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Karl Liebknecht 19120430 Gegen öffentliche Missstände und Polizeiwillkür

Karl Liebknecht: Gegen öffentliche Missstände und Polizeiwillkür

Rede im preußischen Abgeordnetenhaus in der zweiten Lesung des Etats des Ministeriums des Innern

[Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Hauses der Abgeordneten, 21. Legislaturperiode, V. Session 1912/13, 4. Bd., Berlin 1912, Sp. 4904-4919. Nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 5, S. 292-314]

Meine Herren, ich hoffe, dass auf dem künftigen Polizeikongress, von dem der Herr Minister soeben gesprochen hat, auch diejenigen Fragen erörtert werden, die ich mir gestatten werde anzuregen.

Zunächst eine Kleinigkeit voraus, unmittelbar anknüpfend an die Debatte, die vorhin über die Wahlkontrolleure gepflogen worden ist. Es ist ein großer Missstand, dass vielfach Legitimationen über die Wählerqualität von den Behörden nicht erteilt werden. Vielfach, der Regel nach sogar, wird in den Wahllokalen eine solche Legitimation, und zwar eine behördliche, nicht eine private, beansprucht.

In einigen Orten ist die Praxis bereits durchgeführt, dass Wählern auf Wunsch Legitimationen erteilt werden; der Regel nach aber werden solche Legitimationen noch versagt. Es ist vielleicht möglich, in der Richtung einzuwirken, dass solche Legitimationen auch auf Wunsch allgemein erteilt werden.

Ein weiterer Punkt, der auf diesem Kongress erörtert werden könnte, wäre die Frage der Wohnungspolizei. In Bezug auf die Wohnungspolizei herrscht, eine große Misere, die nicht nur von der Sozialdemokratie erkannt wird, sondern weit über die Kreise der Sozialdemokratie hinaus in allen einsichtigen, sozialpolitisch geschulten Kreisen.

Ich brauche, wenn ich von Berlin spreche, mich nur zu beziehen auf den Propagandaausschuss für Groß-Berlin, auf die Publikationen dieses Ausschusses und die Versammlungen, die von ihm abgehalten worden sind. Sie wissen, dass zu diesem Ausschuss unter anderem der frühere Staatssekretär Dernburg gehört und dass er Missstände festgestellt hat, die geradezu unerhört sind. An die 600.000 Menschen sind nach den Aufnahmen dieses Propagandaausschusses in Berlin in vollkommen unzureichenden Wohnungen untergebracht.

In den letzten Tagen ist Ihnen von uns die Denkschrift der Berliner Kaufmannskasse überreicht worden über die Wohnungsenquete, die diese Kaufmannskasse von Berlin wie alljährlich so auch in diesem Jahre vorgenommen hat.

Wenn Sie Einzelheiten über die Wohnungsmisere in Berlin kennenlernen wollen, empfehle ich Ihnen weiter die Publikationen des bekannten Hygienikers Professor Th. Weyl und besonders seinen Artikel im „Berliner Tageblatt" vom 25. Februar 1912. Dieser Artikel ist besonders instruktiv, weil er zeigt, wie unsere Polizei ihre Aufgabe in Bezug auf die Wohnungshygiene auffasst.

Es ist dem Herrn auf dem Polizeipräsidium Berlin erklärt worden: „Eine ständige Wohnungsaufsicht gibt es nicht. In den Fällen, in denen das Vorhandensein gesundheitsschädlicher Wohnungen zur amtlichen Kenntnis gelangt, werden die Hauseigentümer vom Polizeipräsidenten auf Grund allgemeiner gesetzlicher Bestimmungen zur Beseitigung der Mängel angehalten. Die Benutzung der Räume wird dauernd oder bis zur Beseitigung der Missstände untersagt." Es wird also von dem Berliner Polizeipräsidium gewartet, bis der einzelne Missstand an das Präsidium herantritt durch Meldung oder Vorkommnisse, vor denen man seine Augen nicht weiter verschließen kann. Das ist meiner Ansicht nach ganz unhaltbar.

Wenn ich vorhin die 600.000 Menschen erwähnt habe, die in Berlin in unzureichenden Wohnungen wohnen, so sind das alles Fälle, in denen eine vernünftige Wohlfahrtspolizei einzugreifen Veranlassung hätte, wenn sie es so genau und peinlich mit ihren Aufgaben nähme, wie es erforderlich wäre.

Wie oft hat aber tatsächlich die Wohnungspolizei in Berlin eingegriffen? Es sind in den Jahren 1902 und 1904 bis 1908 bei der Behörde 3068 Anträge auf Untersuchung eingegangen, und in diesen sechs Jahren insgesamt nur 242 Wohnungen geräumt worden. („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.) In 998 Fällen wurden die Beschwerden durch Beseitigung der Mängel erledigt. Angesichts der Größe der Wohnungsnot, die ich in der einen Zahl der 600.000 zum Ausdruck gebracht habe, ist es doch klar, dass diese Art des Vorgehens der Wohnungspolizei nicht einmal einen Tropfen auf einen heißen Stein bedeutet und dass es eine der wichtigsten und wertvollsten Aufgaben wäre, der sich unsere Polizei unterziehen sollte, hier energisch einzugreifen. Wenn die Polizei zu solchem Zweck Geld haben will, sie kann versichert sein, sie wird die freudige Zustimmung der ganzen Bevölkerung erhalten. („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Eine zweite Frage von gleichfalls ungeheurer allgemeiner Bedeutung ist die Frage des Kinderelends in Groß-Berlin und Umgebung.

Die Enthüllungen der Henriette Arendt1 über diesen Punkt sind vielfach in der Öffentlichkeit sehr kritisch, oftmals sogar gehässig und höhnisch aufgenommen worden, und man hat Henriette Arendt geradezu als eine Person hinzustellen gesucht, die flunkert oder phantasiert. Man hat aus der Tatsache, dass sie in Stuttgart aus ihrer Polizeiassistentenstelle ausgeschieden ist, schließen zu können geglaubt, dass sie nichts tauge und dass auf sie nichts zu geben ist. Es dürfte Ihnen wohl bekannt sein, dass die Schwester Henriette Arendt inzwischen durch die Verwaltung von Stuttgart in glänzender Weise gerechtfertigt worden ist. Und auch ihre Enthüllungen haben sich in wesentlicher Beziehung als richtig herausgestellt.

