geeignet sind, derartige Arbeiten, die eine Konkurrenz nach außen bedeuten können, zu machen, zu zwingen, solche Arbeiten zu leisten, die auch ihrem ganzen Charakter nach natürlich irgendeinen sogenannten „erziehlichen" Wert nicht haben können. Meine Herren, weshalb man nicht, soweit es eben möglich ist – und in solchen Fällen ist es möglich –, die Gefangenen, die zu einer anderen Beschäftigung wohl geeignet und prädestiniert sind, in anderer Weise beschäftigt, soweit es irgendwie mit unserer Gefängnisordnung verträglich ist, weshalb man hier den Wünschen, die wiederholt auch im Bundesrat und in den Beschlüssen des Reichstages zum Ausdruck gebracht sind, nachfolgt, ist mir schlechterdings unerfindlich. Es ist das eine Engherzigkeit der preußischen Justizverwaltung, mit der mit aller Geschwindigkeit aufgeräumt werden müsste.

(„Sehr richtig!“ bei den Sozialdemokraten)

Meine Herren, ich hätte dann noch den Wunsch auszusprechen, dass man die bedingte Begnadigung in großzügigerer Weise handhaben möge als bisher. Es geschieht immer noch gar zu engherzig aus dem Gesichtspunkt heraus, dass man in der Hauptsache bisher unbescholtene Personen und Personen mit geringer Strafe, möglichst auch jugendliche Personen bedenkt, und dabei auch gar häufig allzu viel Gewicht legt auf den Charakter der Straftat. Ich meine, wenn man den Grundsätzen, die in anderen Ländern für die bedingte Verurteilung anerkannt sind, hier in höherem Maße Rechnung tragen würde, dass man dann auch in der Tat vom Gesichtspunkte der Kriminalpolitik eine bessere Arbeit leisten würde.

Ich will eine Anzahl von Sachen überschlagen und nunmehr betonen, dass bei allen Anständen, die ich gegen unsere Justiz erhoben habe, ich auch in diesem Jahre in der Lage bin, unserer Justiz wiederum das Zeugnis auszustellen, dass sie von den Institutionen des preußischen Staats immerhin noch die relativ erträglichste ist.

(Heiterkeit)

Das klingt selbstverständlich nicht überschwänglich, aber aus dem Munde eines Sozialdemokraten will es doch immerhin schon recht viel sagen.

(„Sehr richtig!“)

Nun, wir verkennen nicht, dass unsere Richter sich vielfach aufrichtig und mit einem gewissen Erfolge bemühen – leider nicht alle –, die Klassenvorurteile, in denen sie einmal stecken, nach Möglichkeit zurückzudrängen. Wir haben sogar vom Reichsgericht wiederholt erlebt, dass es verständige Urteile gefasst hat. Im vorigen Jahre ist der Fall eingetreten, dass das Reichsgericht unsern Rechtsstandpunkt in der Frage des Jugendturnunterrichtes gegenüber dem preußischen Kultusminister im Wesentlichen gerechtfertigt hat.

Nun komme ich auf eine Sache, die in diesem Hause in diesem Jahre schon oft erörtert worden ist. Man hatte gedacht, der Sozialdemokratie bei Gelegenheit der Moabiter und Weddinger „Unruhen" ein paar revolutionäre Kuckuckseier ins Nest zu legen;

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

das war der Gedanke, von dem die Polizei im ersten Augenblick ausging, als diese Ereignisse sich vollzogen. Ich erinnere daran, dass sich in dem Generalbericht des Kriminalkommissars Kuhn, der in den Prozessakten des ersten Moabiter Prozesses liegt, eine Zeitungsnotiz befindet, die er als den Ausdruck der allgemeinen Meinung innerhalb der Polizei bezeichnet, eine Notiz, die unter anderem folgende Wendung enthält: „Schade um jede Kugel, die nicht getroffen hat."

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Das genügt wohl, um die Stellung der Polizei bei den Moabiter Krawallen von vornherein zu charakterisieren.

Über die Art, wie dann mit der Verhängung der Untersuchungshaft vorgegangen ist, habe ich bereits gesprochen. Ich komme auf die „zuverlässigen Richter", auf die Verbindung der verschiedenen Prozesse. Wenn der Abgeordnete Boehmer sich darüber beklagt hat, dass das Gericht auf die in diesen Beziehungen vorgebrachten juristischen Einwendungen der Verteidiger überhaupt eingegangen sei, so hat er damit, scheint mir, vom Gericht geradezu eine Pflichtwidrigkeit gefordert. Dass die Frage, ob jemand seinem gesetzlichen Richter entzogen wird oder nicht, dass die Frage, ob die Staatsanwaltschaft den Versuch unternimmt, Angeklagte vor ihr besonders genehme Richter zu bringen, nicht eine Bagatellsache, sondern außerordentlich ernst ist, das ergibt schon ganz allein die Tatsache, dass in der preußischen Verfassungsurkunde Grundsätze in dieser Richtung festgelegt worden sind, darüber sollte auch die unzweifelhafte Aufregung belehren, die sich auch hier in weiten Kreisen bemerkbar gemacht hat. Der Herr Justizminister hat sich, als er auf diesen Punkt einging, sehr vorsichtig gehalten; er hat nur die Verantwortung übernommen für dasjenige, was während seiner Amtsperiode geschehen ist. Ich erlaubte mir, als er darüber sprach, dazwischenzurufen: „Plötzenseeprozess!" Der Herr Justizminister fragte: „Wann?" – „1905!" – „Ja, von dem Prozess weiß ich nichts, damals war ich noch nicht im Amt." Kurz und gut, wir denken an den Gummischlauchprozess von 18947; damals hat man die Brausewetter-Kammer für zuverlässig erachtet. Wir denken an den Plötzenseeprozess; damals hat man die Oppermann-Kammer für zuverlässig erachtet. Jetzt die Lieber-Kammer. Soll das alles der reine Zufall sein? Wenn man die Ausführungen hört über alle die merkwürdigen Zufälligkeiten, die sich im preußischen Staatswesen ereignen und die nach außen den Anschein erwecken, als ob sie auf eine gewisse Absicht zurückzuführen seien, dann müsste man oft geradezu an Wunder glauben! Preußen, das Wunderland! Wenn aber die Sozialdemokraten an diese Wunder nicht glauben wollen, schreit man Zeter und Mordio gegen sie. Es lässt sich nicht verkennen, dass die Staatsanwaltschaft in allen Fällen, von denen ich gesprochen habe, mindestens stets ein fabelhaftes Glück gehabt hat, immer gerade zufällig die Kammern zu erwischen, die allgemein den Ruf haben, politisch sehr scharf zu sein.

