Karl Liebknecht‎ > ‎1912‎ > ‎

Karl Liebknecht 19120504 Schnellfeuerjustiz im Ruhrrevier

Karl Liebknecht: Schnellfeuerjustiz im Ruhrrevier

Rede im preußischen Abgeordnetenhaus in der dritten Lesung des Justizetats

[Nach Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Hauses der Abgeordneten, 21. Legislaturperiode, V. Session 1912/13, 4. Bd., Berlin 1912, Sp. 5340-5349 und nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 5, S. 327-340]

Meine Herren, der Herr Justizminister hat seine letzten Ausführungen gegen meinen Freund Hoffmann mit dem lapidaren Satze geschlossen, der Abgeordnete möge sagen, was er wolle, die Gerichte würden sich von ihrer Pflicht, pflichtgemäß nach dem Gesetze zu entscheiden, nicht abbringen lassen – und mit einer scharfen Zurückweisung des Vorwurfs der Klassenjustiz. Wir können Herrn Abgeordneten Haarmann dankbar sein, dass er unmittelbar auf diese Ausführungen des Herrn Justizministers als einer vom Bau, als Staatsanwalt, und doch sicherlich durchaus aus den Gesinnungen heraus, die in Staatsanwaltskreisen und auch wohl in Richterkreisen nicht gar selten zu finden sind, erklärt hat, dass er um deswillen die Justiz in Preußen und Deutschland so besonders rühmenswert finde, weil sie einen Damm bilde gegen die Sozialdemokratie. Meine Herren, damit hat Herr Abgeordneter Haarmann der Justiz nicht die Aufgabe zugewiesen, die man ihr im Allgemeinen zuzuweisen pflegt, nämlich das Gesetz und die Gerechtigkeit zu pflegen und in diesem Geiste unbeirrt ihres Amtes zu walten; er hat es vielmehr als den Ruhm der preußischen Justiz verkündet, dass sie ohne Binde, dass sie mit Rücksicht auf die politische Stellung der Angeklagten aus politischer Voreingenommenheit Parteipolitik treibt gegen die Sozialdemokratie.

(Widerspruch im Zentrum.)

Meine Herren, das ist ein Standpunkt über die Aufgaben der Justiz, der, wenn er von dem Herrn Justizminister auch bisher in dieser Unverhülltheit noch nicht zum Ausdruck gebracht worden ist, doch um deswillen von uns nicht unbeachtet gelassen werden kann, weil dieses harmlos naive Geständnis eines Praktikers uns beweist, wie in Wirklichkeit der innerhalb unserer Justizbeamten herrschende Geist aussieht. Aus diesem Geist, aus dem Herr Haarmann heute gesprochen hat, können keine gerechten Urteile in politischen und sozialpolitischen Dingen ergehen.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Dieser Geist muss Klassenurteile gröblichster Art gebären,

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

und dieser Geist scheut sich nicht einmal, bemäntelt nicht einmal, dass er Klassenjustiz gebiert, sondern Herr Abgeordneter Haarmann setzt seinen Stolz dahinein, dass solche politische Tendenzjustiz geübt wird.

(Glocke des Präsidenten.)

Präsident Dr. Freiherr von Erffa: Herr Abgeordneter Liebknecht, ich bitte, dass Sie nicht von Klassenjustiz reden. Das ist eine Beleidigung unseres Richterstandes.

Liebknecht: Meine Herren, ich habe, indem ich das Wort Klassenjustiz ausgesprochen habe, dieses Wort in einem Sinne gebraucht, der hier wiederholt klargelegt worden ist, und nachdem der Herr Minister von Klassenjustiz gesprochen hat, nachdem Herr Abgeordneter Haarmann von Klassenjustiz gesprochen hat, ist es ganz selbstverständlich, dass wir hier über Klassenjustiz debattieren können.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Es ist im Reichstag und hier im Hause bisher stets üblich gewesen, dass man darüber, ob die Vorwürfe der Klassenjustiz gegen unsere Richter begründet sind, sich unterhält,

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

und indem ich mich gegenwärtig darüber äußere, tue ich nichts weiter, als dass ich die vorhin von dem Herrn Justizminister selbst mit befruchtete Debatte über diesen Punkt fortsetze.