Vor einiger Zeit ging durch die Presse die Nachricht, dass die Schwester Arendt kriminell verfolgt werde, weil sie irgendwelche Behörden beleidigt habe. Von diesem Prozess, auf den die Schwester Henriette Arendt seit einem halben Jahre wartet, ist in der Zwischenzeit nichts mehr verlautet. Das Verfahren ist also offenbar jetzt unter den Tisch gefallen, und zwar – wie ich glaube, aus einer ziemlich genauen Kenntnis der Sache heraus sagen zu dürfen –, eben weil ihre Behauptungen im Wesentlichen als richtig erwiesen sind.

Dass die Polizei in dem vorliegenden Falle nicht böswillig gehandelt hat, liegt auf der Hand. Der Polizei war vieles von dem, was jetzt enthüllt worden ist, nicht bekannt. Aber daraus, dass es der Polizei nicht bekannt gewesen ist, muss gefolgert werden, dass die Polizei die wichtigsten Aufgaben, die ihr im Interesse der Allgemeinheit obliegen, nicht mit der genügenden Sorgfalt ausübt, dass sie sich allzu viel als politische Polizei betätigt, sich allemal mit Bagatelldingen befasst, während sie ungeheuer wichtige Dinge nicht mit der genügenden Sorgfalt behandelt.

Es handelt sich bei dem Kinderelend einmal um den bekannten Adoptionsschwindel, zweitens um die Engelmacherei und schließlich um die Verkuppelung von Kindern und ihre Ausbeutung zu wirtschaftlichen Zwecken. In allen diesen Beziehungen besteht ein Unwesen in Berlin, das tatsächlich zum Himmel schreit und über das weit hinausgeht, was wir uns in der Phantasie hätten ausmalen können. Wir kommen hier in Gebiete hinein von solcher infernalischen Schauerlichkeit, dass man kaum ein Kapitel des großstädtischen Elends mit diesem Kapitel vergleichen kann.

In Bezug auf den Adoptionsschwindel ist von der Polizei erfreulicherweise seit längerer Zeit energisch eingegriffen worden. Ich kann nur nach Mitteilungen, die mir die Schwester Henriette gemacht hat, sagen, dass ihr die Berliner Polizei verhältnismäßig freundlicher und verständnisvoller entgegengekommen ist als die Polizei der kleineren Orte in der Nähe von Berlin. Sie hat die Hoffnung – ich weiß nicht, inwieweit ihre Hoffnung bewahrheitet werden wird –, dass das Berliner Polizeipräsidium, seitdem es auf diese ernsten Dinge wirklich aufmerksam gemacht worden ist, nunmehr nicht den Spieß umzukehren versucht, weil sie vielleicht in irgendeiner Kleinigkeit zu viel behauptet hat, sondern dass es das Vernünftige tun wird, die Belehrung entgegenzunehmen und daraus die erforderlichen Konsequenzen für seine Tätigkeit im Interesse der Allgemeinheit zu ziehen. Es wäre sehr erwünscht, wenn von dem Regierungstisch eine Auskunft gegeben würde, ob allgemeine Maßregeln, die von der Berliner Polizei, vielleicht sogar vom Ministerium in ganz Preußen, vielleicht in ganz Deutschland – auch eine Sache, die bei der Polizeikonferenz erledigt werden könnte – ergriffen sind, um in umfassender Weise diesen großen schweren Übeln, deren spezielle Schilderung ich hier nicht unternehmen kann, entgegenzutreten.

Meine Herren, ich möchte als Gegenstück hierzu gleich einen Fall erwähnen, der zeigt, wie die Polizei ihre Kräfte verzettelt zu zwecklosen, sinnlosen Dingen, während sie so ungeheuer wichtige Dinge, wie ich sie eben erwähnt habe, in unzureichender Weise ausführt.

Da ist mir aus meiner Praxis – aber vielleicht Ihnen auch aus der Presse – bekannt der Fall des Gastwirts Wagner, der das Wirtshaus „Zum Straußen" in Berlin, Pappelallee 25, besitzt. Diesem Manne wurde monatelang Tag für Tag am Vormittag ein Schutzmann in das Lokal hinein geschickt, und am Abend überwachten zwei Schutzleute das Lokal, und zwar nicht etwa vor der Tür, sondern sie stellten sich in das Lokal hinein. Meine Herren, ein geradezu unglaubliches Verhalten! Und weshalb all das? Nicht weil es sich um ein Hehlernest handelte, das man ausheben wollte, oder um irgendein Kuppelquartier gefährlicher Art, sondern weil Wagner des ihm nicht erlaubten Ausschanks von Schnaps und der Übertretung der Polizeistunde verdächtig war. („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.) Da muss man doch sagen: Tant de bruit pour une omelette. Es ist unglaublich, wie die Polizei so vorgehen kann. Ich bezweifle kaum, dass die formelle Berechtigung für ein solches Vorgehen vor Gericht anerkannt werden würde, aber es geht doch hier wirklich mindestens bis an die äußerste Grenze, die durch unsere allgemeine Judikatur und Verwaltungspraxis der Polizei gezogen ist. Ich bin der Ansicht, dass man dieses Vorgehen der Polizei sogar als gesetzwidrig bezeichnen kann, weil die Polizei noch in anderer Weise diejenigen Ermittlungszwecke, die sie hier verfolgt, erreichen kann, ohne in das Lokal selbst einzudringen.

Nun, meine Herren, eine Angelegenheit, die vor kurzem in der Presse Staub aufgewirbelt hat. Das Verbrecheralbum, sollte nach unser aller Auffassung doch nur dazu da sein, um wirklich schwere Verbrecher zu verewigen, nicht aber, um schon bei Bagatellsachen den Einzelnen aufzunehmen.

Der Herr Minister des Innern und der Herr Polizeipräsident von Berlin haben nun vor kurzem in dieser Beziehung Grundsätze aufgestellt – wenigstens wenn ich den Zeitungsnachrichten trauen darf –, gegen die wir uns doch energisch wehren müssen.

Da ist eine fotografische Aufnahme gemacht worden, und es sind Fingerabdrücke genommen worden von einem Agenten, gegen den das Verfahren wegen Lotterievergehens eingeleitet war. Er soll allerdings wegen Lotterievergehens bereits vorbestraft gewesen sein.

Der Polizeipräsident hat auf die Beschwerde folgendes geantwortet: „Da R. eine strafbare Tätigkeit längere Zeit fortgesetzt hat, ist die Aufnahme seiner Fotografie angeordnet worden, damit sie den geschädigten Personen vorgelegt und dadurch die Identifizierung bewirkt werden kann."