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Von Brausewetter wissen Sie das alle, von Oppermann auch, und von Herrn Lieber dürfte es Ihnen bekannt sein, dass diese Kammer stets besonders scharf in politischen Sachen war. Fragen Sie irgendeinen Anwalt in Berlin – er mag angehören, welcher Partei er wolle –, ob er nicht dasselbe Urteil fällen wird, und im Vertrauen wird Ihnen mancher Richter dasselbe sagen, der die Verhältnisse in Berlin kennt. Liegt es so fern, dass dieses Glück ein wenig durch Geschicklichkeit „korrigiert" worden ist? Ja, meine Herren, mit einer merkwürdigen Geschicklichkeit sind in Berlin stets die Kammern getroffen worden, die in der öffentlichen Meinung als besonders „zuverlässig" galten. Dann aber darf ich mich wohl darauf berufen, dass wegen eben jener früheren Vorgänge, speziell des Plötzenseeprozesses, der Herr Justizminister oder die Präsidien, um zu verhindern, dass dergleichen vorkomme, neue Normen in Bezug auf die Geschäftsverteilung aufgestellt haben, so dass es nicht mehr der Willkür des Staatsanwalts überlassen blieb, welchen Angeklagten sie als Firmenträger an die Spitze stellen will, sondern dass künftig die gleichzeitig Angeklagten nach dem Alphabet geordnet werden sollen. Wenn also die Behörde eine derartige Verfügung getroffen hat, so beweist das, dass man ein gewisses Bedenken gehegt hat, der Staatsanwaltschaft eine Befugnis einzuräumen, die von ihr in der von uns kritisierten Weise missbraucht werden kann. Und nun soll mir einer klarmachen wollen, wie es kommt, dass gerade ausgerechnet die Anklage gegen diejenigen Leute, bei denen dann Hagen der erste im Alphabet war, in der Voruntersuchung früher fertig waren als die anderen, die mit früheren Buchstaben anfingen, wie Bock, Beyer, Albrecht, die zu einer anderen Rubrizierung geführt haben würden. Und dabei möchte ich in Ihr Gedächtnis zurückrufen, dass Albrecht im Urteil schließlich nur mit 50 Mark Geldstrafe belegt worden ist, dass er also sicherlich ein Delikt begangen hat, das nicht länger untersucht zu werden brauchte als die Delikte viel schwerer Beschuldigter und viel schärfer Bestrafter. Dass nun gerade alle die im Alphabet vorher Stehenden langsamer abgefertigt wurden in der Voruntersuchung, das ist eine Merkwürdigkeit ersten Grades, deren Wunderbarkeit noch besonders erhöht wird, wenn man sich vergegenwärtigt, dass man hier Sachen verbunden hat, die sachlich gar nicht zusammengehörten, dass man Dinge, die sich in der König- und in der Mittelstraße abgespielt haben, Vorgänge, die sich erst am 5. Oktober abgespielt haben, in den großen Prozess hineingezogen hat. Nun, meine Herren, unsere Überzeugung, dass hier das Erstaunen, das dem Herrn Justizminister nach seinen Worten von Seiten der staatsanwaltlichen Organe an den Tag gelegt worden ist, als er um Auskunft fragte, vielleicht äußerlich drastisch, aber innerlich nicht ganz ernst gewesen sein dürfte, werden Sie uns nie und nimmer rauben können; auch alle Erklärungen des Herrn Justizministers werden das nicht vermögen.

Besonders haben wir Veranlassung, ein derartiges Misstrauen gegen die Staatsanwaltschaft zu hegen, weil sie auch in anderer Beziehung ihres Amtes nicht einwandfrei gewaltet hat. Da erinnere ich Sie zunächst einmal daran, wie nach einer Behauptung, die in dem Prozess unter Beweis gestellt war, die wir auch jetzt noch aufrechterhalten, die es aber mangels einer entsprechenden Beweisaufnahme bisher nicht gelungen ist zu beweisen, die Staatsanwaltschaft und die Polizei aus der großen Anzahl der Festgenommenen systematisch vorzugsweise solche Personen herausgegriffen haben, die organisiert waren, sei es politisch, sei es gewerkschaftlich. Es ist uns nicht vergönnt gewesen, in die Geheimnisse dieser Voruntersuchung gehörig einzudringen, und es ist, wie mir scheint, zum Schaden der Strafjustiz, dass sich die Vertreter der Anklagebehörde im Prozess dagegen gesträubt haben und dass das Gericht es abgelehnt hat, die Möglichkeit einer Aufklärung über die Berechtigung dieses schweren Vorwurfs zu schaffen. Ich denke, dass dieser Vorwurf schon um deswillen einen gewissen Anspruch auf Evidenz hat, weil ja im Falle Weidemann die Staatsanwaltschaft sich für befugt gehalten hat, diesem, dem Sohn eines Polizeibeamten, in der doch angeblich so ungeheuer ernsten Sache einen außergerichtlichen „Vergleich" anzubieten, nach dem sie ihn für den Fall, dass er 25 Mark in die Polizeikasse zahlen würde, mit der Anklage verschonen wollte. Und das unter der Herrschaft des Offizialprinzips der unbedingten Amtspflicht zur Strafverfolgung! Es handelt sich nicht um etwas, was dem Vergleich zugänglich wäre! Zweifellos liegt hier ein grober Verstoß gegen die Amtspflichten vor, der von Polizei und Staatsanwaltschaft unternommen worden ist.

Weiter will ich dann noch auf etwas hinweisen, was im Wedding-Prozess zutage getreten ist und was, wie mir scheint, auch alle Veranlassung geben sollte, dass der Herr Justizminister mit der Praxis der Staatsanwaltschaft und der Kriminalpolizei, die ihm ja auch untersteht, sich näher befasst. Im Wedding-Prozess ist der Zeuge Schreiber aufgetreten, ein Mann, der von vornherein nach allem, was wir hörten, den Eindruck eines Polizeispitzels, jedenfalls den Eindruck eines Menschen machte, der im äußersten Maße unzuverlässig ist. Der Mann wird vernommen, und der Vorsitzende, der in einer zweifellos ausgezeichneten und vorbildlichen Weise die Verhandlungen geleitet hat, fragt aus gewissen Vorgängen der Akten heraus nach Vorstrafen. Der Zeuge gibt einige Vorstrafen an, streitet aber unter seinem Eide Stein und Bein, weitere Vorstrafen erlitten zu haben. Er gibt zu, dass er vor etwa einem Jahre zu einer einjährigen Gefängnisstrafe verurteilt ist, diese Strafe aber noch nicht verbüßt hat. Wir fordern die Strafakten ein, und sie ergeben folgendes: Dieser Mann hatte ernste Vorstrafen, die er eidlich abgeleugnet hatte, erlitten. Das Gericht hat diesem Zeugen, wie auch ausdrücklich erklärt worden ist, nicht ein Wort geglaubt. Dieser Mann hatte sich der Polizei bei Gelegenheit der Wedding-Krawalle verschiedentlich als Zeuge angeboten. Auf sein Zeugnis hin wurden Leute in Haft genommen, und auch ein Mann wurde unter Anklage gestellt, den ich vertrat. Nun bekommt Schreiber die Aufforderung zum Strafantritt. Da sagt er: Ich habe Angst bekommen, ich wollte nicht aus der Haft vorgeführt werden als Zeuge im Wedding-Prozess. Er geht zum Kriminalkommissar Kuhn, dem politischen Kriminalkommissar, und dieser Herr gibt ihm ein an die Staatsanwaltschaft gerichtetes Schriftstück, in dem er ihm bescheinigt, dass er Zeuge im Wedding-Prozess sei, dass es im Interesse der Anklage liege, wenn er nicht aus der Haft vorgeführt werde,

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

und dass er, Kuhn, aus diesem Grunde die Staatsanwaltschaft bitte, diesem wegen schweren Rückfalldiebstahls mit einem Jahr Gefängnis bestraften Manne eine weitere Strafaussetzung bis zur Erledigung des Wedding-Prozesses zu gewähren. Daraufhin hat die Staatsanwaltschaft beim Landgericht I diesem Individuum, das gar nicht scharf genug charakterisiert werden kann, den Strafaufschub auch tatsächlich erteilt. Dem Herrn Justizminister ist es nicht bekannt; ich entnehme das aus seinem Achselzucken. Meine Herren, nachdem der Herr Justizminister vorhin erklärt hat, dass er nicht wisse, dass von irgendeiner Seite ein Zweifel an der Objektivität unserer Justiz erhoben werde, wundert es mich nicht, dass er auch davon nichts weiß. Es ist über diesen Fall in dem Wedding-Prozess, der doch das Justizministerium auch interessieren sollte, in ausführlichster Weise gehandelt worden, und es ist in der Presse aller Parteien über diesen Fall ausführlich berichtet worden. Die von uns gestellten Beweisanträge, die den Akteninhalt wiedergaben und die vom Gericht daraufhin als richtig bestätigt worden sind, sind in den verschiedensten Zeitungen, insbesondere im „Vorwärts", wörtlich abgedruckt worden. Also, man stelle sich vor: Dieser schwere Verbrecher ist zu einer Stütze des Staates geworden in dem Augenblick, wo er als Zeuge gegen die verhasste Sozialdemokratie auftritt. Die ist dem Kriminalkommissar Kuhn natürlich viel verhasster als ein schwerer Verbrecher und Einbruchsdieb; mit dem ist ja ein Sozialdemokrat nicht zu vergleichen, den drückt die Polizei gern an ihren Freundesbusen, wenn sie damit der Sozialdemokratie an den Kragen gehen kann. Also diesem Manne gibt der Kriminalkommissar Kuhn ein amtliches Schriftstück mit diesem Inhalt, gibt es ihm persönlich in die Hand, benutzt ihn als amtlichen Boten, und die Staatsanwaltschaft geht darauf ein. In dem Schreiben des Kriminalkommissars Kuhn findet sich – und das erleichtert noch des Rätsels Lösung – ganz am Schluss die Wendung: „Schreiber ist auch sonst für die Polizei tätig."