(Glocke des Präsidenten.)

Präsident: Gewiss dürfen Sie von Klassenjustiz sprechen, aber nicht in dem Sinne, dass unser Richterstand Klassenjustiz triebe.

(Abgeordneter Borchardt (Berlin): „Dann mögen sie es nicht tun!")

Herr Abgeordneter Ströbel, ich rufe Sie zur Ordnung.

(Abgeordneter Borchardt (Berlin): „Der hat ja gar nichts gesagt!" – Zurufe: „Das war der andere!")

Ich dachte, der Zwischenruf wäre von Ihnen ergangen. Dann rufe ich den Abgeordneten Borchardt für diesen Zwischenruf zur Ordnung.

Liebknecht: Meine Herren, wir unterhalten uns doch darüber, ob sich bei unseren Richtern Klassenjustiz findet oder nicht, und wie soll ich denn nun gegen den Herrn Justizminister debattieren können, wenn es mir verboten wird zu behaupten, dass die Auffassung des Herrn Justizministers falsch ist. Ja, ich weiß in der Tat nicht, was denn überhaupt die Debatten in den Parlamenten für einen Sinn und Verstand haben;

(Zurufe rechts.)

dann müsste hier beschlossen werden, dass wir die Verpflichtung haben, überall dieselbe Ansicht zu vertreten wie die Mehrheit des Hauses, und dann wären wir ja glücklich fertig, dann könnten wir nach Hause gehen.

(Abgeordneter Kreth: „Das wäre famos!" – Heiterkeit.)

Gewiss wäre das famos; aber zu diesem Standpunkt des Kretinismus werden Sie uns niemals herabdrücken können, Herr Kreth.

(Heiterkeit.)

Es ist unser gutes Recht – ich wäre übrigens längst fertig, die Debatten werden nur verzögert –

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

es ist selbstverständlich mein gutes Recht zu sagen, dass die Ausführungen des Herrn Abgeordneten Haarmann im Gegensatz zu dem, was der Herr Justizminister hier vorgetragen hat, auf das Deutlichste bewiesen haben, dass offenbar in weiten Kreisen unserer Richter und unserer Staatsanwaltschaft eine Auffassung über die Aufgaben der Justiz besteht, die, man mag sagen, was man will, zu keinem anderen Ergebnis führen kann als zu politischen Tendenzurteilen.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, das ist eine Tatsache, die hier konstatiert werden darf und die nach den Worten des Herrn Abgeordneten Haarmann als eines juristischen Praktikers und Fachmannes konstatiert werden muss.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, ich hatte anfangs nicht die Absicht, mich gerade zu dieser Frage hier zu äußern, sondern wollte mich ausschließlich mit der Justiz im Ruhrrevier befassen, die aus Anlass des Streiks erfolgte und die bereits mein Freund Hoffmann vorhin in einigen Beziehungen besprochen hat.

Meine Herren, der Herr Justizminister hat uns von 4000 Anzeigen berichtet, die alsbald eingegangen waren. Es wäre dankenswert, wenn uns der Herr Justizminister auch berichten würde über die Quellen dieser Anzeigen, über die Anzeigenden. Es wäre uns sehr interessant, einmal zu hören, wie viel Denunziationen von beamteten Personen ausgegangen sind und wie viel von dem christlichen Bergarbeiterverband inspiriert worden sind.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Wir sind der Auffassung – und diese Auffassung ist uns immer wieder bestätigt worden durch Leute, die die Sache sehr genau kennen –, dass ein reiner Denunziationsfeldzug, eine reine Denunziationskanonade

