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Karl Liebknecht 19110206 Weiteres zum Justizetat

Karl Liebknecht: Weiteres zum Justizetat

Reden im preußischen Abgeordnetenhaus in der zweiten Lesung des Justizetats

[Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Hauses der Abgeordneten, 21. Legislaturperiode, IV. Session 1911, 1. Bd., Berlin 1911, Sp. 1408 f. [ [Kapitel 74, Titel 8], 1409 f. und 1416 [ [Kapitel 74, Titel 9] 1417 [ [Kapitel 74, Titel 10], 1424/1425 [Kapitel 75], 1428-1430 [Kapitel 77] und nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 4, S. 89-95]

I1

Vizepräsident Dr. Krause (Königsberg): (…) Ich eröffne die Besprechung über Tit. 8. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Liebknecht.

Dr. Liebknecht, Abgeordneter (Soz.-Dem.): Meine Herren, ich habe am vergangenen Freitag den Fall vorgebracht, in dem ein Gerichtsvollzieher in Kurhessen, in Eschwege, strafversetzt sein soll, der nichts anderes getan haben soll, als den Pferdemist von der an seinem Garten vorüber führenden Straße weg in seinen Garten gebracht zu haben.

(Abgeordneter Hoffmann: „Hört, hört!“)

Er soll von Kollegen wegen dieser „nicht standesgemäßen" Arbeit angezeigt worden sein, und das Ergebnis soll eine Strafversetzung gewesen sein, herbeigeführt durch den Herrn Oberlandesgerichtspräsidenten v. Hassel in Kassel.

Meine Herren, ich meine, dass dieser Fall so erstaunlich ist und so sehr geeignet, die Art des in unserer Justizverwaltung und Bürokratie herrschenden Standesbewusstseins in aller Öffentlichkeit in die Lächerlichkeit zu ziehen, dass der Herr Justizminister Veranlassung nehmen sollte, sich in irgendeiner Form zu diesem Falle zu äußern.

Vizepräsident Dr. Krause (Königsberg): Das Wort wird nicht weiter verlangt;

(Abgeordneter Dr. Liebknecht: „hört, hört!“ – Abgeordneter Hoffmann: „der Minister schweigt!“)

die Besprechung ist geschlossen. Ich stelle fest, dass der Tit. 8 vom Hause bewilligt ist.

[II]2

Ich eröffne die Besprechung über Tit. 9: Das Wort Hat der Abgeordnete Dr. Liebknecht.

Dr. Liebknecht, Abgeordneter (Soz.-Dem.): Meine Herren, in unserem Gefängniswesen, das ich hier nicht grundsätzlich erörtern will, bestehen einige Mängel, die ich hier in aller Kürze hervorheben möchte.

Zunächst einmal die Untersuchungshaft und die Untersuchungsgefängnisse.

Es ist unzweifelhaft eine Ungesetzlichkeit, wenn die Untersuchungshaft in der Weise ausgeführt wird, wie ich es hier am vergangenen Freitag dargelegt habe; es ist eine Ungesetzlichkeit, es widerspricht der Strafprozessordnung, wenn der Untersuchungshäftling in seiner Beschäftigung in einer irgend wesentlichen Weise beeinträchtigt wird, wenn ihm insbesondere Schwierigkeiten gemacht werden, falls er Bücher ins Gefängnis nehmen will, oder wenn ihm sonst bei seiner Lektüre, beim Briefschreiben u. dgl. Vorschriften gemacht werden. Hier müsste unter allen Umständen Remedur eintreten, und ich meine, dass der Herr Justizminister sich bei diesem Titel zu der Frage zu äußern Veranlassung hatte, wie er die vielfach bestebende Übung der Vollstreckung der Untersuchungshaft in Einklang mit den Bestimmungen der Strafprozessordnung bringen will, wie er insbesondere auch die für die Untersuchungshäftlinge bestehenden und angewandten Disziplinarvorschriften als mit der Strafprozessordnung verträglich darlegen will.

