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Karl Liebknecht 19110626 Nochmals zur Berliner Kommunalpolitik

Karl Liebknecht: Nochmals zur Berliner Kommunalpolitik

Rede im preußischen Abgeordnetenhaus zur erneuten Beratung des Zweckverbandsgesetzes von Groß-Berlin

[Nach Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Hauses der Abgeordneten, 21. Legislaturperiode, IV. Session 1911, 6. Bd., Berlin 1911, Sp. 7906-7909 und nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 4, S. 436-442]

Meine Herren, was hier geleistet worden ist, ist wieder ein echt preußisches Meisterstück.

(Lachen rechts.)

Was aus diesem Hause gegangen ist, war so miserabel, dass man kaum mehr das Wort schlecht darauf anwenden konnte. Es wäre verfehlt zu sagen, dass das Gesetz aus dem Herrenhause verschlechtert herausgekommen sei; man muss schon sagen: Es ist noch mehr vermiserabelt zurückgekommen, als es aus diesem Haus hinübergegangen ist.

(Lachen rechts.)

Meine Herren, bei gewissen Parteien dieses Hauses, die von diesem Hause keine sehr gute Meinung haben – Sie werden ahnen, wen ich meine –, wurde damit gerechnet, dass das Herrenhaus vielleicht bei Verfolgung verständiger und allgemein nützlicher Gesichtspunkte immerhin doch vielleicht weitergehen würde als dieses Haus. Man hatte fest daran gedacht, von dem Herrenhause eine Verbesserung zu erwarten, weil es in der Tat dann und wann vorgekommen ist, dass das Herrenhaus gegenüber den Ansprüchen unserer modernen Zeit sich doch noch verständiger gezeigt hat als dieses Haus. Ich erinnere nur an die Feuerbestattungsvorlage.

Meine Herren, natürlich ist es kein Wunder, dass die gute Meinung, die wir von dem Herrenhause hatten, getäuscht worden ist; das ist im Grunde bei seiner Zusammensetzung ganz natürlich. Meine Herren, für uns Sozialdemokraten ist es von großem Nutzen, dass das Herrenhaus durch seine Beschlussfassung zum Zweckverbandsgesetz sich von Neuem vor aller Öffentlichkeit als eine Körperschaft gezeigt hat, die in der Tat nicht mehr wert ist, als dass sie so rasch als möglich zugrunde geht. Eine Körperschaft, die einer verständigen Entwicklung, der bereits die schwersten Hemmschuhe auferlegt sind, noch weitere Steine in den Weg rollt und damit ein Vorankommen Preußens fast zu einem Ding der Unmöglichkeit macht, verdient in der Tat nur eben, dass sie zugrunde geht.

Meine Herren, die hauptsächlichen Verschlechterungen des Herrenhauses sind schon von den Vorrednern bezeichnet worden. Uns liegen besonders drei Punkte am Herzen. Wir haben in der Kommission durch den Mund unseres Genossen Hirsch beantragt, in diesen Punkten die frühere Fassung wiederherzustellen. Einmal handelt es sich um den Paragraphen 36, der den Sachverständigenbeirat betrifft, der vom Herrenhause gestrichen worden ist. Sodann wünschten wir und wünschen heute noch, dass die frühere Bestimmung der Vorlage über die Einbeziehung von Osthavelland aufrechterhalten bleibt. Schließlich kommt Paragraph 1 Absatz 1 Ziffer 4 in Betracht, der den Erwerb von Flächen für den Bau von Kleinwohnungen regelt.

Meine Herren, wenn der Abgeordnete von Kries gemeint hat, dass auch bei der Fassung des Herrenhauses die Befugnis zur Berufung eines Sachverständigenbeirats bestehe, so dass durch Streichung des Paragraphen 36 eine Änderung des vom Abgeordnetenhause gewünschten Zustandes nicht eintrete, so dürfte er irren. Meine Herren, nachdem einmal der Paragraph 36 vom Herrenhause ausdrücklich gestrichen worden ist, wird man nicht mehr so weit gehen können.

Was die Streichung des Absatz 4 des Paragraphen 1 anlangt, so zeigt sich in der Haltung des Herrenhauses eine außerordentliche Kurzsichtigkeit. Sie wissen, dass wir auch die örtliche Regelung der Ausdehnung des Zweckverbandsgebietes, wie sie in den Beschlüssen dieses Hauses schließlich getroffen war, nicht für ausreichend, nicht für großzügig und weitgehend genug hielten. Es muss bei der Schaffung eines derartigen Gesetzes, das weit in die Zukunft hinaus blickt, natürlich auch in Bezug auf die örtlichen Kreise, deren Hineinziehung sofort beschlossen oder für die Zukunft in Aussicht genommen wird, ein möglichst weiter Spielraum gegeben werden. Indem nun das Herrenhaus den Absatz 4 gestrichen hat, hat es die Ausdehnung des Zweckverbandes nach einer ganz bestimmten Richtung, nach dem Nordwesten und Westen hin, über Gebühr und über alles verständige Maß hinaus beschränkt, so dass wir diese Beschlussfassung des Herrenhauses nur als außerordentlich bedauernswert, durchaus reaktionär und kurzsichtig bezeichnen können. Meine Herren, die schlimmste Verschlimmerung aber, die vom Herrenhause vorgenommen worden ist, ist die Streichung der Ziffer 4 des Paragraphen 1, Absatz 1, der Bestimmung, die die Erwerbung von Flächen zum Bau von Kleinwohnungen zur Kompetenz des Zweckverbandes gesetzt hat. Dieses war die einzige Bestimmung, die ein klein bisschen mit sozialem Öle gesalbt gewesen war, die in dem ganzen Gesetz vorhanden war, die einzige Bestimmung, die ein klein wenig versöhnlich wirkte gegenüber den vielen außerordentlich ungünstigen und schädlichen Bestimmungen, die von uns bei den früheren Lesungen in diesem Hause bereits gekennzeichnet sind. Und gerade diese Bestimmung nun wird vom Herrenhause gestrichen!