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Also, meine Herren, ein nützliches Element, wie es im Buche steht, eine Ordnungsstütze, wie man sie sich besser nicht wünschen kann, die naturgemäß alle Rücksicht verdient. .

Meine Herren, wenn ich hierzu noch die scharfe Beschuldigung gegen die Staatsanwaltschaft häufe, dass sie es gewesen ist, die durch die Art ihrer Anklageerhebung jene zwei Prozesse, besonders die Moabit-Prozesse, von vornherein zu politischen stigmatisiert hat, dann meine ich damit wahrlich genug gesagt zu haben, was dem Herrn Justizminister Veranlassung geben könnte, in sachlicher Weise auf den Vorwurf der Politisierung der Justiz durch die Justizverwaltungsbehörden einzugehen – und, wie mir scheint, auch genug gesagt zu haben über die Gründe, die die weitesten Kreise der Bevölkerung unserer Justiz feindlich, mindestens misstrauisch gegenüberstehen lassen. Meine Herren, wie ein Reichsverbandsflugblatt gegen die Sozialdemokratie liest sich jene berüchtigte Eingabe, jener berüchtigte Schriftsatz der Staatsanwaltschaft vom 29. Oktober 19108, der auch dementsprechend in der Öffentlichkeit charakterisiert worden ist.

Meine Herren, das ist, wie mir scheint, von Wichtigkeit auch für Sie, die Sie nicht Worte genug gefunden haben, um diejenigen an den Pranger zu stellen, die angeblich versucht haben sollen, diese Prozesse zu einer politischen Aktion zu machen. Wenn die Verteidigung, nachdem so mit Kanonen auf sie geschossen worden ist, nachdem sich die Strafverfolgungsbehörde so unverhüllt auf den Standpunkt der politischen Justiz gestellt hat, mit gleicher Münze diente und sich nach Kräften dagegen wehrte, dann wird man ihr wahrlich keinen Vorwurf daraus machen können; dann hat sie damit nichts als ihre Schuldigkeit getan.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, ich möchte dem Herrn Justizminister anheimgeben, sich vielleicht einmal bei den Richtern, die mit diesen drei Sachen befasst gewesen sind, zu erkundigen, ob sie nicht selbst auch meinen, dass die Staatsanwaltschaft durch die Art der Abfassung von Vertretung ihrer Anklage die Schuld daran trägt, wenn dadurch die Verteidigung die Möglichkeit, ja den Zwang auferlegt bekam, nun auch in das breite Gewässer der sozialpolitischen und politischen Erörterungen zu segeln.

Nun, meine Herren, was heißt es nun, wenn man uns von vornherein jeden Vorwurf gegen die richterliche Unabhängigkeit als eine schwere Sünde ankreiden möchte. Meine Herren, wir betrachten es nicht als ein Verbrechen, seine Meinung zu sagen über die Justiz, wo sie Missstände zutage treten lässt; wir betrachten es vielmehr als eine schwere Gefahr für den Staat, eine Verfehlung gegen die Grundlagen unserer Verfassung und gegen die Interessen der Öffentlichkeit, wenn in einer Weise, die dann von uns allerdings agitatorisch in wertvollster Weise benutzt werden kann, von der Justizverwaltung oder von anderen Verwaltungsorganen Eingriffe in die Unabhängigkeit der Rechtspflege geübt werden.

Ich erinnere daran, meine Herren, wie Herr von Jagow mitten in dem Prozess sich herausgenommen hat – als der Standpunkt vertreten wurde, dass die Polizeibeamten in einem gewissen Sinne doch auch Partei seien, ein Standpunkt, den gewiss jeder der hier anwesenden Herren, die dem Richterstande angehören, auch in gewissen Fällen schon akzeptiert hat –, eine Proklamation zu erlassen, natürlich auch an das Gericht gerichtet und an die ganze Öffentlichkeit, das sei eine ganz verkehrte Auffassung; die Polizei vertrete die Staatsautorität, die Polizei sei nie Partei, die Polizei sei Subjekt, und der Verbrecher sei Objekt, und wie alle diese berühmten Redeblüten des Herrn von Jagow noch lauten mögen. Das müsste der Herr Justizminister sich, da es sich in diesem Falle auch um einen Akt handelt, der unmittelbar in die Kriminalpolizei hineinspielt, wie mir scheint, dringend verbitten. Ebenso scheint es mir, hätte der Herr Justizminister Veranlassung gehabt, an seinen hohen Vorgesetzten, den Herrn Reichskanzler und Ministerpräsidenten von Bethmann Hollweg, einmal das freundliche Ersuchen zu richten, sich von Kundgebungen ähnlicher Art während des Verlaufes eines Prozesses, wie das der Herr Reichskanzler im Reichstage getan hat, fernzuhalten.

(„Sehr gut!" links. „Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Und dann, meine Herren, denken wir auch an den Eingriff in die Rechtspflege, der ausgeübt worden ist durch die Verleihung der Orden im Verlauf des Prozesses.

(„Sehr richtig!" links.)

Ich weiß nicht, ob der Herr Justizminister sich das verbeten hat, dass dergleichen Demonstrationen von einer höchst angesehenen Stelle aus, von der angesehensten, die die auf dem Boden der Monarchie stehenden Personen überhaupt bei uns in Preußen kennen, dass eine solche Proklamation, eine solche Demonstration für die unmittelbar an dem Prozess beteiligten Polizisten ausgeführt wurde. Meine Herren, solche Eingriffe in die Rechtspflege dürfen wir nicht dulden. Solange solche Eingriffe vorkommen, solange wird das Misstrauen gegen unsere Justiz fruchtbarsten Boden finden. Meine Herren, hinterher kamen dann noch andere Ordensverleihungen. Es ist ein Orden verliehen worden an Herrn Lieber – nicht, an Herrn Unger – nicht, an den Herrn Vorsitzenden im Wedding-Prozess – nicht, wohl aber an Herrn von Jagow,

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

auch an einige Beamte der Staatsanwaltschaft, soviel ich orientiert bin, und dann auch an einen Herrn, der zwar nicht dem Richterstande angehört, der aber die schärfste prononcierte Erklärung gegen die Justiz in dem Moabiter Falle abgegeben hat, die überhaupt abgegeben werden konnte: Herrn Freiherrn von Zedlitz.

(Anhaltende Heiterkeit rechts und im Zentrum.)

Meine Herren, Sie kennen ja unseren Standpunkt zu den Ordensverleihungen. Wir gönnen sie Ihnen gern; ein Futterneid besteht auf unserer Seite ja gewiss nicht. Aber, meine Herren, ich meine, dass es überhaupt dem Ansehen des Richterstandes mehr entsprechen würde, wenn die Richter Orden grundsätzlich ablehnten. Jeder Orden, einem Richter verliehen, bedeutet eine Gefährdung, eine Beeinträchtigung seiner Freiheit. Die Ordensverleihung ist nun mal bei uns ein politischer Akt, ein Akt der Belohnung, das lässt sich nicht verkennen, und die Richter sollten sich davor hüten.