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

eröffnet worden ist von dem christlichen Bergarbeiterverband, um in echter „Brudersolidarität" den gegnerischen Verband nun auch noch in die Fänge der Justiz hineinzutreiben. Ja, meine Herren, darüber werden wir wahrscheinlich keine Antwort von dem Herrn Justizminister bekommen. Aber einige andere Fragen könnte uns der Herr Justizminister vielleicht noch beantworten, zum Beispiel wie viel Untersuchungshaft diese unglückseligen Opfer zu verbüßen gehabt haben,

(Zuruf: „Opfer der Sozialdemokratie!")

diese Opfer der Denunziation. Was ein Denunziant ist, darüber sagt ein bekanntes Sprichwort das Nötige; ich brauche deshalb nicht näher darauf einzugehen. Also: Wie viel Untersuchungshaft haben die Betreffenden verbüßt? Wie viel Jahre Gefängnis sind insgesamt verhängt worden und wie viel Geldstrafen, wenn überhaupt auf Geldstrafe erkannt worden ist?

(Zuruf rechts: „Alles Ihr Werk!")

Es wäre uns wichtig zu wissen, wie hoch insgesamt die Strafen sind, die für diese aus der Leidenschaft der Not und aus dem Solidaritätsgefühl der Arbeiterklasse heraus geborenen Bagatelldelikte erkannt worden sind, die ja allerdings vielleicht hie und da aus Anlass des Streiks begangen sein mögen. Es würde dann an dieser Summe vielleicht am deutlichsten erkennbar sein, in welch rücksichtsloser Weise unsere Staatsgewalt auch qua Justiz in diesem heroischen Kampfe der Arbeiterschaft, dieser gedrückten und gedrängten Arbeiterschaft, um ihre primitivsten Menschenrechte, ihre primitivsten Existenzbedingungen vorgegangen ist. Meine Herren, der Herr Justizminister hat über die Zahl der Fälle einiges gesagt; ich erwähnte das soeben. Aber wir möchten vom Justizminister auch etwas hören über einige andere Dinge, auf die ich jetzt zu sprechen komme, und die, wie mir scheint, von allergrößtem allgemeinen Interesse sind. In all den Fällen, um die es sich hier handelt, ist die Anklage mit größter Geschwindigkeit erhoben worden. Schon bevor der Streik zu Ende war, der nur kurze Zeit gedauert hatte, fanden die ersten Hauptverhandlungen statt. Es wurde also mit einer Geschwindigkeit gearbeitet, wie man sie im Allgemeinen nur beim Standrecht, bei summarischer Justiz findet.

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Diese Mitrailleusenjustiz, wie sie dort bei der Vorbereitung der Anklagen gepflogen worden ist, hat naturgemäß zur Folge, dass eine genaue Nachprüfung des Materials vor Erhebung der Anklage gar nicht möglich ist.

Meine Herren, es kommt aber auch noch etwas anderes in Betracht, dass nämlich ein solch rasches Verfahren, das in der Hitze der Aufregung, die durch den Streik erzeugt ist, durchgepeitscht wird, absolut nicht geeignet ist, ein ruhig abwägendes Urteil der Richter zu ermöglichen.

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Es ist ganz selbstverständlich, dass, wenn so unmittelbar aus der Kampfesstimmung heraus in der Gegend selbst, in der der Streik getobt hat, derartige Streikvergehen abgeurteilt werden, dann die Richter auf das Äußerste erregt und zu einer objektiven Würdigung der Sache nahezu außerstande sind.

Wenn der Herr Justizminister gesagt hat, es sei nötig gewesen, recht rasch vorzugehen, damit die Ordnung wiederhergestellt und aufrechterhalten werde – ja, meine Herren, was sind denn das für Begründungen? Kann uns denn der Herr Justizminister irgend etwas dafür beibringen, dass die Ordnung in einer nennenswerten Weise, so dass eine solche Remedur notwendig gewesen wäre, gestört und gefährdet gewesen sei? Meine Herren, ich habe mir gestattet, Ihnen vor einigen Tagen bei der Beratung des Etats des Ministeriums des Innern eine Anzahl von Pressestimmen, insbesondere der „Rheinisch-Westfälischen Zeitung", vorzutragen, in denen ganz deutlich zum Ausdruck gebracht war, und zwar von arbeiterfeindlicher Seite, dass bei diesem Streik größere Unruhen und Ordnungswidrigkeiten als bei anderen früheren Streiks nicht zu verzeichnen gewesen seien.