Meine Herren, ich habe dann eine zweite Anschuldigung ähnlicher Art gegen unsere Justizverwaltung zu erheben, dass Sie nämlich die Vollstreckung der Haft nicht den Vorschriften des Gesetzes entsprechend vollzieht. Wir haben hier verschiedene Freiheitsstrafen: außer Zuchtbaus, Gefängnis und Festungshaft noch die bloße Haft. Was es mit dieser Haft auf sich hat, geht aus der Legaldefinition der Haft deutlich genug hervor. Während über die Festungsstrafe ausdrücklich erklärt wird:

Die Strafe der Festungshaft besteht in Freiheitsentziehung mit Beaufsichtigung der Beschäftigung und Lebensweise des Gefangenen,“

ist über die Haft nur gesagt:

Die Strafe der Haft besteht in einfacher Freiheitsentziehung.“

(Abgeordneter Hoffmann: „Hört, hört!“)

Durch dieses argumentum e contrario, um mich juristisch auszudrücken, ist also bewiesen, dass die Haft nicht mit irgend einer Beaufsichtigung der Beschäftigung und Lebensweise des Gefangenen verbunden sein darf, dass vielmehr für die Lebensweise und Beaufsichtigung der Häftlinge nur diejenigen Konsequenzen zulässig sind, die sich eben aus der Tatsache der einfachen Freiheitsentziehung ergeben.

(„Sehr richtig!“ bei den Sozialdemokraten)

Wenn wir nun sehen, wie die Festungshaft im allgemeinen vollzogen wird, welche Lebensweise da dem Gefangenen gestattet wird, wie ihm da die vollste Freiheit in seiner Beköstigung gegeben wird, wie er rauchen darf, wie er Alkohol zu sich nehmen darf, wenn natürlich auch Exzesse vermieden werden müssen; wenn wir sehen, in welchem Umfange ihm auch die freie Bewegung innerhalb des Festungsrayons der Regel nach gestattet wird, wie er volle Freiheit hat, Licht zu brennen und zu arbeiten, so lange er will, Bücher und Zeitungen nach seinem Belieben zu haben, kurzum, wie er in der Tat nur außerordentlich vorsichtig in seiner Freiheit beschränkt wird, – dann ist es doch klar, dass bei Häftlingen im Sinne des § 18 unseres Strafgesetzbuches jedenfalls ein höheres Maß von Freiheitsbeschränkung schlechterdings unzulässig ist; denn die Haft ist nach dem Gesetz das Mindere im Vergleich zur Festungshaft.

Sie wird nun aber die Haft de facto der Regel nach vollstreckt? Während der § 17 Abs. 4 ausdrücklich vorschreibt, dass die Festungshaft in Festungen oder anderen geeigneten Gebäuden zu vollstrecken ist, sagt das Strafgesetzbuch nichts über die Baulichkeiten, in denen die Haft zu vollstrecken ist. Daraus darf aber naturgemäß nicht gefolgert werden, dass nunmehr die Justizverwaltung die Befugnis hat, sich die Gebäude ohne Rücksicht auf das Wesen der Haft auszusuchen. Wir erleben es nun aber täglich, dass die einfache Haft in den gewöhnlichen Gefängnissen vollstreckt wird. Ich habe erst vor kurzem den Fall des Vorwärtsredakteurs Barth zu behandeln gehabt, der einen Monat Haft abzusitzen hatte in dem Strafgefängnis Tegel, genau so, als ob er eben eine Gefängnisstrafe zu verbüßen gehabt hätte.

(„Hört, hört!“ bei den Sozialdemokraten)

Meine Herren, es ist ja zweifellos durchaus unzulässig, in dieser Weise zu verfahren. Es ist unzulässig, dem bloßen Häftling irgendwelche Beschränkungen in Bezug auf das Leben, in Bezug auf seine Beschäftigung usw. aufzubürden. Es ist insbesondere auch unzulässig, dass irgendein Zwang in Bezug auf Arbeit ausgeübt wird; es ist unzulässig, einen Zwang in Bezug auf die Kleidung, einen Zwang in Bezug auf die Beköstigung auszuüben.

(„Sehr wahr!“ bei den Sozialdemokraten)

Die Selbstbeköstigung ist ohne Weiteres etwas Selbstverständliches für jeden Häftling; darüber kann ein Wort gar nicht verloren werden.