Nun komme ich auf etwas, was heute den Herrn Abgeordneten Mertin veranlasst hat, einen scharfen Ausfall, wenn ich nicht irre, gegen den Herrn Justizminister zu machen, zu dem Falle Unger. Es ist ja nun richtig ein Fall Unger geworden. Meine Herren, auch ich habe hier einen Vorwurf gegen den Herrn Justizminister zu erheben; das ist der Vorwurf, dass er überhaupt den Herrn Unger in dieser Weise vernommen hat. Wie man das Kind nennt, darauf kommt es gar nicht an; es ist klar, dass es eine amtliche Vernehmung, eine Anhörung war, mag sie eine Form gehabt haben, welche sie will. Mit solchen bürokratischen Kunststückchen, mit solchen Jongleurleistungen lassen wir uns nicht imponieren. Meine Herren, der Herr Landgerichtsdirektor Unger hat – das muss ich ihm zunächst einmal bescheinigen, obwohl es gelegentlich Konflikte mit ihm während der Verhandlung gab – unzweifelhaft bei den Äußerungen9, die gerade jetzt im Mittelpunkt der Erörterung stehen, durchaus nicht über das Maß dessen hinausgegriffen, was er zu sagen berechtigt war. Meine Herren, es trifft zweifellos zu – das kann ich als Ohrenzeuge bestätigen –, dass die Deutung, die Herr Unger seinen Worten nach der Erklärung gegenüber dem Herrn Minister gegeben hat, richtig ist. Es ist unzweifelhaft falsch, dass, wie einige Zeitungen berichtet haben, Herr Unger gesagt habe, dass schon bei falscher Ansicht über die Unrechtmäßigkeit der Amtsausübung Notwehr zulässig sei; im Gegenteil, er hat gegenüber den Ausführungen der Verteidigung aufs Schärfste den Standpunkt vertreten, der in der deutschen Judikatur herrscht, dass nämlich ein Irrtum über die Rechtmäßigkeit der Amtsausübung nicht zu beachten sei. Meine Herren, es ist in der Tat verwunderlich, warum einem Gerichtsvorsitzenden bei einer Rechtsbelehrung nicht gestattet sein sollte, in diesem Falle, nachdem nun doch einmal der Fall Herrmann10 vorgekommen war, eine Rechtsbelehrung in solch drastischer Form zu geben. Er hat sie nur ganz hypothetisch gegeben; der Fall Herrmann stand gar nicht zur Verhandlung, es war also schon deshalb eine rein hypothetische Rechtsbelehrung. Aber das weiß doch jeder, dass bei dieser Rechtsbelehrung, wenn man sie durchliest, wie sie von dem Herrn Unger gemacht worden ist, auch nicht mit einem einzigen Worte verstoßen worden ist gegen die allgemein anerkannten Grundsätze über die Notwehr, dass er insbesondere auch nicht mit einem einzigen Wort betont hat, dass das Maß der Notwehr in einem Missverhältnis stehen dürfe zu dem Maß der Gefahr, gegen das die Notwehr sich richtet. Es ist also, wie mir scheint, die ungeheure Aufregung nicht begreiflich, die sich in gewissen Kreisen über diese Äußerung des Herrn Landgerichtsdirektors Unger ergeben hat, und es ist traurig und kennzeichnend genug für unsere preußischen Zustände, dass schließlich dieser Herr von Sozialdemokraten in Schutz genommen werden muss gegenüber den Angriffen der sogenannten staatserhaltenden Parteien.

(„Hört! Hört!" „Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, wenn wir nun dieses anerkennen, so müssen wir uns um so stärker darüber wundern, dass aus diesem an und für sich auch bereits nach den Zeitungsberichten hinreichend klaren Fall der Justizminister Veranlassung genommen hat, diesen Richter, der in seiner unabhängigen Stellung als Gerichtsvorsitzender sich sogar einen Irrtum unterlaufen lassen darf – zu zitieren und in einer wenn auch noch so sanften Form zur Verantwortung zu ziehen. Wenn Sie nun schon einmal von Unabhängigkeit der Richter reden, so führen Sie sie doch wenigstens im Gröbsten und Äußerlichsten durch! Es ist in der Tat im höchsten Maße erstaunlich – für uns wiederum angenehm –, wie Sie bei jeder Gelegenheit das Märchen von der Unabhängigkeit der Richter selbst zerstören.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, im Übrigen aber möchte ich nunmehr folgendes betonen. – Meine Ausführungen werden nur noch kurz sein.

(Heiterkeit und „Bravo!" im Zentrum und rechts.)

Ach, meine Herren, das Sündenregister der Justiz richtet sich nicht nach mir, sondern nach der Justiz, und wenn der Justizminister dafür sorgen würde, dass das Sündenregister der Justiz kleiner wird, dann würden auch die Reden der Opposition gegen die Justiz kleiner sein. Das beste Mittel haben Sie also in der Hand.

Nun, meine Herren, die Urteile, die in den drei Prozessen gefällt worden sind, sind von uns anerkannt worden als vorsichtig abwägend, und Sie werden in sozialdemokratischen Zeitungen scharfe Angriffe gegen diese Urteile im Allgemeinen kaum irgendwo finden. Wir billigen die Urteile durchaus nicht: Auch diese Urteile sind und bleiben Urteile der Klassenjustiz.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Denn die Strafen, die hier verhängt worden sind, sind, gemessen an Strafen, die in Vergleichsfällen verhängt worden sind gegen Angehörige der herrschenden Klassen, außerordentlich hoch trotz alledem.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Im Vergleich zu der Tendenz, die in unserer Justiz sich des Öfteren breit macht, da mit Feuer und Schwert hineinzufahren, und im Vergleich zu dem Standpunkt der Strafverfolgungsbehörden – ich sage im Vergleich hiermit – kann man jedoch diesen Urteilen Worte der Anerkennung zollen. Und dann allerdings auch, wenn man vergleicht die ungeheuren Schwierigkeiten, die diese Richter haben, um eben aus ihrer eigenen Haut herauszukommen, um möglichst vorurteilslos zu urteilen. Meine Herren, wenn wir also dabei stehenbleiben, dass es sich um Urteile handelt, die trotz alledem Urteile der Klassenjustiz sind, so sehen wir doch auch mit vielem Behagen, wie die Strafverfolgungsbehörden jetzt rufen: O weh, wir haben gesiegt! Wir sehen mit vielem Behagen, mit welcher ohnmächtigen Wut man jetzt von reaktionärer Seite plötzlich gegen diese Urteile und gegen diese Gerichtsverhandlungen vorgeht. Ja, meine Herren, die Regierung kann sich nicht beklagen; die Regierung wollte ihren politischen Prozess, und sie hat ihren politischen Prozess gehabt, und dass man bei einem politischen Prozess der Regel nach hineinfällt, das hätte die preußische Regierung sich sagen können. Sie hätte sich deshalb bei Inszenierung des Prozesses hüten sollen; man lernt aber auf diesem Gebiete in der preußischen Justizverwaltung nur sehr schwer. Und, meine Herren, Sie, die Vertreter der Staatsautorität, machen es jetzt, wo Ihr Götze Justiz einmal nicht so gewollt hat, wie Sie wollten, mit ihm so, wie das von manchen barbarischen Völkerschaften berichtet wird, wenn ihr Götze nicht das getan hat, was erbeten wurde: Jetzt sind Sie drauf und dran, die Justiz krumm und klein zu schlagen,

(Heiterkeit rechts – Zurufe rechts: „Nein!")

weil Sie mit ihrem Geiste, mit ihren politischen Leistungen nicht mehr zufrieden sind, Ihren eigenen Götzen zu zertrümmern. Meine Herren, es ist nun einmal ein Reinfall für Sie. „So geht's: Wenn man politische Prozesse anstrengen tut, es tut wunderselten gut", möchte ich den Herren in Erinnerung an ein bekanntes Lied zurufen.

(Heiterkeit.)

Meine Herren, wir haben noch niemals hierbei den Kürzeren gezogen, und fahren Sie nur so fort, uns ist nicht Angst davor!

Meine Herren, wenn ich dann weiter daran denke, wie man diese Justiz von staatserhaltender Seite angepackt hat!