Meine Herren, es ist nicht gestrichen worden die Ziffer 3, die von der Erhaltung größerer Freiflächen handelt: von Wald, Park, Wiesen, Schmuck- und Sportplätzen. Ich verkenne nicht, dass diese Ziffer 3 auch Bedeutung hat für die minderbemittelten Schichten der Bevölkerung – wenigstens haben kann; aber diese Ziffer 3 charakterisiert sich wesentlich dadurch, dass sie auch im Interesse der besser situierten Schichten der Bevölkerung getroffen ist und ganz nach Willkür der Gemeindeorgane, in diesem Falle der Verbandsorgane mehr oder minder, ausschließlich im Interesse der besser situierten Schichten der Bevölkerung zur Ausführung gelangen kann, während Ziffer 4 im Gegensatz dazu sich ausdrücklich auf die kleinen Leute, auf die ärmere Bevölkerung bezieht, während die Ziffer 4 ihrer ganzen Formulierung nach eine sozialpolitische Maßnahme zur Hebung der Wohnungsnot der ärmeren Schichten der Bevölkerung sein soll. Dass gerade diese ihrem ganzen Wesen und ihrer Formulierung nach sozialpolitische Maßnahme nun vom Herrenhause gestrichen worden ist, kann gar nicht genug in die Öffentlichkeit hinausgerufen werden zur Brandmarkung dieses Oberhauses, unter dem wir in Preußen leiden.

(„Oho!" rechts. – „Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, ich darf wohl die Überzeugung aussprechen, dass, wenn sich dieses Haus seiner sozialen Pflichten auch nur im Geringsten bewusst wäre, es schon allein die Streichung der Ziffer 4 des Paragraphen 1 für hinreichend halten würde, um jetzt nicht leichthin so zu beschließen, wie gegenwärtig beabsichtigt. Meine Herren, ist es nicht an und für sich schon im höchsten Maße bedauernswert, dass uns heute bei der Beschlussfassung über dieses ungemein wichtige Gesetz, das weit über drei Millionen Menschen betrifft, nicht einmal ein gedruckter Bericht vorliegt?

(„Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, das Gesetz ist doch wahrhaftig eines der wichtigsten, die in der letzten Zeit in diesem Hause gemacht worden sind, und ohne gedruckten Bericht sollen wir uns aus den mündlichen Mitteilungen des Herrn Berichterstatters, die unter dem Lärm des Hauses zum großen Teil untergingen, einen Vers daraus machen, ob sich die Kommission mit Recht oder Unrecht mit den Beschlüssen des Herrenhauses abgefunden hat!

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Im Übrigen verstehen wir allerdings gar wohl, dass man in dieser Weise verfahren will. In diesem Durchpeitschen des Gesetzes kommt die gleiche Tendenz zum Ausdruck, die auch in dem kleinen Zwischenspiel zum Ausdruck kam, das wir gerade vorhin hier erlebt haben, in der Diskussion zwischen dem Herrn Abgeordneten von Heydebrand und der Lasa und dem Herrn Abgeordneten Fischbeck, in dem Versuch der Rechten dieses Hauses, diese Zwangsverbandsgesetze vor dem Eisenbahnanleihegesetz zur Beratung zu bringen. Meine Herren, ist es nicht eine absonderliche Erscheinung, die zunächst verblüffend wirkt, dass dieses Gesetz, das angeblich dazu bestimmt ist, Groß-Berlin aus einer ungeheuren Misere heraus zu helfen, das also direkt für die Interessen Berlins bestimmt zu sein vorgibt, hier unausgesetzt unter dem schärfsten Widerstande von Berlin steht und von der Rechten des Hauses, der man doch ganz gewiss keine besondere Berlin-Freundlichkeit nachsagen kann, vorangetrieben wird? Schon durch diese Gruppierung der Parteien, durch die Haltung der Rechten, durch das Zwischenspiel des Herrn von Heydebrand mit dem Abgeordneten Fischbeck, kennzeichnet sich dieses Gesetz, und zwar in dem jetzigen Entwurf noch mehr als vorher, als ein reaktionäres Machwerk, das die schärfste Verurteilung verdient.

(Lachen rechts.)