Meine Herren, es ergibt sich aus dem Charakter der einfachen Haft im Sinne des § 18 die Konsequenz, da wir in der Tat in unseren gewöhnlichen, zur Verbüßung der Gefängnishaft bestimmten Gebäuden geeignete Räume zur Verbüßung einer solchen Haft nicht haben mögen, worüber ich nicht diskutieren will, dass dann eben einfach, damit den Bestimmungen des Strafgesetzes Genüge geschehen kamt und die Strafvollstreckung nicht dem Gesetz widerspricht, Besondere Gebäulichkeiten, die zur Vollstreckung dieser ganz besonderen Freiheitstrafenart geeignet sind, in irgendeiner Weise beschafft werden. Man würde sich doch wohl schön hüten, irgendeinen Festungsgefangenen in ein Gefängnis zu bringen.

(„Sehr wahr!“ Bei den Sozialdemokraten)

Und doch würde man, wenn man das täte, damit noch viel eher im Einklang mit dem Gesetze bleiben, als wenn man einen bloßen Häftling in das Strafgefängnis bringt.

(„Sehr wahr!“ Bei den Sozialdemokraten)

Dass man dafür allgemein keine Empfindung hat, ist mir unbegreiflich. Sir müssen unsere Gesetze in dieser Beziehung wahrlich doch so vorsichtig ausführen, Wie es irgend möglich ist, und besonders in Fällen, Wo der Wortlaut des Gesetzes den Sinn des Gesetzes bereits so klarstellt, wie in dem vorliegenden Falle.

III3

Präsident v. Kröcher: Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Liebknecht.

Dr. Liebknecht, Abgeordneter (Soz.-Dem.): Meine Herren, ich bin durch manche der Erklärungen des Herrn Vertreters des Ministeriums befriedigt. Ich glaube aber doch, das Hauptgewicht nicht auf die mir allerdings durchaus bekannt gewesenen Bestimmungen der Gefängnisordnung, sondern darauf legen zu sollen, dass diese Bestimmungen überall durchgeführt werden, und dass vor allen Dingen – das ist das Entscheidende – über diese Bestimmungen und die besonderen Rechte und Freiheiten, die den Häftlingen in Untersuchungs- und in anderer Haft zur Seite stehen, Aufklärung und Belehrung gegeben wird. Ich kann aus meiner Praxis berichten, dass die Leute meistens keine Ahnung davon haben, wenn sie nicht darauf hingewiesen werden. Ich halte es daher für dringend erforderlich, dass eine Bestimmung getroffen und dass auf ihre Durchführung gesehen wird, nach der die Gefangenen dieser Art von vornherein darauf hinzuweisen sind: Ihr habt hier Selbstbeschäftigung, ihr habt hier vollkommene Freiheit in Bezug auf eure Tätigkeit, ihr habt insbesondere auch Selbstbeköstigung. Wenn das geschähe, wie es ja den Festungsgefangenen gegenüber erfolgt, dann würden die Gefangenen, wie es ja manchen ergangen ist, und wie es auch einem mir politisch sehr nahe stehenden Herrn während der Strafverbüßung ergangen ist, nicht erst zufällig, nachdem sie 4 Wochen lang in Haft gewesen sind, erfahren, dass sie auf die Gefängniskost nicht angewiesen sind, sondern das Recht haben, sich selbst zu beköstigen. Also die Belehrung ist notwendig; jedenfalls wird sie, wenn sie vorgeschrieben sein sollte, nicht überall durchgeführt. Dass dies aber geschieht, ist wichtiger als die schönste Bestimmung in der Gefängnisordnung.

Eine Antwort darauf, wie es mit den Gefängnisärzten steht, habe ich von dem Herrn Vertreter des Ministeriums nicht gehört. Ich bedaure das, da es sich, wie mir scheint, um eine sehr bedeutsame Frage handelt.