Ich komme wieder auf Herrn von Jagow zu sprechen, den proklamationsreichen Mann. Herr von Jagow hat ja bekanntlich bei der Kaisergeburtstagsrede jene wundervollen Aussprüche zum Besten gegeben, die man, wenn nicht darunter stände: „Herr von Jagow", vielleicht auf Herrn von Oldenburg zurückführen würde. Es ist jene Kürze, jene lapidare Kürze, die an Großartigkeit und düsterer Kraft sich nur noch mit jenen Befehlen vergleichen lässt, die der alttestamentarische Jehova seinem Volke zu geben pflegte. Man wird ihn vielleicht künftig statt Herrn von Jagow Herrn von Jehova nennen.

Meine Herren, es ist, abgesehen von der Leistung dieses Herrn, die ja, nachdem er sich bereits so in die Nesseln gesetzt hat, nicht mehr viel Schaden anrichten kann, auch von anderer Seite ein wahres Amoklaufen gegen die Justiz veranstaltet worden, und da habe ich zunächst den Abgeordneten von Zedlitz im Auge.

Meine Herren, wenn ich auf die Einzelheiten der Rede des Herrn Abgeordneten Freiherrn von Zedlitz über die Wertung der Zeugenaussagen durch das Gericht eingehen würde, dann würde ich zur Kennzeichnung seiner Art zu zitieren Ausdrücke gebrauchen müssen, die allerdings mit unserer Geschäftsordnung

(Zurufe: „Los!")

nicht verträglich sind. Herr Freiherr von Zedlitz weiß genau was ich meine; denn was ich ihm zum Vorwurf mache, hat er überlegt und bewusst getan. Aber, meine Herren, da die Person des Freiherrn von Zedlitz uns und der Öffentlichkeit in Bezug auf politische Skrupellosigkeit bereits genügend bekannt ist, unterlasse ich es, mich näher damit zu befassen.

(„Bravo!" bei den Freikonservativen. – Zurufe: „Immer weiter!")

Meine Herren, die Angriffe, die gegen die Rechtsanwälte in diesem Prozess gerichtet worden sind, habe ich keine Veranlassung, hier näher zu erörtern. Das eine aber muss von mir mit aller Schärfe betont werden: Wenn hier irgend etwas – ich komme hier auf eine Wendung des Abgeordneten Dr. Zimmer zu sprechen – von vornherein diesem Prozess geradezu den Stempel einer Haupt- und Staatsaktion aufgedrückt hat, einer Aktion, die von aller Öffentlichkeit beachtet wird, bei der jedes Wort in die weitesten Kreise hinausgetragen wird, dann ist es das Vorgehen der Staatsanwaltschaft gewesen, die Art der Erhebung und Führung der Anklage. Und wie will man nun, wenn die Verteidigung auch ihrerseits entsprechend diesem Verfahren der Staatsanwaltschaft vorgegangen ist, sich erkühnen, einen Vorwurf gegen die Art der Verteidigung zu führen.

(Lachen rechts.)

Es lohnt ja nicht, darauf einzugehen, insbesondere auf das, was der Herr Freiherr von Zedlitz darüber gesagt hat.

(Erneutes Lachen rechts.)

Das mag beachten, wer will; von der Verteidigung prallt es ab.

Aber das eine, meine Herren, bedarf noch einer Erörterung. Das ist die Frage, die jetzt im Vordergrund des legislatorischen Interesses steht, die Frage einer Beschränkung der Beweisaufnahme, einer Erhöhung der Souveränität des Gerichts in dieser Beziehung, einer Einschränkung des Paragraphen 244 Absatz 1 der Strafprozessordnung11 mit kurzen Worten. Wiederholt hat der Herr Justizminister und haben auch sonst hohe Gerichtsbeamte – ich denke zum Beispiel an den Herrn Landgerichtsdirektor Lieber – die Sache so formuliert: Es müsse dem Gericht in höherem Maße die Möglichkeit gegeben werden, Beweisanträge abzulehnen. Meine Herren, diese Möglichkeit hat das Gericht bereits gegenwärtig in sehr hohem Maße; es hat im Moabiter wie im Wedding-Prozess in weitestem Umfange Beweisanträge abgelehnt.

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Die Bestimmung, gegen die sich die Abneigung der Kreise richtet, die unsere Zustände weiter rückwärts revidieren möchten, ist enthalten in dem Paragraphen 244 und geht dahin, dass die beigebrachten Beweismittel unbedingt erledigt werden müssen.

Meine Herren, diese Bestimmung ist der Grund- und Eckpfeiler jeder wahren, objektiven Justiz. Es ist so dargestellt worden, als ob diese Bestimmung nur ein Ersatz für den Mangel der Berufung gewesen sei. Das ist falsch, meine Herren, wie ich Ihnen aus der einfachen Tatsache nachweisen kann, dass der Paragraph 244 Absatz 1 schrankenlos auch gilt für die Berufungsinstanz, für die Instanz, die, abgesehen von Bagatellsachen, gegenüber erstinstanzlichen schöffengerichtlichen Urteilen zu entscheiden hat.

Wie kann man nun aus dem Moabiter Prozess speziell entnehmen wollen, dass eine Reform in dieser Beziehung nötig sei! Es ist nur die Wut über den Ausgang des Prozesses, über das Ergebnis der Beweisaufnahme, was Sie veranlasst, hier eine Abänderung zu fordern.

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Sie haben dabei ja auch nicht ein einziges Mal auf andere als politische Prozesse zurückgegriffen.

Außerdem, meine Herren, ist gerade bei dem ersten Moabiter Prozess, dem einzigen, der so lange gedauert hat, zweifellos aus der ganzen Begründung des Urteils ersichtlich, dass das Gericht entgegen seiner ursprünglichen Auffassung gerade die Beweiserhebungen, die es sich schließlich in gewissem Sinne hat aufnötigen lassen müssen, für erheblich gehalten hat; das Gericht hätte, wie sein Urteil deutlich ergibt, ohne diese Beweiserhebungen niemals zu der Feststellung kommen können, dass polizeiliche Übergriffe nicht nur vereinzelt, sondern in einer größeren Zahl von Fällen vorgekommen sind. Aber das ist es ja gerade, was Sie nicht haben wollten und wollen.

(„Sehr wahr!" links.)

Erfreulicherweise ist ja auch von der Linken Protest gegen diesen Angriff auf den Paragraphen 244 erhoben worden.

Meine Herren, ist denn der Richter allwissend? In derselben Kommissionssitzung, in der das Justizministerium so heftig gegen Paragraph 244 vorgegangen ist, hat man auch von der schweren Überlastung des Richterstandes gesprochen. Diese Überlastung gebe ich zu; niemand bedauert sie mehr als wir. Aber legt nicht gerade diese Überlastung des Richterstandes uns die Verpflichtung auf zu verhindern, dass etwa der Richter, der so überanstrengt und überlastet ist, unter einer ganz naturgemäßen Autosuggestion und Nervosität etwas für nicht erheblich hält, was vielleicht doch erheblich sein könnte, dass er deshalb eine Beweisaufnahme ablehnt oder beschneidet, von der sich hernach herausstellt, dass sie doch wichtig gewesen wäre? Wer einige Praxis in der Justiz hat, der weiß, wie ungemein häufig es vorkommt, dass ein Richter Beweisanträge ablehnt und dass sich, wenn der Zeuge dann doch leibhaftig da ist, ergibt, dass dieser Beweis erheblich gewesen ist. Meine Herren, die freie Beweiswürdigung gibt dem Richter eine so gewaltige Macht, dass die Schranke des Paragraphen 244 absolut unentbehrlich ist.

Meine Herren, Sie möchten an Stelle der möglichsten Erforschung der Wahrheit eine möglichst schnelle Justiz haben. Wir erkennen ja gern an, dass auch der Grundsatz der Sparsamkeit und der Zeitersparnis einige Berechtigung hat; aber wie viel Zeit und Geld wird bei uns für viel unwichtigere Dinge verpulvert – und dann muss doch festgehalten werden: Wenn uns auch amica pecunia, magis amica veritas. Die Wahrheit muss vor allen Dingen vom Gericht erforscht werden, und wenn es auch Unbequemlichkeiten im Gefolge hat, wenn auch eine Vermehrung des Richterpersonals notwendig wird.