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, es ist also ganz offenbar, dass schon während des Streiks ein besonderer Grund, in dieser energischen und rücksichtslosen Weise standrechtlich mit Feuer und Schwert einzugreifen, nicht vorlag.

Aber noch etwas anderes, meine Herren! Wenn auch einige dieser Prozesse während des Streiks verhandelt worden sind, so ist die Mehrzahl doch erst zur Verhandlung gekommen, nachdem der Streik bereits niedergeworfen war. Und will uns der Herr Justizminister die Spur eines Anhalts dafür geben, dass sich damals noch Ruhestörungen irgendwo gezeigt haben? Nachdem der Streik niedergeworfen war, war jedenfalls von irgendeiner Unruhe nicht mehr die Rede. Aber, meine Herren, der Herr Justizminister hat nun einmal diese allgemeine Redewendung, die zum Sprachschatz, zum eisernen Bestandteil unserer staatsretterischen Regierungspolitik gehört, den Herren hier in diesem Hause vortragen müssen, um den traditionellen Beifall der Rechten des Hauses zu erzeugen. Meine Herren, wir sind der Überzeugung, dass dieses schnelle Vorgehen, wenn auch unbewussterweise, von dem Bedürfnis diktiert war, an den unbotmäßigen Bergsklaven Rache zu nehmen, von dem Bedürfnis, dem christlichen Streikbrecherverband durch das Eingreifen der Justiz noch weiter Staatshilfe zu leisten

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

und durch das Bedürfnis, die unglücklichen Bergleute, die schon die Faust der Militär- und Polizeigewalt zu fühlen bekommen hatten, hinterher nun auch noch die eiserne Faust der Klassenjustiz fühlen zu lassen. Das ist offenbar der Gedanke gewesen, von dem alle diese staatsretterischen Justizaktionen – –

(Glocke des Präsidenten.)

Präsident: Herr Abgeordneter Dr. Liebknecht, ich habe Sie schon einmal darauf aufmerksam gemacht, dass Sie nicht von Klassenjustiz der Gerichte sprechen sollen, und ich bitte Sie, einmal den Kommentar Seite 199 anzusehen, wo es ausdrücklich heißt:

Es ist ordnungswidrig, einen Makel an die Rechtsprechung der Gerichte zu heften."

Liebknecht: Ich halte es für mein gutes Recht zu kritisieren, und wenn ich wahre Tatsachen aus meiner besten Überzeugung heraus, nicht in beleidigender Absicht und nicht in beleidigender Form anführe, sondern nur zu dem Zweck der Kritik, die unsere Pflicht ist, und wenn dann von mir etwas gesagt werden muss, was objektiv der Justiz nicht zur Ehre gereicht, dann liegt das innerhalb der Ordnung dieses Hauses, und nicht ich bin schuld daran, wenn das einen unangenehmen Eindruck macht, sondern die Justiz.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Aber ich will nicht weiter darüber sprechen.

(Glocke des Präsidenten.)

Präsident: Sie haben ganz genau verstanden, was ich sagen will. Sie können die Rechtspflege kritisieren, dürfen aber der Rechtsprechung der Gerichte keinen Makel anheften.

Liebknecht: Ich muss die Rechtsprechung unserer Gerichte bemängeln, und zwar recht energisch bemängeln;

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

das ist meine Pflicht hier.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Wenn Sie darin nun einen Makel erblicken – ja, ich kann mir nicht helfen. Ich kann mir das Recht jedenfalls nicht nehmen lassen, die energische und rücksichtslose Kritik an der Justiz zu üben, die im Interesse der gesamten Bevölkerung und im Interesse der Gerechtigkeit in den preußischen Landen notwendig ist.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten. – Abgeordneter von Pappenheim: „Aber in parlamentarischer Form!")