Der Herr Vertreter des Ministeriums hat, um meine Angriffe wegen der differentiellen Verhandlung bei Festungs- und einfacher Haft zurückzuweisen, daran erinnert, dass tatsächlich in 2 Gefängnissen auch Festungshaft verbüßt werde. Ja, meine Herren, ich habe das nicht gewusst, wie ich ohne Weiteres anerkenne. Unter diesen Umständen kann ich natürlich meinen Vorwurf in der Formulierung, die ich vorhin gewählt habe, nicht aufrechterhalten. Aber es handelt sich doch hier nur um eine Ausnahme. Wie viele Festungshäftlinge werden dort untergebracht werden! Dann bitte ich auch, mir eine Auskunft darüber zu geben, unter welchen Verhältnissen sie dort leben, ob sie dort in ganz gleichartigen Zellen untergebracht werden, und ob sonst ganz ähnliche Verhältnisse wie bei den Gefängnishäftlingen walten. Das Wesentliche ist und bleibt aber, dass die Festungsgefangenen in der Regel, mit ganz seltenen Ausnahmen, von den Gefängnisgefangenen scharf getrennt werden, während die Haftstrafe, soweit ich orientiert bin, durchgängig in früheren oder fertigen Gefängnisgebäuden verbüßt und damit in einer Weise qualifiziert wird, die dem Gesetze nicht entspricht. Ich kann also meinen Vorwurf in Bezug auf die Art der Vollstreckung der Haft nur durchaus aufrechterhalten.

IV4

Vizepräsident Dr. Krause (Königsberg): (…) Ich eröffne die Besprechung über Tit. 10. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Liebknecht.

Dr. Liebknecht, Abgeordneter (Soz.-Dem.): Meine Herren, hierzu zwi Bemerkungen! Es handelt sich um die Lage der Gerichtsdiener und der Gefangenenaufseher. Es sind mir hier Verschiedene Beschwerden zugegangen, vor allen Dingen zwei, die ich in aller Kürze erörtern will. Einmal wird geklagt – ich bin, wie ich ausdrücklich bemerke, nicht in der Lage, die Berechtigung der Klagen nachzuprüfen , dass die Art der Ferienerteilung insbesondere der Dauer der Ferien in Bezug auf die Voten bei der Staatsanwaltschaft und die Gerichtsdiener bei dem Landgericht und den Amtsgerichten in Berlin setzt verschiedenartig ist. Ich weiß nicht, inwieweit die Verwaltungsbehörde besondere Grunde hat zu dieser differentiellen Behandlung. Ich möchte auf alle Fälle bitten, sich darüber auslassen zu wollen, damit eventuelle Anstände hierin beseitigt oder in ihrem Wesen besser erkannt werden können.

Dann, meine Herren, ein Zweites! Es ist auch dieses Jahr den Gerichtsdienern keine Gratifikation gegeben worden. Nun ist im vergangenen Jahr auf meine diesbezügliche Demonstration vom Ministertisch aus darauf hingewiesen worden, dass meine eigenen Parteigenossen das Gratifikationswesen im Allgemeinen als einen Missstand bezeichnet haben, so dass man meine, mit der Beseitigung der Gratifikationen sozusagen auch einem Wunsch meiner Parteigenossen entsprochen zu haben. Meine Herren, das trifft doch nur in dem Sinne zu, dass Wir die Gratifikationen nicht wünschen, die aus Willkür der Verwaltungsbehörden als besondere Belohnungen gegeben werden. Wenn aber Gratifikationen den Charakter annehmen, dass gewissermaßen ein allgemeiner Anspruch auf sie besteht, dass jeder einzelne Gratifikationen in einer bestimmt vorauszusehenden Höhe bekommt, wie das ja auch in anderen Berufsfremden der Fall ist, dann wird man solche Bedenken gegen die Gratifikationen nicht wohl erheben können, dann bedeuten sie nichts weiter als besondere, zum Gehalt gehörige Zuwendungen, die bei besonderen Gelegenheiten gegeben werden.

Meine Herren, die Gerichtsdiener und auch die Gefängniswärter sind recht ungünstig gestellt. Ich habe die besonderen Schwierigkeiten, in die sie z.B. bei Krankheitsfällen geraten, im vorigen Jahre etwas eingehender zu Schildern mir gestattet. Dass diese Leute, die in der Tat nur bei allergrößter Sorgfalt mit ihren Gehältern auskommen können, es sehr schmerzlich empfinden, wenn ihnen die Weihnachtsgratifikationen nicht zuteil werden, das ist, glaube ich, durchaus begreiflich, und ich möchte deshalb von neuem anregen, dass man doch zu solchen Regelmäßigen und nicht nach Willkür und Gunst zu vergebenden Weihnachtsqualifikationen wieder zurückkehren möge. Man tut damit einer Beamtenkategorie, die ungünstig gestellt ist, etwas Gutes an, was sie sehr wohl gebrauchen kann.