Wenn es sich nur darum handelte, ihn zu fotografieren, damit er leichter identifiziert werden kann, damit die Leute nicht her geschafft werden müssen oder damit er nicht jedem Zeugen gegenübergestellt zu werden braucht, so würde das noch verständlich sein. Aber es handelt sich nicht um eine Fotografie nur zu diesem Zwecke, sondern zum Zwecke der späteren Aufnahme in das Verbrecheralbum. Das ergibt die Antwort, die der Herr Minister in dieser Sache auf die weitere Beschwerde eines Berliner Anwalts gegeben hat. Der Bescheid geht dahin, dass nach Prüfung des Sachverhaltes ein Anlass zum Einschreiten im Aufsichtswege nicht gegeben sei. Die Aufnahme der Fotografie und der Erkennungsmarke sei im kriminalpolizeilichen Interesse geboten und notwendig gewesen. Im Übrigen sei die endgültige Einfügung der Fotografie und der Karte mit den Maßvermerken und den Fingerabdrücken in das dem Publikum in besonderen Fällen zugängliche Album überhaupt noch nicht erfolgt, sie hänge vielmehr, wie üblich, davon ab, dass ein rechtskräftiges, auf Strafe lautendes Urteil vorliegt.

Also, meine Herren, wegen einer Anklage auf Lotterievergehen, einer Sache, die schließlich wer weiß wem unter uns auch einmal passieren könnte, kann man im Berliner Polizeipräsidium bereits in das Verbrecheralbum aufgenommen werden. Das ist auch etwas, was in keiner Weise wird verteidigt werden können, und vielleicht äußert sich der Herr Minister auch einmal zu dieser Frage.

Nun, meine Herren, dürfte Ihnen bekannt sein, dass vor einigen Monaten in der Berliner Presse gewisse Vorgänge viel erörtert worden sind, die sich in der Berliner Sittenpolizei abgespielt haben. Das Berliner Polizeipräsidium ist in diesen Fällen eingeschritten, aber erst monatelang, nachdem ihm bereits das Material unterbreitet gewesen war. Es ist erst zum Einschreiten gekommen, nachdem Herr Schneidt in seiner Zeitung, der „Zeit am Montag", erklärt hatte, er werde in acht Tagen mit Pressepublikationen in dieser Angelegenheit vorgehen. Wenigstens ist in der Presse, soviel ich weiß, unwidersprochen behauptet worden, dass ein Einschreiten vorher nicht erfolgt sei, sondern gerade erst in der Zeit zwischen der Androhung dieser Publikation und der schließlich erfolgten Publikation.

Es handelt sich um Vorgänge recht bedauerlicher Art: Einmal darum, dass die Sittenpolizeibeamten ihre Machtvollkommenheit gegenüber den Prostituierten zu allerhand unsittlichen Zwecken ausgenutzt haben – Dinge, die sich ja leider in der Sittenpolizei gar nicht selten wiederholen –, und es handelt sich um noch viel Schlimmeres: um Enthüllungen darüber, wie die Sittenpolizisten das Wild, die Mädchen, die sie verdächtigen, der Prostitution zu obliegen, zur Strecke zu bringen sich bemühen.

In der „Zeit am Montag" und dann auch in anderen Zeitungen sind Anfang November eine ganze Anzahl von Briefen eines Kriminalbeamten veröffentlicht worden, die sich zum großen Teil an eine Frau W. wenden – der Name ist mir nicht bekannt und ist in der Presse nicht publiziert –, die dem betreffenden Polizeibeamten Vigilantendienste zum Zweck der Feststellung von Prostituierten geleistet hat. Aus diesen Briefen geht nun mit aller Deutlichkeit hervor, wie dieser Sittenpolizeibeamte seinen Ehrgeiz darein setzt, möglichst viele Mädchen zur Strecke zu bringen, weil er offenbar weiß, dass er um so bessere Aussichten auf Beförderung hat, um so besser bei seinen Vorgesetzten angeschrieben ist, je mehr Erfolg er damit hat.

Welche Mittel da angewandt werden, ist geradezu unglaublich. Die verächtlichsten Mittel der Provokation und der Vergewaltigung, kann man sagen, sind der Frau W. in diesen Briefen vorgeschlagen worden. Raffinierte Pläne sind zwischen den beiden ausgeheckt worden, die leider auch zum Teil zur Ausführung gelangt sind. Dabei handelt es sich in den Fällen, von denen ich hier spreche und die publiziert sind, zu einem großen Teil nur um einen Verdacht des Beamten; er hat ein Mädchen einmal mit einem Manne zusammen gesehen und hat daraus den Verdacht geschöpft: Das wird eine Prostituierte sein. In einem der Fälle, die mir vorliegen, schreibt der Mann selbst: „Ich habe sie ja schon einmal erwischt, leider aber war aus dem Mann nichts herauszubekommen." Also es war damals nichts weiter festgestellt, als dass das Mädchen mit einem Manne zusammen gewesen war, und die Ermittlungen sind hinsichtlich einer Prostitution des betreffenden Mädchens geradezu ergebnislos geblieben. Trotz alledem: Der Sittenbeamte hat seinen Verdacht, und nun entwickelt er gemeinschaftlich mit der Frau W. einen Plan, wie er das Mädchen packen kann.

In den Briefen heißt es unter anderem: „Geehrte Frau W.! Ließ sich das nicht machen, dass sie, die Sch., unter Vorspiegelung mit dem betreffenden Herrn nach der Sache zusammen das Haus verließ! Ich würde sie dann gleich festnehmen. Hoffentlich klappt diesmal die Sache … Also bitte, Frau W., stempeln Sie den Herrn sehr gut, dass er nachher auch Farbe bekennt. Dies alles bleibt unter uns; bitte, erzählen Sie niemandem, dass Sie mit mir in schriftlichem Verkehr stehen, was Sie meinerseits auch sicher nicht zu erwarten haben …"

Meine Herren, ich glaube, dass ich das Urteil über diese Vorgänge der Öffentlichkeit überlassen kann.

Es ist kein Zufall, dass derartige Erscheinungen auftreten. Wie bei der Geheimpolizei allgemein, so ist auch bei der Sittenpolizei im Speziellen – sie ist ja im Wesentlichen ein Teil der Geheimpolizei – eine gewaltige Machtvollkommenheit des einzelnen Beamten kaum zu umgehen; bei dieser Organisation, wie wir sie gegenwärtig haben, ist ihre Kontrolle auch gar nicht möglich.

Der Sittenpolizeibeamte wird auch besonders um deswillen leicht zu unlauteren Manipulationen verführt, weil das Publikum, mit dem er zu tun hat, seine Vigilantinnen, sein Zeugenmaterial und auch die Objekte, gegen die er sich richtet, einer Menschenklasse angehören, der man im Allgemeinen wenig Glaubwürdigkeit beizumessen geneigt ist, so dass er viel leichter gewissen unlauteren Trieben zum Opfer fällt, die nach der ganzen Art unserer behördlichen Organisation allzu leicht in dem Beamten erregt werden. Ich meine da speziell das Bestreben, sich durch unanständige und selbst verbrecherische Machenschaften bei den Vorgesetzten lieb Kind zu machen, um befördert zu werden und allenthalben Vorteile zu erzielen.