Meine Herren, wenn Sie nun eine Beschränkung der Beweisaufnahme wünschen, wenn ich darauf hinweise, wie Sie unser Gesetz umgestaltet wissen möchten, so ist es klar: Sie möchten eine summarische Justiz haben. Sie möchten gewissermaßen, besonders für politische Sachen, eine Art standgerichtliches Verfahren eingerichtet haben, einen kurzen Prozess, der nach kriegsgerichtlicher Methode es ermöglicht, den Angeklagten auf Kosten der Erforschung der Wahrheit mit möglichster Geschwindigkeit zu erledigen. Wo aber dieser Gesichtspunkt der Staatsräson anfängt, da hört die Gerechtigkeit auf.

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, diese Staatsräson ist das Grab jeglicher Gerechtigkeit.

Gewiss, niemand würde dem entgegenstehen, dass man schließlich völlig unerhebliche und wertlose Anträge ablehnen könne, niemand hat ja für wünschenswert gehalten, dass solchen Anträgen stattgegeben werden müsse. Aber was bleibt Ihnen denn übrig als eine Formulierung des Gesetzes, die etwas allgemein erscheint und immerhin die Möglichkeit gelegentlicher missbräuchlicher Anwendung gibt. Was bleibt Ihnen anders übrig, da man doch eine Formulierung, die genau die Wirkung erzielen könnte, die auch von mir als zweckmäßig erachtet wird und sicherlich von allen Seiten als zweckmäßig erachtet wird, nicht findet, weil eine solche Formulierung einfach nicht gefunden werden kann.

Meine Herren, als ganz besonders traurig möchte ich aber bezeichnen, dass die Inkarnation der preußischen Justiz, der Vertreter der preußischen Justiz, der Herr Justizminister, so weit gegangen ist, hier in diesem Hause die reaktionären Parteien aufzurufen,

(Zuruf bei den Freikonservativen: „Aufzupeitschen!")

aufzupeitschen, meine Herren,

(Große Heiterkeit.)

ich danke Ihnen für dieses Wort; also Sie fühlen sich gepeitscht!

(Rufe rechts: „Nein! Nein!")

Also Sie fühlen sich nicht voran gepeitscht; in der Tat, meine Herren, Sie werden von den Herren Ministern in Preußen nicht gepeitscht, die Peitschen hat man in Preußen für andere Leute – nun, meine Herren, vorangetrieben worden sind sie gegen ihre eignen Reichstagsfraktionen, so dass man die in Preußen in Ihren Parteien aufgestapelte verschärfte, qualifizierte Reaktion nunmehr auch zur Reaktion im Reiche noch nutzbringender verwenden könne, als es bisher bereits der Fall war. Es ist ja kein anderer gewesen als Graf Posadowsky, der einst auf den merkwürdigen Widerspruch hingewiesen hat, der in der politischen Vertretung derselben Parteien in diesem Hause und im Reichstage besteht, und das ist offenbar, was dem Herrn Justizminister dabei vorgeschwebt hat. Meine Herren, es dürfte ein in der Geschichte der preußischen Justiz bisher geradezu unerhörter Fall sein, dass nicht, wie das in diesem Hause allerdings schon öfter vorgekommen ist, von Vertretern Ihrer Parteien scharfgemacht worden ist gegen das Reich und den Reichstag, sondern dass ein so autoritativer Vertreter der preußischen Regierung, dass der Leiter der preußischen Justiz Sie mobilmacht und alle reaktionären Kräfte Preußens zu entfesseln sucht gegen unsere Reichsregierung. Das wird als ein ganz besonderes Heldenstück nicht leicht vergessen werden.

Meine Herren, ich will dann noch davon sprechen und das besonders charakterisieren, dass der Herr Justizminister in seinen sämtlichen Ausführungen auch nicht ein einziges Mal es unternommen hat, auf die Ungesetzlichkeiten einzugehen, die von dem Herrn Minister des Innern hier in diesem Hause verteidigt und gewissermaßen empfohlen worden sind.

(Lachen rechts.)

An und für sich besteht bei uns das Legalitätsprinzip, und der Herr Vertreter der Justiz, wenn er sein Amt so ideal auffassen würde, wie man sich das gelegentlich in Preußen in Träumen ausmalen mag,

(Lachen rechts.)

würde vielleicht aufgestanden sein und erklärt haben, dass er gegen eine solche Aufforderung zur Ungesetzlichkeit vom Regierungstische als Vertreter der preußischen Regierung Protest erheben müsse, und es würde vielleicht ein solcher Vertreter der Justiz, wie ich ihn mir in meinen Träumen ausmale,

(Lachen rechts.)

nachdem er die schärfsten Worte in Bezug auf den Paragraphen 244 gefunden hat, dann auch ein paar Worte der Anerkennung für die Richter gefunden haben, wenigstens ein paar Worte zur Abwehr der Angriffe auf sie und ein paar Worte der Abwehr gegen die unerhörten Angriffe des Freiherrn von Zedlitz,

(Lachen rechts. – „Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

die gleichzeitig Angriffe gegen das Gericht und gegen die Anwaltschaft gewesen sind.

Im Disziplinarverfahren, meine Herren, wird uns ja, wie Sie wissen, doch immer erklärt, dass das Justizministerium in gewissem Sinne auch für uns Anwälte Aufsichtsorgan sei, dass auch wir Anwälte Organe seien, die an der Rechtsprechung mitzuwirken hätten; also, meine ich, wäre es auch absolut Amt des Herrn Justizministers, angegriffene Anwälte und so unerhört,

(Lachen rechts.)

allerdings auch so sinn- und gewissenlos angegriffene Anwälte mit einem Wort zu verteidigen. Wir brauchen natürlich diese Verteidigung nicht; im Interesse des Justizministers hätte ich es gewünscht gehabt.

(Lachen rechts. – „Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Nun also, dann nicht, um so besser. Der Herr Justizminister ist ja eben hier weniger als ein Minister der Justiz, denn als ein Minister gegen die Justiz aufgetreten, besonders in den Ausführungen, von denen ich vorhin sprach.

(Glocke des Präsidenten.)

Präsident von Kröcher: Herr Abgeordneter, Sie dürfen dem Herrn Justizminister nicht vorwerfen, dass er als Minister gegen die Justiz auftrete.

Liebknecht: Meine Herren, also ich stelle fest, dass der Herr Justizminister so außerordentlich viel warme Worte in seiner Rede in Bezug auf die Polizei und die Staatsanwaltschaft gefunden hat, während er für die angegriffenen Gerichte nichts zu sagen wusste; und, meine Herren, dass der Herr Justizminister sich hier unter die Fittiche der Polizei geflüchtet hat und seine Ausführungen zum Moabiter Prozess mehr den Charakter getragen haben, als sei er, ich will mich sehr vorsichtig ausdrücken,

(Rufe rechts: „Ja! Ja!")

das Damoklesschwert – meine Herren, der Faden, an dem es hängt, ist bei mir etwa ebenso dünn wie bei der politischen Disziplin der Richter in Preußen –

(„Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.)

meine Herren, dass der Herr Justizminister sich da, um einen kaufmännischen Ausdruck zu gebrauchen, mehr als der junge Mann, als der Kommis des Herrn Polizeiministers gefühlt hat

(„Oho!" rechts.)

denn als der Minister der Justiz –

(Glocke des Präsidenten.)

Präsident von Kröcher: Herr Abgeordneter Liebknecht, diese Äußerung war ungehörig; ich rufe Sie zur Ordnung!