V

[Gegen Gesinnungszwang in den Gefängnissen]

Meine Herren, ich kann dem Herrn Vorredner darin nicht beistimmen, dass er ein solches Gewicht auf den geistlichen Zuspruch in den Gefängnissen legt. Es ist selbstverständlich nicht unsere Ansicht, dass demjenigen, der religiös gesonnen ist, im Gefängnis der Verkehr mit dem Geistlichen entzogen werden soll. Wir legen aber ein starkes Gewicht darauf, dass den im Gefängnis befindlichen Personen, die allein schon durch ihre Lage sich in einer ziemlichen Hilflosigkeit und Abhängigkeit befinden, nicht in irgendeiner Weise geistlicher Zuspruch aufgedrängt wird.

(Abgeordneter Hoffmann: „Sehr wahr!")

Das geschieht heute leider in sehr starkem Maße, und das gibt uns Veranlassung, unsere Stimme dagegen zu erheben. Meine Herren, es ist ja bekannt, dass in den Gefängniszellen in der Regel dem Gefangenen nur eine Literatur zur Verfügung steht, die sich durchaus einseitig mit religiösen Angelegenheiten befasst. Es ist weiter bekannt, dass auch die Gefängnisbibliotheken der Regel nach nur solche Dinge aufnehmen, die entweder in religiöser Beziehung oder in politischer Beziehung für geeignet erachtet werden, diejenigen Ansichten zu erzeugen, die den herrschenden Parteien und Mächten im preußischen Staate angenehm sind.

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Wir halten es durchaus nicht für angebracht, dass man in dieser durchaus inhumanen, unnoblen, unvornehmen Weise

(Lachen rechts und im Zentrum.)

hilflose Situationen ausnutzt,

(Abgeordneter Hoffmann: „Sehr wahr!")

um den in solcher Situation Befindlichen besondere Gesinnung aufzuzwingen. Dieses Verhalten unserer Gefängnisverwaltung, das ja allerdings im Einklang mit der Art steht, wie andere staatliche Institutionen, die Schule usw., verwaltet werden, bedarf gerade mit Rücksicht auf die hilflose Situation der Gefangenen meiner Ansicht nach die allerschärfste Zurückweisung.

Ich möchte als ganz besonders bedauernswert hier noch betonen, dass der Herr Vertreter des Ministeriums zwar auf die Frage, ob gegenwärtig hinreichend Geistliche in den Gefängnissen beschäftigt sind, in ziemlich liebevoller und eingehender Weise sich eingelassen hat, dass er aber auf die Frage, die mir viel wesentlicher erscheint, auf die Frage der Gefängnisärzte, nicht eingegangen ist.

Ich meine, dass die ärztliche Versorgung unserer Gefängnisse von prinzipalster Wichtigkeit ist, und zwar einmal mit Rücksicht auf die körperliche Gesundheit, dann aber auch mit Rücksicht auf die seelischen Zustände der Gefangenen; denn der Arzt soll gleichzeitig ein guter Freund sein, der Arzt soll sich das Zutrauen derer, die er behandelt, erwerben, weil nur dann seine ärztliche Tätigkeit im vollen Umfange ersprießlich entfaltet werden kann. Die wenig individuelle Art der Behandlung unserer Gefangenen in Bezug auf die ärztliche Versorgung schließt natürlich ein solches Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Gefangenem von vornherein aus, und dadurch gewinnt die Stellung des Arztes zu dem Gefangenen durchaus einen polizeilich kontrollierenden Charakter, was dem Zweck, den die Ärzte im Gefängnis an und für sich verfolgen sollen, die schwersten Hindernisse bereitet. Ich möchte den Herrn Vertreter des Ministeriums bitten, sich nun vielleicht bei diesem Titel zu der ungeheuer wichtigen Frage der gefängnisärztlichen Versorgung äußern zu wollen.