Bisher, Herr von Pappenheim, bin ich aus den parlamentarischen Formen nicht herausgegangen, das hat der Herr Präsident selbst nicht angenommen, sonst wäre ich bereits gerügt worden.

(Abgeordneter von Pappenheim: „Sind Sie ja!")

Nein, wegen der Form bin ich bisher nicht gerügt worden.

Meine Herren, ich habe bisher von der ungeheuren Geschwindigkeit gesprochen, die man eingeschlagen hat und die ja auch zu der Einrichtung geführt hat, die der Herr Justizminister verteidigen zu müssen glaubte, nämlich zu der Einrichtung der besonderen Kammern. Meine Herren, ich will darüber nicht rechten, ob die Einrichtung der besonderen Kammern im vorliegenden Fall formell zulässig war oder nicht. Ich halte es aus vielen Gründen für bedenklich, solche besonderen Kammern gerade in solch unruhigen Zeiten einzurichten, weil sie notwendig stets den Eindruck von Sondergerichten, von Ausnahmegerichten machen werden. Aber ich will einmal zugeben, dass ein so geschwindes Einschreiten verteidigt werden kann, wie es der Herr Justizminister für notwendig erklärt hat, und dann würde sich die technische Notwendigkeit der Einrichtung von Hilfskammern ergeben.

Nun aber, meine Herren, frage ich: Wenn unser Gerichtsverfassungsgesetz die Einrichtung von Hilfskammern unter gewissen Voraussetzungen zulässt und wenn man darin an und für sich noch nicht die Einrichtung von Ausnahmegerichten erblicken kann, muss dann nicht mindestens eine dem Geiste unserer Gerichtsverfassung widersprechende Ausnahmegerichtsbarkeit als vorliegend angenommen werden, wenn diese Spezialkammern nicht zu dem Zwecke einer anderweiten Verteilung der Geschäfte unter den verschiedenen Kammern geschaffen werden, sondern zu dem speziellen Zwecke, ausschließlich Streikangelegenheiten zu erörtern?

Meine Herren, diese Frage ist ja schon im Reichstage debattiert worden. Damals haben sich die Herren Vertreter der Reichsregierung auf den formellen Standpunkt zurückgezogen, den auch der Herr Justizminister hier eingenommen hat. Sie haben auf die Fälle exemplifiziert, wo zum Beispiel einer bestimmten Kammer Pressedelikte überwiesen worden sind, einer anderen Kammer vielleicht die Übertretungssachen in der Berufungsinstanz, einer anderen die Privatklagesachen in der Berufungsinstanz. Gewiss, meine Herren, eine solche Scheidung nach Materien ist bei uns häufig, und ich will sie noch nicht einmal als dem Geiste unserer Gerichtsverfassung zuwiderlaufend beanstanden. Aber darum handelt es sich vorliegend nicht. Wenn die neuen Kammern eingerichtet worden wären, um gewisse Arten von Delikten abzuurteilen, die rein nach juristischen Gesichtspunkten qualifiziert worden wären, ohne Rücksicht darauf, aus welchem Anlass diese einzelnen Delikte begangen sind, dann wäre das etwas, was mindestens formell sich einordnen könnte in die Gerichtsverfassung. Aber so ist es hier nicht geschehen, sondern es sind die Spezialkammern gegründet worden mit der besonderen Aufgabe, die in dem Streik zutage getretenen Delikte abzuurteilen, also zu einem ganz bestimmt abgegrenzten politischen Zweck, und dass solche Kammern dann als Sondergerichte, als Ausnahmegerichte anzusehen sind, mindestens dem Geiste, dem Sinne nach, darüber sollten wir wahrlich nicht streiten. Formalistisch kann man natürlich die Sache anders ausdeuten. Ich weiß, der ist ein schlechter Jurist, der nicht alles beweisen könnte. Aber es handelt sich darum, dass man nicht auf den Buchstaben sieht, der tötet, sondern sich den Sinn des Gesetzes klarmacht; und nach dem Geist der Gerichtsverfassung sollen ad hoc Ausnahmegerichtshöfe für bestimmte politische Delikte nicht gebildet werden. Deshalb ist mit vollem Recht Kritik geübt worden an dieser Art des Verfahrens.