Meine Herren, in einem Artikel der „Zeit am Montag" ist darauf hingewiesen, dass einer derjenigen Beamten, die durch diese Enthüllungen bloßgestellt sind, kurz vorher in einem Prozess gegen Schneidt unter Eid in Abrede gestellt hatte, jemals mit Prostituierten in unlauteren Beziehungen gestanden zu haben, dass er also einen blanken Meineid geleistet hat. Ich weiß nicht, ob inzwischen gegen ihn eingeschritten ist.

Dass die Berliner Polizei unter Umständen Polizeibeamte, die des Meineids überführt sind, noch bei sich im Dienste behält, dafür habe ich einen recht interessanten Beleg. Es ist in einer Strafsache 140 D 530/09 vom Schöffengericht Berlin-Mitte am 23. November 1909 in einer Polizeistundenübertretungssache gegen einen Gastwirt unter anderem über einen Schutzmann M. – ich will den Namen hier nicht nennen – folgendes gesagt: Er habe sich in schwerwiegende Widersprüche verwickelt. Diese Widersprüche in den Bekundungen seien es aber nicht allein, die den Gerichtshof zu der Überzeugung gebracht hätten, dass der Zeuge wissentlich die Unwahrheit gesagt hat. Unter diesen Umständen müsste angenommen werden, und der Gerichtshof habe dies angenommen, dass der Zeuge M. die Anzeige bezüglich der Beleidigung wider besseres Wissen gemacht hat. Eine tatsächliche Feststellung in dieser Hinsicht konnte also gegen den Angeklagten nicht getroffen werden.

Dann sind – ein ganz seltener Fall – dem Anzeigenden, dem Schutzmann, auch die Kosten des Verfahrens, einschließlich der Verteidigung des Angeklagten, auferlegt worden, und zwar gemäß Paragraph 501 der Strafprozessordnung, der es zulässt, dass bei frivolen Anzeigen der Anzeigende mit den Kosten belegt wird.

Meine Herren, dieser Beamte ist, soweit meine Ermittlungen reichen, noch gegenwärtig im Dienst des Polizeipräsidiums („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.), vielleicht gegenwärtig nicht mehr, ich will es nicht bestimmt behaupten; jedenfalls war er noch sehr lange Zeit nachdem im Dienst des Berliner Polizeipräsidiums, und davon, dass eine Anklage gegen ihn erhoben worden wäre, weiß ich nichts, obwohl das Material doch wahrhaftig ernst genug liegt, um eine Anklage gegen ihn zu erheben.

Meine Herren, wenn der Polizeibeamte etwa einmal ein wenig über die Schnur gehauen hätte in Bezug auf die Botmäßigkeit gegenüber seinen Vorgesetzten, wenn er sich vielleicht einer nicht ganz genehmen politischen Gesinnung schuldig gemacht oder aber sich in solcher Gesinnung betätigt hätte, wäre er mit ungeheurer Geschwindigkeit aus seinem Amte herausgeflogen; aber hier hat die Polizei vorläufig, wie es scheint, noch keinen Anlass gehabt einzuschreiten.

Meine Herren, wenn man von Berlin und seiner Polizei spricht, denkt man an jene immer wiederkehrende Rubrik in den Zeitungen, die da heißt: „Schutz vor Schutzleuten!" Man denkt an die vielfachen Prügeleien der Bürger durch Schutzleute auf den Straßen, vor allen Dingen aber an die vielfältigen Misshandlungen auf den Polizeiwachen, die leider auch in Berlin noch recht häufig sind, so dass vor kurzem in Berlin ein Landgerichtsdirektor auf entsprechende Anträge eines Anwalts erklärt hat: „Ei, dass auf den Wachen geprügelt wird, das wissen wir ja!" („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, es soll nicht meine Aufgabe sein – weil es sich hier um ein Thema handelt, das in den Parlamenten bereits öfter erörtert worden ist –, hier auf Einzelheiten einzugehen. Ich bin bereit, eventuell in dieser Beziehung mit Einzelheiten zu dienen; sie stehen mir zu Gebote.

Meine Herren, hier wäre es doch einmal recht wünschenswert, wenn der Herr Polizeipräsident der Öffentlichkeit mitteilen könnte, dass er einen Erlass an die sämtlichen Schutzleute in Berlin herausgegeben hat, ein Gegenstück zu dem Schießerlass, wonach demjenigen Beamten, der sich im allergeringsten etwa herausnehmen sollte gegenüber Arrestanten oder sonstigen Personen unhöflich vorzugehen oder sie gar zu misshandeln, strengste disziplinarische Ahndung angedroht wird. Ich weiß nicht, vielleicht sind derartige Erlasse bereits herausgegeben. Wenn sie herausgegeben sein sollten, dann würden sie aber sicherlich nicht mit der nötigen Energie durchgeführt oder ihre Durchführung nicht mit der nötigen Sorgfalt kontrolliert worden sein; denn sonst wären diese immer wiederholten Klagen über Misshandlungen auf den Polizeiwachen nicht möglich.

Meine Herren, ich komme zu einem anderen Thema, das ich kürzlich bereits andeutete. Ich habe bei dem Titel Ministergehalt von dem „sozialdemokratischen Mörder" gesprochen. Meine Herren, es ist von dem Herrn Minister des Innern auf meine Angriffe gegen die Polizei in diesem Punkte keine Antwort erteilt worden. Der Herr Minister hat sich damit begnügt, mich wegen meiner Kennzeichnung Russlands anzugreifen – ich brauche diese Kennzeichnung hier ja nicht zu wiederholen – und hat damit gezeigt, dass ihm das gute Verhältnis zu Russland mehr am Herzen liegt als die Ordnung innerhalb seines Ressorts. Wir sind der Ansicht, dass die letztere wichtiger wäre als die erneute Konstatierung, dass Zarismus und preußische Polizeiwirtschaft ein par nobile fratrum sind.

Meine Herren, wenn der Herr Minister des Innern auf meine Behauptung, dass es sich bei den Publikationen über den „sozialdemokratischen Mörder" um Publikationen der Polizei gehandelt hat, eingehen wollte, so würde er sogar die „Deutsche Tageszeitung" auf meiner Seite sehen, die sich vor kurzer Zeit mit aller Energie gegen die Art gewandt hat, wie von unserer Polizei, besonders beim Berliner Polizeipräsidium, mit Pressepublikationen vorgegangen wird.