VI

[Für Entschädigung unschuldig Verurteilter]

Ja, meine Herren, die Justiz ist uns ernst genug, um die Beschwerden, die wir haben, auch alle vorzubringen. Das ist unsere Pflicht, und deswegen kommt es uns gar nicht darauf an, ob wir Ihre Heiterkeit erregen, wenn wir zu den verschiedenen Titeln das Wort ergreifen. Es handelt sich hier um einen, wie mir scheint, wichtigen und auch recht aktuellen Titel. Zunächst einmal möchte ich mich dagegen wenden, dass meist die Gerichte in Bezug auf die Aufbürdung der Kosten der Verteidigung und der notwendigen Ausgaben der Angeklagten auf die Staatskasse so außerordentlich fiskalisch vorgehen. Es ist an und für sich im Verhältnis zum Zivilprozess eine recht ungünstige Rechtslage für den Angeklagten, dass er die Kosten seiner Verteidigung selbst zu tragen hat. Im Zivilprozess steht man einer Einzelperson gegenüber, im Strafprozess der Staatsgewalt. Im Zivilprozess handelt es sich der Regel nach um Vermögen oder ähnliche Interessen, im Strafprozess häufig um die Ehre und um die ganze Existenz. Und wenn nun die Zivilpartei das Recht hat, wenn sie im Verfahren obsiegt, ihre notwendigen Ausgaben ohne weiteres erstattet zu bekommen, während im Strafprozess, der viel wichtiger ist, dieses Recht dem Angeklagten durch das Gesetz nicht gegeben ist, so ist das doch an und für sich eine Unbilligkeit, die nicht genug gerügt werden kann.

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Wenn nun aber das Gesetz doch wenigstens die Möglichkeit vorsieht, dass das Gericht nach freiem Ermessen die notwendigen Auslagen, einschließlich der Verteidigungskosten, der Staatskasse auferlegen kann, um damit dem Angeklagten jene eben besprochene Last etwas zu erleichtern, so ist es ein nobile officium, dass das Gericht nach aller Möglichkeit von diesem Recht Gebrauch macht. Leider geschieht das, wie ich bereits erwähnt habe, sehr selten, weil die Gerichte sehr häufig von recht fiskalischen Gesichtspunkten ausgehen. Da muss man häufig die höchst sonderbare Begründung der Ablehnung hören, dass die Rechtslage so einfach gewesen sei, dass es der Hilfe eines Anwalts nicht bedurft hätte. Wenn die Rechtslage so wenig einfach.ist, dass Anklage erhoben wird, dann ist für den Angeklagten wahrlich genug Anlass, sich nach aller Möglichkeit zu verteidigen, besonders, wenn er selbst nicht juristisch geschult ist. Im Zivilprozess ist der Grundsatz ohne weiteres anerkannt, dass die Zuziehung eines Prozessvertreters zu den notwendigen, zweckentsprechenden Auslagen gehört. Da sollte das auch im Strafprozess wahrhaftig als selbstverständlich erachtet werden, als noch selbstverständlicher als im Zivilprozess.