Man braucht sich dabei nur zu vergegenwärtigen, dass die Auswahl der Richter für diese Sondergerichte zum guten Teil in den Händen der Justizverwaltung liegt, dass die Justizverwaltung, soweit es notwendig wird, Hilfsrichter herauszuschicken, einen außerordentlichen großen Einfluss besitzt. Das Präsidium hat ja Einfluss erst dann, wenn es sich um die Verteilung der Geschäfte unter die dem Gerichte bereits überwiesenen Richter handelt. Wie dem aber auch sei, selbst soweit das Präsidium mit der Ordnung dieser Kammern zu tun hat, muss diese Einrichtung als dem Geist des Gerichtsverfassungsgesetzes widersprechend bezeichnet werden.

Dann aber zu einer anderen Frage. In fast all den Fällen, selbst bei geringsten Bagatellgeschichten, die sich dort abgespielt haben, ist systematisch Untersuchungshaft verhängt worden. Ich will nicht sagen, dass das in allen Fällen geschehen ist, aber in einem solchen Umfange, wegen so geringfügiger Dinge, die nachher mit ein paar Wochen Gefängnis gesühnt worden sind, dass die Anwendung des Instituts der Untersuchungshaft sich nur erklären lässt aus der Gehässigkeit und Aufregung der Zeit, in der diese Entscheidungen gefallen sind.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Eine andere Erklärung lässt sich schlechterdings dafür nicht finden. Es hat sich in allen Fällen um Personen gehandelt, die ortsansässig waren, die zweifellos rekognosziert waren, und man hat offenbar, nur um dieser Justiz den Stempel eines energischen und rücksichtslosen Verfahrens noch mehr aufzudrücken, auch von dem Mittel der Untersuchungshaft in einer dem Geiste der Strafprozessordnung durchaus widersprechenden Weise rücksichtslos Gebrauch gemacht. Es ist notwendig, dass sich die Justizverwaltung auch einmal dazu äußert.