Wenn ich aber zu meinem Leidwesen eine Erklärung des Herrn Ministers darüber vermissen muss, wie er es rechtfertigen will, dass in leichtfertiger Weise von der Polizei ein, wie sich alsbald herausgestellt hat, ganz unschuldiger Mann sofort als sozialdemokratischer Mörder in der Presse gebrandmarkt worden ist, so fällt mir allerdings eine kleine Episode aus der Geschichte des Herrn Ministers des Innern ein, die mir sein jetziges Verhalten verständlich erscheinen lässt. Es ist Ihnen vielleicht bekannt, dass der Herr Minister des Innern, als er noch in einem anderen Bundesstaat Minister war, sich nicht gescheut hat, einen gänzlich unpolitischen Mord, den bekannten Mord in Klein-Möhlau, der Sozialdemokratie an die Rockschöße zuhängen. („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.) Und auch nach vollkommener Aufklärung des Sachverhalts in der gerichtlichen Verhandlung und nachdem die ganze Presse mit Ausnahme der „Post" usw., das heißt solcher Organe, die es mit der Wahrheit prinzipiell eben nicht genau nehmen, nachdem die ganze Presse, nicht nur die sozialdemokratische, klargelegt hatte, dass die Angriffe des Herrn Ministers unzutreffend seien, dass es sich hier um keinen Mord aus sozialdemokratischen oder überhaupt politischen Motiven gehandelt habe, hat der Herr Minister trotz alledem nicht nur seine Behauptung nicht zurückgenommen, sondern sogar geglaubt, seine Behauptung wiederholen zu müssen, dass es sich um einen sozialdemokratischen Mord aus politischen Motiven handelt.

Ich empfehle Ihnen die Lektüre einer Publikation meines Parteifreundes, des Reichstagsabgeordneten Heinrich Peus, in der Sie die Pressestimmen zu diesem Falle zusammengestellt finden, die Auslassungen von Zeitungen wie zum Beispiel des „Anhaltischen Tageblattes", des „Anhaltischen Generalanzeigers", der „Harzer Zeitung", der „Güstener Bürgerzeitung", der „Sanderslebener Zeitung", des „Leipziger Tageblattes", kurzum von Zeitungen, die mit der Sozialdemokratie absolut nichts zu tun haben, die aber wohl orientiert waren und die sämtlich anerkannt haben: Es liegt hier durchaus nicht der mindeste Anhalt für einen politischen Mord vor. Trotz alledem hat sich der Herr Minister nicht veranlasst gesehen, damals seine Angriffe zurückzunehmen; und so wundert es mich denn auch nicht, wenn er neulich kein Wort des Tadels gefunden hat für die geradezu unerhörte Hetze, die von der Presseabteilung der Polizei getrieben worden ist gegen einen gänzlich schuldlosen Mann.

In der „Deutschen Tageszeitung" vom 28. April – also vorgestern – ist unter der Überschrift „Revolverschießerei" eine längere Auseinandersetzung über die Stellung der Berliner Bevölkerung gegenüber der Berliner Polizei erschienen. Da heißt es:

Leider kommt es immer wieder vor, dass sich das Publikum auf die Seite der Revolverhelden stellt, anstatt den Schutzleuten kräftigen Beistand zu leisten. Die Hilfe, die das Publikum den Verbrechern so zuteil werden lässt, hat das Pariser Apachentum groß gezogen, das der Schrecken der Seinestadt geworden ist. Das sollte man bei uns recht bedenken und endlich mal den törichten Blaukoller ablegen."

Bis auf die Bemerkung, dass das Pariser Apachentum durch die Hilfe des Publikums großgezogen sei, ist diese Notiz durchaus zutreffend. Es besteht das denkbar ungünstigste Verhältnis zwischen der Berliner Polizei und der Berliner Bevölkerung. Woraus erklärt sich dies aber, meine Herren? Es erklärt sich keineswegs daraus, dass die einzelnen Polizeibeamten böse Menschen seien; das sind sie nicht. Es sind außerordentlich brave Leute darunter, und bei weitem die Mehrzahl der Berliner Polizeibeamten geben durchaus keinen Anlass zu Einwendungen. Wenn sie Anlass zur Kritik geben, so, weil sie gar oft – wie mir wiederholt Polizeibeamte klagend mitgeteilt haben – wider ihren Willen genötigt sind, die Anweisungen und Befehle ihrer Vorgesetzten auszuführen; sie können gar nicht anders. Es heißt hier in der Tat: Wes Brot ich esse, des Lied ich singe.

Der Gegensatz zwischen Polizei und Publikum in Berlin ist natürlich mehr und mehr verstärkt worden durch gewisse Vorkommnisse in den letzten Jahren, durch die Moabiter Vorgänge2 und dann durch die Erlasse des Herrn Polizeipräsidenten von Jagow. („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.) Wenn die Berliner Polizeibeamten mit ihren braun gegürteten Revolvern auf den Straßen herumlaufen, dann empfindet das die Berliner Bevölkerung ganz naturgemäß als eine Bedrohung (Lachen rechts.), und die Möglichkeit, ein einigermaßen ersprießliches Verhältnis zwischen der Polizei und dem Publikum in Berlin herbeizuführen, ist ausgeschlossen, solange nicht die Polizei sich gründlich ändert in der ganzen Art ihrer Organisation („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.), in der ganzen Art ihrer Auffassung von ihren Aufgaben gegenüber dem Publikum.

Die Polizei ist bei uns leider immer noch der Auffassung, als ob das Publikum ihretwegen da sei, nicht aber – als eine Wohlfahrtseinrichtung – sie des Publikums wegen, und systematisch werden die Schutzleute, oftmals durchaus gegen ihre innere Überzeugung, zu politischen Zwecken missbraucht.

Ich habe vorhin bereits erwähnt, dass mir wiederholt von Polizeibeamten geklagt worden ist, wie ungern sie die politischen Schikanen ausführen, die ihnen von oben befohlen werden. Meine Herren, Sie können versichert sein, dass in dem Gros der Berliner Schutzmannschaft in dieser Beziehung eine Stimmung herrscht, die sicherlich keine Veranlassung gibt, mit allzu großem Sicherheitsgefühl auf diese Truppe zu bauen.

Meine Herren, ich komme jetzt zu einer Frage, die ich bereits bei der Generaldebatte berührt habe, die aber jetzt in ein neues Stadium getreten ist, und deshalb noch einmal der Erwähnung bedarf, auf den Entschädigungsprozess der Witwe Herrmann3, der gestern endlich ein obsiegendes Urteil gegen das Berliner Polizeipräsidium erstritten hat; es ist ihr wenigstens prinzipiell die Entschädigung zugesprochen worden.