Liebknecht: Ja, meine Herren, ich gebe gern zu, die Wendung ist etwas scharf. – Nun aber, meine Herren, das kann doch gesagt werden.12 Manche von Ihnen fragen zuweilen, wie es möglich sei, die Sozialdemokratie versöhnlicher zum heutigen Staat zu stimmen. Wenn Sie den Verlauf der Moabiter Prozesse und den Wedding-Prozess betrachten, so könnten Sie da ein vorzügliches Rezept finden. Legen Sie die Hand aufs Herz: hat nicht die sozialdemokratische Presse und nicht die Sozialdemokratie die Urteile, die von diesen drei preußischen Gerichtshöfen gefällt worden sind, in einer Weise anerkennend besprochen, dass man geradezu von einem Überschwange reden darf? Wir sind so bescheiden in Preußen geworden!

(Lachen rechts – „Sehr richtig!“ bei den Sozialdemokraten)

Das ist es, was uns, obwohl diese Anerkennung der Urteile selbst objektiv nicht gerechtfertigt ist, veranlasst hat, mindestens den guten Willen dieser Richter in diesen schwierigen Angelegenheiten anzuerkennen. Und Sie sehen, dass die Kritik der Urteile sich in den Grenzen absoluter Sachlichkeit und vorsichtiger Ruhe hält, während die Kritik von jener (rechts) Seite gegen die Urteile bei Weitem schärfer ist.

(„Sehr richtig!“ bei den Sozialdemokraten)

Wenn es wahr ist, meine Herren, dass Gerechtigkeit die Grundlage der Staaten ist, dann gilt noch in höherem Maße, dass das Vertrauen zur Gerechtigkeit diese Grundlage ist, und dieses Vertrauen zur Gerechtigkeit darf nicht nur ein Vertrauen zur Gerechtigkeit in der Rechtspflege allein sein; denn bei uns hat die Rechtspflege leider nur einen ganz kleinen Teil der Gerechtigkeit zu üben, während ein gewaltiger, wohl der überwiegende Teil der Gerechtigkeitspflege in den Händen der Verwaltung liegt.

Wenn nun hier die Justiz einen Spruch gefällt hat, den wir vorsichtig kritisiert haben, der von Ihrer Seite (rechts) aber in so schroffer Weise kritisiert worden ist, dann, meine Herren, kann natürlich ein Vertrauen zur Gerechtigkeit und zur Justiz schon um deswillen nicht entstehen, weil sich damit die für unsere Verwaltung maßgeblichen Mächte in einen Gegensatz zur Rechtspflege gestellt haben und damit das ganze Staatswesen in seinem Charakter als eines Polizeistaates im Gegensatz zum Rechtsstaat von Neuem proklamiert haben, weil damit der weit mächtigere Polizeistaat, die Verwaltung, gegen die weit machtlosere Justiz ausgespielt ist.

(„Sehr wahr!“ bei den Sozialdemokraten)

Meine Herren, es besteht theoretisch die Möglichkeit einer innerpolitischen Detente, möchte ich mich einmal diplomatisch ausdrücken; das hat die Art, wie der Moabiter Prozess von der Sozialdemokratie aufgenommen worden ist, gelehrt. Wenn unsere Justiz ihres Amtes stets in ähnlicher Weise walten würde, dann würde unser Verhältnis zur Justiz sicherlich ein erträglicheres werden, als es gegenwärtig ist. Meine Herren, der Weg also, dasjenige zu erzielen, was manche von Ihnen angeblich gern erzielen möchten, steht Ihnen offen. Aber, meine Herren, Sie wollen diesen Weg nicht beschreiten. Das ergibt ja auf das Deutlichste die Art Ihrer Auslassungen;

(„sehr wahr!“ bei den Sozialdemokraten)

das ergibt ja auf das deutlichste die außerordentliche Heftigkeit Ihrer Stellungnahme gegen jene Urteile, die vielleicht in Bezug auf „Staatserhaltung" mehr zu leisten geeignet waren als alles, was die preußische Verwaltung jemals vorgenommen hat. Diese Urteile konnten „staatserhaltend" wirken, und sie können es, sie konnten ein wenig versöhnend wirken, und sie können es –: wenn nicht von Ihrer Seite, durch Ihren gewaltigen Einfluss dafür gesorgt würde, dass die Justiz, die bei uns eben doch nicht unabhängig ist, schließlich wieder zu ihren alten Gewohnheiten zurückkehren wird.

Meine Herren, es ist nun einmal unsere Aufgabe, hier in diesem Falle die Justiz in Gegensatz setzen zu müssen zum preußischen Staat und auch zur preußischen Justizverwaltung. Die gelegentlichen, relativ erfreulichen Erscheinungen innerhalb der preußischen Justiz können nicht auf das Konto der preußischen Justizverwaltung gesetzt werden, sind vielmehr geradezu gegen ihren Willen hervorgetreten. Und deshalb ist und bleibt auch, wenn wir eine Verbesserung unserer Justiz erzielen wollen, unsere Aufgabe in allererster Linie, Sie, meine Herren, zu erziehen

(Lachen rechts)

und Sie, meine Herren, und die preußische Verwaltung, die unter Ihrer Gewalt steht, zu zwingen, dass sie ihre Pflicht und Schuldigkeit tun.

(Erneutes Lachen rechts)

Meine Herren, wenn hier von einem Vertreter der konservativen Partei gesagt worden ist: Was soll daraus werden, wenn die Richter versuchen wollten, Rücksicht auf die Meinung politischer Richtungen zu nehmen oder gar auf die Gunst umschmeichelter Massen! – so sind Sie, meine Herren, schließlich doch darauf angewiesen, dass die Gunst der Massen Ihnen leuchtet; Sie sind trotz Ihrer Neigung zu einer oligarchischen Herrschweise doch schließlich außerstande, diese Herrschweise ohne die Gunst der Massen durchzuführen. Denken Sie an die Worte, die gerade vor kurzem ein Mann, der Ihnen politisch näher steht als mir, der Geheimrat Witting, über die Bedeutung gesagt hat, die gerade die im Lande, in der von Ihnen so verachteten Masse schlummernden Kräfte besitzen. Es bedarf einer Justiz in Preußen, die von dem Vertrauen der Gesamtheit des Volkes getragen wird, einer Justiz, wie Sie sie uns allerdings nicht verschaffen können, weil Sie sie uns nach Ihrer ganzen Klassenlage und Ihrer Gesellschaftsauffassung nicht verschaffen wollen; wie sie in der kapitalistischen Klassenherrschaft überhaupt nicht möglich ist.

(„Sehr richtig!“ bei den Sozialdemokraten)

Wir Sozialdemokraten sind die Vertreter der wahren Gerechtigkeit,

(Lachen rechts)

Wir sind die Vertreter der Wahren, über den Parteien und Klassen stehenden Gerechtigkeit,

(erneutes Lachen rechts)

weil wir grundsätzliche Feinde jeder Vermischung von Staatsräson und von Justizpflege sind und die Beseitigung aller Klassenherrschaft anstreben. Dass wir Sie (rechts) und auch die preußische Justizverwaltung schließlich doch noch zwingen werden, das zu tun, was wir wollen, daran zweifeln wir nicht einen Augenblick.

(Lachen rechts)

Es ist vielleicht schon einiges durch unseren Einfluss gebessert. Ich erinnere Sie in dieser Stunde noch an den wiederaufgenommenen Prozess in Essen, auf den ich nicht eingehen will, durch den jetzt über jene alte, traurige Affäre ein Licht verbreitet worden ist, vor dem das frühere Urteil nicht wird bestehen können: denn wie ich eben höre, hat sogar der Staatsanwalt in diesem Prozess die Freisprechung beantragt.

(„Hört, hört!“ bei den Sozialdemokraten)

Das ist ein erfreuliches Ereignis, das sicherlich von den oppositionellen Parteien im Lande herzlich begrüßt werden wird, und das gleichfalls in einem gewissen Umfange dazu beitragen kann, unsere Stellung zur preußischen Justiz zu nuancieren. Aber auch mit Ihnen (rechts) werden wir schließlich fertig werden. Und das wissen Sie ja, dass wir mit Ihnen fertig werden. Haben Sie doch ganz vor kurzem in dem maßgebenden Organ der rechten Parteien, der „Kreuz-Zeitung", eine Auslassung lesen müssen, wonach die Sozialdemokratie nicht etwa, wie man früher zu sagen pflegte, von einigen böswilligen Hetzern erfunden und gemacht worden sei, sondern dass die Sozialdemokratie eine vom Himmel gesandte Gottesgeißel sei zur Erziehung der herrschenden Parteien in Deutschland und Preußen.