Weiter komme ich auf die Frage der Entschädigung der im Wiederaufnahmeverfahren Freigesprochenen und der Entschädigung für unschuldig verbüßte Untersuchungshaft. Das ist eine Sache, die gerade gegenwärtig im höchsten Maße aktuell ist. Der Prozess Schröder und Genossen5, über den wir uns heute bereits beim Beginn unserer Beratungen ziemlich lebhaft unterhalten haben, hat dazu geführt, dass der Gerichtshof durch Beschluss, entsprechend dem Gesetz, ausgesprochen hat, dass die Staatskasse verpflichtet ist, den früher verurteilten Angeklagten, die jetzt freigesprochen sind, Entschädigung für die von ihnen unschuldig verbüßte Zuchthausstrafe zu gewähren. Wenn dieser Richterspruch mit Freude und mit Anerkennung zu begrüßen ist und wenn wir ganz besonders unsere herzliche Freude darüber aussprechen, dass damit den Angeklagten, die ein bedauernswertes Schicksal gehabt haben, nun in aller Form ihre Unschuld bestätigt worden ist und dass ihnen eine Sühne gegeben werden soll für das Elend, das sie Jahrzehnte hindurch haben ertragen müssen, so wird es nun Pflicht der Justizverwaltung sein, die in erster Linie über die Höhe der zu gewährenden Entschädigung zu befinden hat, sich von genau demselben Geiste leiten zu lassen bei Bemessung der Entschädigung, von dem der Gerichtshof getragen gewesen ist bei dem Beschluss, der prinzipiell das Recht auf Entschädigung anerkannt hat. Es ist da im Paragraphen 2 des Gesetzes gesagt, dass Gegenstand der Entschädigung der durch die Vollstreckung erlittene Vermögensschaden ist. Die Formulierung ist allgemein, sie stammt aus der Zeit vor dem Bürgerlichen Gesetzbuch, aus dem Jahre 1898; dennoch ist der Begriff des Vermögensschadens heute entsprechend dem Bürgerlichen Gesetzbuch auszulegen. Es gehört dazu jede Beeinträchtigung der Vermögenslage, der materiellen Situation der betreffenden Freigesprochenen. Dass hier aber ein weiter Spielraum gelassen ist, dass man hier engherziger oder weitherziger sein kann und dass man insbesondere bei dem Nachweis des Schadens unter Umständen geradezu eine probatio diabolica, einen Teufelsbeweis, zu führen hat, der besonders nach vielen Jahren nicht zu führen sein wird, ist selbstverständlich, und deshalb ist es ganz besonders Sache der Äquität, die, wie mir scheint, der Justizverwaltung hier obliegt, dass sie keine probatio diabolica fordert und so weitherzig wie möglich bei der Bemessung der Entschädigung verfährt. Es ist diese Pflicht hier besonders begründet, weil es sich um eine Strafe handelt, die herbeigeführt ist, wie wir behaupten, durchaus nicht ohne ein Verschulden, wenn auch nicht durch ein absichtliches Verschulden von Organen der Staatsverwaltung.

Wenn ich hierbei noch einmal auf eine Frage zurückkomme, die vorhin zu hitzigen Erörterungen geführt hat, inwiefern damals die Staatsanwaltschaft ihre Schuldigkeit getan hat, so muss ich wiederholt betonen: Wenn wir ernste Anschuldigungen erhoben, jedenfalls einen schweren Verdacht ausgesprochen haben in Bezug auf eine etwaige Kenntnis der Staatsanwaltschaft von den früheren Verfehlungen des Munter, so zeigt ein allerneuestes Vorkommnis, dass ein derartiger Verdacht nicht ohne weiteres zurückgewiesen werden kann. Ich meine jenen Vorgang in dem Wedding-Prozess, von dem ich bereits vor wenigen Tagen zu sprechen mir erlaubt habe, den Vorgang mit dem Zeugen Schreiber. Dieser Zeuge Schreiber war verurteilt mit zahlreichen Strafen und war jetzt wieder belegt mit einer einjährigen Gefängnisstrafe wegen schweren Diebstahls. Da hat die Staatsanwaltschaft des Landgerichts I in ganz überlegter Weise auf Ersuchen des Kriminalkommissars Kuhn ihre Hand dazu geboten, dass die Persönlichkeit dieses Schreiber in der Wedding-Gerichtsverhandlung verschleiert werde, dass nicht hervortrete, dass dieser Mann ein vielfach vorbestrafter Mensch ist, der während der Verhandlung von Ordnungs und Rechts wegen in das Gefängnis hineingehört hätte und aus dem Gefängnis hätte vorgeführt werden müssen. Wenn wir eine solche Erscheinung sehen in der neueren Zeit und an einem Gericht, wo wir im Allgemeinen wirklich nicht allzu viel Veranlassung haben, die einzelnen Staatsanwälte allzu heftig anzugreifen, weil wir im Allgemeinen sagen können, dass die Herren ihres Amtes durchschnittlich in einer ziemlich erträglichen Weise walten, dann lässt das einen Rückschluss darauf zu, wessen unter Umständen die Staatsanwaltschaft fähig ist in politisch so erregten und sozial so gärenden Zeiten wie in den Zeiten des ersten Essener Prozesses.