Es ist sehr beklagenswert, dass das Berliner Polizeipräsidium dieser Klage so viele Schwierigkeiten entgegengesetzt hat. Das Berliner Polizeipräsidium hätte meiner Ansicht nach geradezu ein nobile officium gehabt, hier möglichst rasch Abhilfe zu schaffen. (Abgeordneter Hoffmann: „Sehr wahr!") Statt dessen hat es sich auf die Hinterfüße gesetzt, so dass dieser Prozess sich über ein Jahr oder nicht viel weniger hingezogen hat.

Meine Herren, nun komme ich auf die Lage der Berliner Schutzleute zu sprechen. Wenn Sie wüssten, wie häufig Schutzleute ihren Schutz bei der Sozialdemokratie suchen, dann würden Ihnen wahrscheinlich die Haare zu Berge stehen.

Ich habe unter anderem ein sehr interessantes Tagebuch eines Schutzmannes in Händen – vorläufig noch handschriftlich –, der ein gut Teil seines Lebens in der Schutzmannschaft verbracht hat. In diesem Tagebuch, das ich natürlich nicht einmal in seinem wesentlichsten Teil vortragen könnte, finden sich sehr viele geradezu ergreifende Stellen. Besonders oft handelt es sich dabei um die Art, wie die Polizeibeamten – häufig alte, ergraute Leute, die ihre Kraft neun Jahre lang oder noch länger dem Militär gewidmet haben und dann noch zehn oder zwanzig Jahre in der Schutzmannschaft tätig gewesen sind – von ihren Vorgesetzten behandelt werden. Es wird immer wieder geklagt, dass sie von den Vorgesetzten oft nicht einmal die Anrede „Herr" erhalten, sondern wie Rekruten einfach bei ihren Hauptnamen genannt werden, dass ihre Tätigkeit vielfach in lächerlichem Firlefanz militärischen Charakters verzettelt wird, dass sie, wenn ein Vorgesetzter in die Wache tritt, aufspringen, Meldung erstatten müssen usw.

Meine Herren, es wird von den Polizeibeamten sehr unangenehm empfunden, dass gerade die jüngeren Polizeioffiziere, die in den letzten Jahren eingestellt worden sind, einen Ton der Schneidigkeit und des Kasernendrills in die Wachen hinein tragen, der noch über das hinausgeht, was früher üblich war. So ist mir von verschiedenen Seiten berichtet worden – und ich glaube, dass diese Berichte auch Glaubwürdigkeit beanspruchen können.

Ein besonderes Kapitel ist das Kapitel der Arreststrafen. Es ist nicht richtig, dass Arreststrafen nicht mehr verhängt werden; sie werden gegenwärtig noch verhängt; ich weiß nur nicht, ob noch in der allerletzten Zeit; jedenfalls ist es nicht lange Zeit her, dass noch Arreststrafen verhängt wurden. Diese Bestrafungen sind für die einzelnen Beamten sehr empfindlich und beleidigend.

Wir haben bereits wiederholt über die Arreststrafen für die Unterbeamten gesprochen, und man könnte ja hoffen, dass nach den Erklärungen fast aller Teile dieses Hauses diese Strafe nun bald abgeschafft wird. Aber wenn ich an die Erklärung denke, die der Herr Minister – wohl im vorigen Jahr – über die Notwendigkeit der Aufrechterhaltung der Arreststrafen abgegeben hat, wie er sich darauf berief, dass die Polizei, die Schutzmannschaft, militärisch organisiert sei und infolgedessen auch derartige Strafen unumgänglich wären, dann zweifle ich trotz der Majorität in diesem Hause doch sehr, ob es gelingen wird, den Herrn Minister zur Beseitigung dieser Arreststrafen zu veranlassen.

Es ist mir nicht möglich zu schildern, wie mir Polizeibeamte im Einzelnen bei verschiedenen Gelegenheiten über die Arreststrafen ihr Leid geklagt haben. Das sind oftmals Leute von hohen Jahren, von 45, 50 Jahren; nun werden sie einfach in Arrest gesteckt. Sie schämen sich, nach Haus zu gehen, sie schämen sich, ihren Frauen Mitteilung zu machen. Einer von ihnen hat mir gesagt, er habe wie ein kleines Kind geweint, als er wegen irgendeiner kleinen „Unbotmäßigkeit" seinem Vorgesetzten gegenüber, wegen einer lächerlichen Bagatelle in Arrest gehen musste. Es ist leider Tatsache, dass den Schutzleuten wegen allerhand Bagatellgeschichten strenge Disziplinarstrafen auferlegt werden.

Natürlich ist notwendig, dass in den Schutzleuten der zur Wahrnehmung der Interessen der gesamten Bevölkerung befriedigende und anspornende Geist vorhanden ist. Aber dass man allerhand kleinliche Bagatellen zum Anlass von Ordnungsstrafen nimmt, wie es hier allgemein üblich ist, muss in der Tat als sehr bedenklich und bedauernswert missbilligt werden. Hier könnte leicht ein etwas großherzigerer Geist einsetzen; man sollte die Polizeibeamten wahrlich etwas mehr als gleichberechtigte Menschen und nicht als Rekruten behandeln, wie das gegenwärtig der Fall ist.

Es gibt in den Dienstvorschriften für die Polizeibeamten einen Paragraphen 10, der von den Pflichten der Vorgesetzten handelt und der dem Vorgesetzten die Pflicht auferlegt, sich „durch ruhiges, ernstes und gesetztes Benehmen die Achtung und das Vertrauen seiner Untergebenen" zu erwerben. Das ist ein wunderschöner Grundsatz; aber er wird leider nicht durchgeführt. Dieser Paragraph 10 wird bei der Instruktion der Schutzleute niemals vorgelesen, obwohl es den Schutzleuten sehr erwünscht wäre, wenn dieser Paragraph recht oft und recht energisch bekannt gemacht würde.