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten. – Lachen rechts.)

Wir sind in der Tat eine Gottesgeißel,

(Erneutes Lachen rechts.)

wir werden auch eine wirksame Gottesgeißel sein, und unsere Wirksamkeit wird sich auch darauf erstrecken, die preußische Justiz immer und immer wieder in schärfster Weise unter die Lupe zu nehmen und weiterhin immer und immer wieder all das unsäglich massenhafte Material, das uns gerade die preußische Justiz für unsere Agitation gibt, nach Kräften auszunutzen, damit wir auf diese Weise immer mehr und mehr diejenige Macht draußen im Lande entfesseln, die Sie gern missachten und die Sie gern gänzlich übersehen möchten, die aber doch einstmals stärker sein wird als Sie und einstens dasjenige durchsetzen wird, was die Sozialdemokratie sich auf ihre Fahne geschrieben hat.

(„Bravo!" bei den Sozialdemokraten.)

II13

Präsident v. Kröcher: (…) Zu einer persönlichen Bemerkung hat das Wort der Abgeordnete Dr. Liebknecht.

Dr. Liebknecht, Abgeordneter (Soz.-Dem.): Dem Herrn Justizminister möchte ich zunächst bemerken, dass, als er seine Ausführungen machte, der Prozess, um den es sich handelt, bereits erledigt war. Also es ist ein ganz unbegründeter Vorwurf –

(Glocke des Präsidenten)

Präsident v. Kröcher: Das können Sie in einer persönlichen Bemerkung nicht sagen.

Liebknecht: Dann etwas anderes. Es ist von Herrn Boehmer behauptet worden, ich hätte die Unwahrheit gesagt, indem ich

(Zuruf rechts)

ich hätte seine Ausführungen über die Heranziehung der unteren Stände zu dem Geschworenen- und Schöffenamt entstellt. Ich habe sie nicht entstellt; denn der Abgeordnete Boehmer hat nach dem offiziellen Bericht der Kommission gesagt:

Wenn es nun auch in allen Berufsständen vernünftige Leute gäbe, so genüge das doch nicht, um jedermann zu einem tauglichen Schöffen oder Geschworenen zu machen. Dazu gehöre eine gewisse Unabhängigkeit der Gesinnung und der Lebensstellung, und die werde man in den niederen Ständen eigentlich kaum finden.“

(„Hört, hört!“ bei den Sozialdemokraten)

Die ganze Beteiligung der Laien an der Strafrechtspflege müsse gewissermaßen einen aristokratischen Charakter tragen.“

also in der Tat genau dasselbe, was ich vorhin charakterisiert habe.

In Bezug auf Herrn v. Zedlitz nur das eine. Darüber, dass die Angriffe des Herrn v. Zedlitz mir persönlich zwar keine Ehre sind, aber absolut gleichgültig, habe ich wohl niemals einen Zweifel gelassen.

(„Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.)

1 Der Beginn der Rede bis hierher fehlt in den „Reden und Schriften“

2 Die folgende Passage bis „Beleidigung des Richterstandes erblickt“ fehlt in den „Reden und Schriften“

3 Die beiden folgenden Absätze fehlen in den „Reden und Schriften“

4 Im September 1910 streikten die Arbeiter der Firma Kupfer & Co., einer dem Stinnes-Konzern angeschlossenen Kohlengroßhandlung in Berlin-Moabit. Als Streikbrecher des Streikbrechervermittlers Hintze, geschützt durch die Polizei, provokatorisch auftraten, kam es zu blutigen Zusammenstößen zwischen der Polizei und der Bevölkerung. Die brutal vorgehende Polizei tötete zwei und verwundete zahlreiche Personen. In zwei großen Prozessen – vom 9. November 1910 bis 11. Januar 1911 vor einer Berliner Strafkammer und vom 9. bis 23. Januar 1911 vor dem Schwurgericht des Berliner Landgerichts I – wurde gegen 18 Angeklagte verhandelt, von denen 14 insgesamt 67 ½ Monate Gefängnis erhielten. Der Rest wurde freigesprochen.

5 Am 29. Oktober 1910 begann in der Fleisch- und Wurstfabrik Morgenstern (Berlin-Wedding) ein Streik gegen die als Maßregelung erfolgte Entlassung von zwei gewerkschaftlich organisierten Arbeitern. Als die Polizei provokatorisch eingriff, kam es zu Zusammenstößen zwischen der Polizei und der Bevölkerung. Zahlreiche Personen wurden verhaftet. In einem Prozess vor der 4. Strafkammer des Berliner Landgerichts III (16. bis 25. Januar 1911) wurden 18 Personen wegen Aufruhr, Auflauf, Landfriedensbruch, Beleidigung, Bedrohung und Widerstand gegen die Staatsgewalt angeklagt. Karl Liebknecht war einer der Verteidiger. Obwohl es der Verteidigung durch eine ausführliche Beweiserhebung (§ 244 StPO) gelang, das provokatorische Vorgehen der Polizei als wesentliche Ursache der Straßenkämpfe nachzuweisen, wurden acht Angeklagte zu mehrmonatigen Gefängnisstrafen und die Mehrzahl der übrigen zu einem Monat Gefängnis verurteilt. Nur ein Angeklagter wurde freigesprochen.

6 Der folgende Abschnitt bis „im Wesentlichen gerechtfertigt hat“ fehlt in den „Reden und Schriften“

7 Am 18. Januar 1894 ging ein großes Schutzmannsaufgebot mit blanker Waffe und Gummischläuchen gegen die Teilnehmer einer geplanten, aber abgesagten großen Arbeitslosenversammlung in der Berliner Brauerei Friedrichshain vor. Als sozialdemokratische und gewisse bürgerliche Berliner Zeitungen über die „Schlacht am Friedrichshain" berichteten, wurden neun Redakteure am 8. und 9. Mai 1894 in einem Prozess, unter Vorsitz des Landgerichtsdirektors Brausewetter, wegen „verleumderischer Beleidigung des Chefs und der Beamten des königlichen Polizeipräsidiums" zu hohen Gefängnisstrafen verurteilt.

8 In einer Erweiterung der Anklageschrift des Staatsanwalts gegen die bei den Moabiter Unruhen verhafteten Arbeiter wurde die Verantwortung für die Provokation der Polizei, die mit Waffengewalt gegen streikende Arbeiter vorging, der Sozialdemokratie zugeschoben. Die Red.

9 Bei der Rechtsbelehrung der Geschworenen im Moabiter Schwurgerichtsprozess über die Möglichkeit der Notwehr. Die Red.

10 Während der Moabiter Unruhen im Herbst 1910 wurde der Arbeiter Herrmann am 27. September 1910 von zwei Polizisten durch Säbelhiebe so schwer verletzt, dass er am 3. Oktober 1910 starb. Die Arbeitermörder wurden durch den Staatsapparat gedeckt, so dass es der Polizei trotz angeblich jahrelanger Ermittlungen nicht gelang, sie aufzuspüren und zu bestrafen. Die Klage der Witwe des ermordeten Arbeiters auf Schadenersatz wurde jahrelang verschleppt.

11 „Die Beweisaufnahme ist auf die sämtlichen vorgeladenen Zeugen und Sachverständigen sowie auf die anderen herbeigeschafften Beweismittel zu erstrecken. Von der Erhebung einzelner Beweise kann jedoch abgesehen werden, wenn die Staatsanwaltschaft und der Angeklagte hiermit einverstanden sind."

12Die folgende Passage bis „zur preußischen Justiz zu nuancieren.“ fehlt in den „Reden und Schriften“

13 Die persönliche Bemerkung fehlt in den „Reden und Schriften“

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