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Wenn wir hier an die Justizverwaltung das Ersuchen richten, dass sie in Bezug auf die Bemessung der Entschädigung für Schröder und Genossen so liberal wie möglich vorgehen möge, so richten wir gleichzeitig – und auch dazu haben wir alle Veranlassung – ein weiteres Ersuchen an die Justizverwaltung. Es ist von dem Herrn Justizminister in der Budgetkommission bei Beratung des Justizetats darauf hingewiesen worden, dass er eine Abänderung unserer Strafprozessordnung auch dahin anstrebe, dass das Wiederaufnahmeverfahren gegenüber dem jetzigen Zustand erschwert werde. Meine Herren, wie man einen solchen Standpunkt gegenüber dem Prozess Schröder und Genossen aufrechterhalten kann, will mir schlechterdings nicht einleuchten, und ich meine, die Justizverwaltung sollte mit aller Geschwindigkeit diese Auffassung einer Nachprüfung unterziehen.

Wie schwer ist es im Fall Schröder gewesen, eine Wiederaufnahme des Verfahrens herbeizuführen! Mit welchen Schwierigkeiten ist die Erlangung einer Wiederaufnahme des Verfahrens schon gegenwärtig versehen! 15 Jahre haben diese Leute ihren Kampf führen und in fortgesetzten Wiederaufnahmeanträgen versuchen müssen, die eisernen Fesseln des Gesetzes zu durchbrechen. 15 Jahre lang haben sie es vergeblich getan! Sie haben es vermieden, die Gnade des Königs anzurufen, und haben ihre Zuchthausstrafen verbüßt. Selbstverständlich hat das nicht im Geringsten die Achtung beeinträchtigt, die sie vor aller Welt, bei allen anständigen Menschen auch weiterhin genossen haben. Jetzt ist ihnen nun mit Hängen und Würgen die Wiederaufnahme des Verfahrens gelungen, und es ist ihnen in feierlichster und wirksamster Form, insbesondere durch den Beschluss, der die Entschädigung der Staatskasse aufbürdet, attestiert worden, dass sie unschuldig verurteilt waren und unschuldig die Strafe verbüßt haben. Und dennoch diese Schwierigkeit in Bezug auf die Wiederaufnahme des Verfahrens! Obwohl sie in der Lage waren, zahlreiche Zeugen beizubringen, die mit dem Gendarmen Munter in Widerspruch standen, erfolgte fortgesetzt Ablehnung dieser Anträge, und es erfolgte auch ganz zuletzt noch die Ablehnung des Wiederaufnahmeantrages durch das Landgericht Essen. Erst durch das Oberlandesgericht Hamm wurde die Wiederaufnahme angeordnet. Wer an diesem Beispiel nicht so viel lernt, dass bei uns die Wiederaufnahme des Verfahrens nicht einer Erschwerung, sondern einer Erleichterung bedürfe, dem ist nicht zu raten und zu helfen. Meine Herren, sorgen Sie dafür, dass im Falle Schröder und Genossen einer höheren Gerechtigkeit Genüge geschieht, als sie im Allgemeinen sonst im preußischen Staate zu Hause zu sein pflegt.

(„Bravo!" bei den Sozialdemokraten.)

1Fehlt in den „Reden und Schriften“

2Fehlt in den „Reden und Schriften“

3Fehlt in den „Reden und Schriften“

4Fehlt in den „Reden und Schriften“

5 In einer Versammlung des Gewerkvereins christlicher Bergarbeiter am 3. Februar 1895 in Baukau bei Herne wurde der Bergarbeiter Schröder von dem Gendarmen Munter niedergeschlagen. Im Prozess (Juni 1895) gegen den Redakteur Margraf von der „Deutschen Berg- und Hüttenarbeiter-Zeitung", der über diesen Vorfall berichtete, wurden Schröder und seine Zeugen wegen „dringenden Verdachts wissentlichen Meineids" im Gerichtssaal verhaftet und unter Anklage gestellt. In dem am 14. August 1895 beginnenden Meineidsprozess vor dem Essener Schwurgericht wurden Schröder und sechs weitere Angeklagte zu hohen Zuchthausstrafen verurteilt. Wiederholte Versuche des Verteidigers, das Verfahren wieder aufzunehmen, führten erst im März 1910, gestützt auf das gegen Munter im Jahre 1908 angestrengte Disziplinarverfahren, zum Freispruch und zur Zubilligung einer Entschädigung für die unschuldig Bestraften.

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