Meine Herren, es ist von dem Herrn Abgeordneten Dr. von Kries, dem Herrn Berichterstatter, in Übereinstimmung mit der Kommission vorgeschlagen worden, dass sich das Haus nunmehr ohne weiteres den Beschlüssen des Herrenhauses fügen solle. Dabei hat der Herr Abgeordnete Dr. von Kries selbst, wie ich gern feststellen will, dieselben Punkte, die ich als wesentliche Verschlechterungen bezeichnet habe, auch seinerseits als Verschlechterungen bezeichnet.

Ja, meine Herren, womit wird nun motiviert, dass wir trotz alledem, obgleich die ganze Kommission der Überzeugung war, dass das Gesetz wesentlich verschlechtert sei, uns dennoch dem Ansinnen des Herrenhauses fügen sollen? Mit Rücksicht auf die „Geschäftslage des Hauses", mit Rücksicht auf den bevorstehenden Sessionsschluss, wodurch das Zustandekommen des ganzen Gesetzes gefährdet würde. Ja, meine Herren, was sind das für Argumente! Wenn es sich um ein wirklich wichtiges Gesetz handelt, dann gibt es derartige Rücksichten überhaupt nicht. Meine Herren, stehen wir denn bereits vor dem Jüngsten Tag, dass wir nicht in der Lage wären, noch weitere Zeit aufzuwenden, um gesetzgeberische Arbeit zu leisten? Warum? Was hindert uns hier, noch eine Woche, zwei Wochen, drei Wochen zu sitzen?

(Heiterkeit rechts.)

Meine Herren, wenn es das Interesse der Allgemeinheit fordert, dann, meine ich, darf überhaupt nicht danach gefragt werden.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Die Geschäftslage des Hauses – das ist so eine Redensart, die angewandt wird, wenn man unbequeme Sachen beseitigen will.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Wenn es sich darum handeln würde, für die Herren von der Rechten irgendeine gesetzgeberische Aktion durchzuführen, irgendein Zolltarifgesetz oder dergleichen, da kennen die Herren keine „Geschäftslage des Hauses", da wird im Notfall den ganzen Sommer hindurch beraten; aber wenn es sich um ein Gesetz handelt wie hier, wo die Herren das Bestreben haben, mit aller Geschwindigkeit Groß-Berlin über den Löffel zu balbieren, mit einer Zwangsjacke zu versehen, da können die Herren nicht rasch genug arbeiten, da kommt plötzlich die „Geschäftslage des Hauses". Ich halte das Argument aus der Geschäftslage des Hauses offen gestanden für ein Argument aus der Abneigung gegen Pflichterfüllung;

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten. Lachen rechts.)

denn es gibt keine Geschäftslage des Hauses, die uns hindern könnte, so lange zu tagen, wie es nötig ist im Interesse der Allgemeinheit.

Und, meine Herren, was hindert uns, diese Vorlage hier nach unserem Geschmack zu gestalten? Was hindert uns, dem Herrenhause unseren Willen aufzuzwingen? Wenn das Herrenhaus sieht, dass es nur einfach zu beschließen und die Sache an uns zurückzuschieben braucht und wir uns dann ohne weiteres fügen – ja, dann haben wir jede Möglichkeit aus der Hand gegeben, dem Herrenhaus gegenüber unseren Willen durchzudrücken; damit hat das Herrenhaus den allerschönsten Präzedenzfall. Es verschiebt, was ihm passt, auf den Schluss der Session; dann tritt das Argument von der „Geschäftslage des Hauses" auf, das ich eben genügend charakterisiert habe, dann ist das Haus nicht mehr in der Lage, sich gegen reaktionäre Verschlechterungen zu wehren, und nach seiner heutigen Logik genötigt, jede Verschlechterung des Herrenhauses mit Kusshand entgegenzunehmen. Das ist das Unerträgliche an der Stellungnahme der Kommission, die meiner Ansicht nach verdient, ins rechte Licht gerückt zu werden.

Wenn Ihnen nicht darum zu tun ist, Groß-Berlin durch dieses Gesetz zu schädigen, wenn Ihnen nicht darum zu tun ist, den letzten Schein eines sozialpolitischen Interesses, der in dem früheren Entwurf noch vorhanden war, durch dieses Gesetz zu beseitigen und damit die Volksfeindlichkeit dieses Gesetzes noch schärfer zu demonstrieren, dann ist es Ihre Pflicht und Schuldigkeit, die früheren Beschlüsse dieses Hauses aufrechtzuerhalten und das Herrenhaus nach der erneuten Stellungnahme dieses Hauses vor die Alternative zu stellen, ob es gewillt ist, das Gesetz scheitern zu lassen, oder nicht. Darüber darf Ihnen im Übrigen bei der übereinstimmenden Stellungnahme der Linken dieses Hauses und Groß-Berlins zu diesem Gesetzentwurf kein Zweifel aufkommen: Wenn es scheitern sollte – Groß-Berlin würde diesem jämmerlichen gesetzgeberischen Machwerk keine Träne nachweinen.

(„Bravo!" bei den Sozialdemokraten.)

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