Dann habe ich noch einiges in Bezug auf die Pensionszuschusskasse der Berliner Schutzmannschaft zu sagen. Die Pensionszuschusskasse ist eine Zwangskasse. Die Beamten müssen allmonatlich 3 Mark zahlen, das heißt also jährlich 36 Mark. Meine Herren, dieser Betrag von jährlich 36 Mark, der den Beamten von ihrem kärglichen Gehalt abgezogen wird, bedeutet in 30 Jahren 1080 Mark. Von diesen Einzahlungen haben die Beamten gar keinen Vorteil, wenn sie zu einer anderen Behörde übergehen; sie bekommen nichts zurückgezahlt. Das Geld ist auch verloren, und die Witwe bekommt nichts zurückgezahlt, wenn der Mann stirbt, und wenn der Beamte wegen irgendeines Vergehens ohne Pension aus dem Dienst entlassen wird, so bekommt er gleichfalls nichts zurückgezahlt. Meine Herren, selbst wenn 40 Jahre lang und länger in diese Kasse eingezahlt worden ist, bekommt die Witwe beim Todesfall und der Beamte selbst in den anderen erwähnten Fällen nicht einen Pfennig von diesen Beiträgen erstattet. („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.) Andererseits bekommt der Beamte, wenn er vor dem zehnten Jahre dienstunfähig wird, auch nicht einmal eine Pension, trotz der Einzahlung! Nur wenn ein Unfall passiert und eine Dienstbeschädigung eintritt, bekommt er bereits vorher etwas.

Meine Herren, die Zahlungen, die schließlich extra geleistet werden, sind aber auch vollkommen unzureichend, und Sie können versichert sein, dass gerade die Verhältnisse in der Pensionszuschusskasse, die jetzt zweieinhalb Millionen aufgestapelt hat, sehr dazu beitragen, die Berliner Schutzleute unzufrieden zu machen. Meiner Ansicht nach wäre es sehr wünschenswert, hier irgendeine Organisationsänderung eintreten zu lassen, die dazu führt, dass diese Kasse ihren Zweck, den Schutzleuten in wirklichen Notfällen Beistand zu leisten, auch tatsächlich erfüllen kann. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, in den Mitteilungen, die mir zugegangen sind, wiederholt sich immer und immer wieder die Wendung: Ja, wenn wir so behandelt werden, wenn die Pensionszuschusskasse und unsere ganze soziale Lage so gestaltet ist, dann ist es kein Wunder, wenn nicht genügend Polizeibeamte nach Berlin zu bringen sind. („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Einer der Beamten hat mir die Strafen aufgezählt, die ihnen zuteil werden, wenn sie einmal irgendeine kleine Unbotmäßigkeit begehen. Da heißt es: Zunächst einmal bekommt der Betreffende seine Arreststrafe oder seine andere Strafe im engeren Sinne. Aber damit noch nicht genug: Es wird ihm der nächste Urlaub gekürzt; dann wird er unter Umständen zur Strafe noch versetzt – ein Beamter, der mir das schildert, ist drei Kilometer weit von seiner Wohnung versetzt worden –; er bekommt keine Weihnachtsgratifikation und wird bei dem Vorrücken in die höhere Gehaltsklasse zurückgesetzt; die lebenslängliche Anstellung lässt längere Zeit auf sich warten; er bekommt keine Extraunterstützungen, keine Vergünstigungen, und nach dem Tode des Mannes kann die Frau nicht leicht irgendeine Vergünstigung erhalten, obwohl es sich der Regel nach um ganz geringfügige, um Bagatellstrafen handelt.

Meine Herren, die Polizeibeamten haben vielfach die Empfindung, dass sie, um einen militärischen Ausdruck zu gebrauchen, von ihren Vorgesetzten gar zu viel geschliffen werden, und das trägt sehr dazu bei, die Missstimmung in ihrem Kreise zu erhöhen.

Meine Herren, wenn ich all das hier als ein Sachwalter der Polizeibeamten, gegen die wir sonst gar vielfach Angriffe zu richten haben, anführe, so betone ich noch einmal, dass unsere Angriffe gegen die Polizeibeamten, gegen die Schutzleute der Regel nach nicht die Schutzleute persönlich betreffen, sondern die ganze Art unseres Polizeiwesens („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.), und dass wir uns für berufen halten, die Interessen auch dieser unteren Beamtenkategorie jederzeit mit aller Energie zu vertreten, wie wir das ja bei anderen Gelegenheiten bereits getan haben.

Und noch aus einem anderen Grunde haben wir Veranlassung, uns mit diesen Fragen zu beschäftigen. Wenn die Polizeibeamten, die Schutzleute in dieser Weise behandelt werden, wenn ein derartig ungeheurer Druck, diese Furcht vor jeder geringfügigen Strafe auf ihnen lastet, dann ist es ganz natürlich, dass sie viel schärfer, viel schneidiger, viel rücksichtsloser sind, als sie an und für sich sein möchten, und weiter, dass sie gar leicht nervös werden und die ihnen durch den Druck, unter dem sie leben, aufgezwungene, aufgedrängte Nervosität Gefahren für das Publikum im Allgemeinen herbeiführen. Es liegt also meiner Ansicht nach im Interesse der Allgemeinheit, hier Abhilfe zu schaffen.

Nun, meine Herren, wird ja der Herr Polizeipräsident oder sein Vertreter oder irgendein anderer Herr aus diesem Hause wahrscheinlich nachher hier sagen: Wie können sich Polizeibeamte herausnehmen, ihr Herz einem Sozialdemokraten auszuschütten! Die sind ja noch schlimmer als die „Lügner", „Heuchler", „Eidbrecher", von denen der Herr Minister des Innern gesprochen hat, die sind ja die schlimmsten Gesinnungslumpen, um das schöne Wort des Freiherrn von Zedlitz zu gebrauchen! Meine Herren, ich bin fest überzeugt, dass alle diese Kübel voll zarter Worte aus der guten Kinderstube der rechten Seite dieses Hauses auch über diese Polizeibeamten ausgeschüttet werden, vielleicht auch wieder von demselben Herrn Minister ausgeschüttet werden, der dereinst ja als Kanalrebell4 gar keinen Anstand genommen hat, gegen seine Vorgesetzten zu demonstrieren und seinen autoritären Willen als nachgeordneter Beamter unbotmäßig seinen Vorgesetzten gegenüber durchzusetzen, seiner Dienstpflicht zuwider, wie sie heute von diesem einstigen Kanalrebellen proklamiert wird.

Der Herr Minister des Innern mag sich seine Entrüstung, auf die ich warte, ersparen; wir sind dessen gewiss, dass all diese Entrüstung, und wenn sie noch so sehr gehäuft werden sollte, nicht dazu beitragen würde, die Polizeibeamten zu hindern, die Sozialdemokratie in diesen Fragen trotz alledem als ihre Helferin anzusehen, und dass ihm all das nicht dazu helfen wird, dass die Polizeibeamten Vertrauen auf das Wohlwollen des Herrn Ministers schöpfen.

Meine Herren, der Herr Vorredner hat von einer Neuorganisation unserer gesamten Polizei gesprochen. Zu dieser Neuorganisation der gesamten Polizei hier näher Stellung zu nehmen, möchte ich mir im Augenblick versagen, obwohl es außerordentlich verführerisch wäre. Ich möchte nur darauf hinweisen, wie bei Gelegenheit des letzten Bergarbeiter Streiks die Polizeiverwaltung aus sich selbst heraus in einem wesentlichen Punkte etwas ganz Neues geschaffen hat, indem sie nämlich die Grubenbeamten zu Polizeibeamten gemacht hat. Meine Herren, das ist eine Einrichtung, die in Amerika weit verbreitet ist; man nennt diese Polizeibeamten da drüben private Sheriffs.

Es ist in Deutschland, soviel ich weiß, noch nicht leicht vorgekommen, dass sich die Polizei in ähnlicher Weise irgendwelcher Privatpersonen zu polizeilichen Dienstleistungen in umfassendem Maße bedient hat. Aber, meine Herren, besonders muss beklagt werden, dass die Polizei in diesem Falle derartige private Sheriffs aus den Reihen der Grubenbeamten ernannt hat, die natürlich als unmittelbare Interessenten am Grubenkapital, als unmittelbare Untergebene der Feinde der streikenden Arbeiterschaft in dem Polizeikampf gegen die streikenden Arbeiter im Ruhrrevier am allerhitzigsten waren. Wenn ich neulich davon gesprochen habe, wie die Polizeibeamten oftmals nervöser waren als das Militär, so darf ich aus meiner genauen Kenntnis der Dinge versichern, dass die allernervösesten, rücksichtslosesten und brutalsten die zu Polizeibeamten ernannten Grubenbeamten gewesen sind.

Meine Herren, es wäre wünschenswert, wenn bei einer Umorganisation unserer Polizeiverwaltung derartige nicht zu billigende Maßnahmen ausgeschlossen werden würden.

Wir können nur sagen, Reformen in unserem Polizeiwesen sind in Hülle und Fülle notwendig, und für den künftigen Polizeikongress wird es Arbeit genug geben. Der Herr Minister möge sich nur die Arbeit dort suchen, wo sie in erster Linie im Interesse der Allgemeinheit zu finden wäre. Gewiss sind organisatorisch-technische Umänderungen in vieler Beziehung notwendig, und manches, was der Herr Vorredner gesagt hat, kann auf unsere Zustimmung rechnen. Wichtiger aber als alle diese technisch-organisatorischen Dinge sind die Fragen, die von mir angeregt worden sind, und insbesondere die Schaffung eines verständigen Verhältnisses zwischen Polizei und Publikum. Erst wenn ein solches verständiges Verhältnis erzielt ist, wird man erreichen, dass das Publikum der Polizei, soweit sie im Interesse der Allgemeinheit tätig ist, gern und willig Unterstützung leistet, und diese Unterstützung der Allgemeinheit, des Publikums kann von der Polizei nie entbehrt werden, wenn sie irgendwelche Erfolge erzielen will.

Aber natürlich, wenn wir tiefer hinein graben, kommen wir immer wieder auf die tieferen Voraussetzungen für ein besseres Verhältnis zwischen Polizei und Publikum, nämlich die besseren Beziehungen zwischen unserer Regierung und den herrschenden Mächten einerseits und der großen Masse des deutschen Volkes andererseits. Erst wenn in dieser Beziehung bessere Verhältnisse herbeigeführt sind, werden wir erwarten können, dass die grundlegenden, bedauerlichen Missstände in der preußischen Polizei beseitigt werden. Die Voraussetzung dafür sind aber gewaltige politische Reformen, Reformen der preußischen Verfassung, auf die wir immer wieder zurückgreifen müssen, wenn wir bis an die Wurzeln aller Übel im preußischen Staatswesen dringen wollen.

Wir erwarten, dass der Herr Minister des Innern an all den von uns im Interesse der Allgemeinheit vorgetragenen Missständen nicht schweigend vorübergeht, sondern sich dazu äußert und nicht den Vorwurf auf sich lädt, dass er doch um deswillen, weil diese von der Allgemeinheit als höchst bedauerlich empfundenen Dinge von der Sozialdemokratie vorgebracht sind, es sich versagt, darauf einzugehen, und Vogel-Strauß-Politik gegenüber wichtigen öffentlichen Missständen treibt. („Bravo!" bei den Sozialdemokraten.)

1 Henriette Arendt war von 1903 bis 1909 im Stuttgarter Fürsorge- und Armenwesen tätig. Auf ihren Vorschlag hin war in Stuttgart das Amt einer Polizeiassistentin geschaffen worden. Ihre Aufgabe in dieser Beamtenfunktion war es, weibliche Gefangene zu überwachen und nach ihrer Entlassung für sie zu sorgen. Bald erweiterte sie ihr Tätigkeitsfeld auf die Betreuung von Pflege- und Waisenkindern. Durchdrungen von tiefem Humanismus, trat sie entschlossen auf – wie sie selbst schrieb – „gegen den engherzigen, fortschrittsfeindlichen Bürokratismus und gegen den Pietismus, welcher sich in der Dunkelheit mit aller Macht gegen jede humanitäre Bestrebung auflehnte, die nicht von der Kirche ausgehe". („Erlebnisse einer Polizeiassistentin von Schwester Henriette Arendt, früherer Polizeiassistentin in Stuttgart", München 1910, S. 5.)

Nach ihrer erzwungenen Amtsniederlegung am 1. Februar 1909 führte Henriette Arendt ihre Fürsorgetätigkeit auf selbständiger Basis weiter, wobei sie sich besonders verlassenen, verwahrlosten und misshandelten Kindern widmete.

2 Als im September 1910 Streikbrecher des Streikbrechervermittlers Hintze unter dem Schutz der Polizei provokatorisch gegen die streikenden Arbeiter der Firma Kupfer und Co., eine dem Stinnes-Konzern angeschlossene Kohlengroßhandlung in Berlin-Moabit, auftraten, kam es zu blutigen Zusammenstößen zwischen der Bevölkerung und der Polizei, deren brutales Vorgehen zwei Todesopfer und zahlreiche Verwundete forderte.

3 Einer der beiden bei den Moabiter Vorgängen Ermordeten war der Arbeiter Herrmann. Karl Liebknecht vertrat die Klage der Witwe des Ermordeten auf Entschädigung in einem Prozess gegen das Berliner Polizeipräsidium. Die Arbeitermörder wurden vom Staatsapparat gedeckt und nicht zur Verantwortung gezogen.

4 Bezeichnung für die Junker, die gegen den Bau des Mittellandkanals opponierten. Die Red.

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