Dann zu dem Verzicht auf die Einlassungsfrist. Das wissen wir alle, dass ein Verzicht auf die Einlassungsfrist, wenn er vielleicht auch nicht ganz unzweifelhaft zulässig ist, doch in der Praxis recht häufig geübt wird und dass er dann und wann als eine ganz verständige Maßnahme angesehen werden kann. Ich will also nicht soweit gehen, wie man unter Umständen gehen könnte, zu sagen, dass ein solcher Verzicht überhaupt etwas Ungesetzliches sei, sondern nur, dass die Art und Weise, wie diese Verzichte im vorliegenden Falle herbeigeführt worden sind, die schärfste Kritik herausfordert. Wenn ein solcher Verzicht von einem in Untersuchungshaft befindlichen Menschen gefordert oder ihm auferlegt wird, ist es zunächst einmal ganz selbstverständlich, dass dieser – wenn er überhaupt die Tragweite versteht – nicht als freier, unabhängiger Mensch entscheidet, sondern aus allerhand Ängsten und Nöten heraus. Darüber hat mein Freund Hoffmann bereits das Nötige gesagt. Ich will aber auch zugeben, dass man in der Allgemeinheit nicht wird sagen können, die Justizverwaltung solle von einem in Untersuchungshaft Befindlichen einen solchen Verzicht nicht entgegennehmen. Hier handelt es sich aber um etwas vollkommen anderes, darum, dass die Justizverwaltung geradezu ein System daraus gemacht hat, dass sie den Einzelnen geradezu nahegelegt und ihnen aufgedrängt hat, einen derartigen Verzicht auszusprechen, dass dieser Verzicht zu einer fast regelmäßigen Norm geworden ist. Wenn eine solche Maßnahme in dieser Allgemeinheit ergriffen wird, dann bedeutet sie eine große Gefahr, auch aus anderen Gründen; das sollten die Herren von der Justizverwaltung nicht verkennen! Ich habe bereits gesprochen von der ungeheuren Geschwindigkeit des vorbereitenden Verfahrens, von der Untersuchungshaft, in die die Betreffenden hineingebracht sind. Nun kommt der Verzicht mit der Wirkung, dass unter Umständen binnen 24 oder 48 Stunden die Hauptverhandlung anberaumt wird. Die Schnelligkeit des vorbereitenden Verfahrens verhindert eine genügende Aufklärung im Vorverfahren. Die Untersuchungshaft und diese Schnelligkeit zusammen verhindern, dass der Inkulpat Material sammelt, sich mit einem Rechtsanwalt in Verbindung setzt. Er ist einfach gefesselt an Händen und Füßen. Und nun kommt man mit diesem Verzicht, so dass ihm auch die gesetzliche Frist genommen ist, die sonst zwischen der Einreichung der Anklageschrift und der Eröffnung des Hauptverfahrens und zwischen der Eröffnung des Hauptverfahrens und der Hauptverhandlung nach dem Gesetz besteht. Das sind Dinge, die die Justizverwaltung vermeiden sollte, wenn sie nicht den Eindruck erwecken wollte, als ob es ihr mehr auf die Fixigkeit als auf die Richtigkeit ankäme bei dieser summarischen Klassenjustiz, die diktiert ist vom Rachegefühl, die unbotmäßigen Bergsklaven gewaltsam mit den Mitteln der Justiz zu Boden zu werfen.

Ferner hat sich bei diesen einzelnen Vorgängen im Ruhrrevier die weitgehende Tendenz herausgebildet, alle Dinge, auch die kleinsten Beleidigungsdelikte und Ausschreitungen, die sonst vor die Schöffengerichte kommen, vor die Strafkammer zu bringen. Die Erledigung solcher Delikte vor der Strafkammer hat zwei gefährliche Wirkungen von großer Bedeutung. Einmal die Wirkung, dass die Strafkammer, die gewöhnlich mit ernsten Dingen befasst ist, ein höheres Normalstrafmaß bei ihren Verurteilungen zugrunde legt als die Schöffengerichte. Es ist infolgedessen für jeden Einsichtigen klar, dass sie damit sofort von der Justizverwaltung, von der Staatsanwaltschaft im speziellen ein besonders ernstes Gepräge aufgedrückt bekommen. Es ist damit ein Avis an die Gerichte verbunden: hier heißt es energisch drein zu hauen und aus den kleinsten Bagatellsachen ernste Strafen zu machen. Das ist für jeden Praktiker deutlich.

Wenn diese Sachen direkt vor die Strafkammer gebracht werden, tritt noch die weitere Wirkung ein, dass dem Angeklagten eine Instanz genommen wird. Normalerweise gehören die Sachen vor die Schöffengerichte, und dann haben die Leute noch die Berufung, nachdem sich ruhiges Blut eingestellt hat und sie sich die Sache haben gründlich überlegen können. Diese Möglichkeit der Berufung hat man den Leuten in weitem Umfange systematisch abgeschnitten, indem man die Sachen an die Strafkammer gebracht hat.

Und nun stellen Sie sich mal die Häufung dieser Rücksichtslosigkeiten vor gegen die sogenannten Streiksünder: die übertriebene Beschleunigung des Verfahrens, die Verhängung der Untersuchungshaft, der aufgedrängte Verzicht auf die Fristen, die Bildung der Sonderkammern, die Vernichtung des Berufungsrechtes und die energische Betonung der Staatsgefährlichkeit des Deliktes durch Überweisung der Angelegenheiten an die Strafkammern. Wenn man alle diese einzelnen Umstände zusammenhäuft, dann sieht man, dass die Justiz, die wir im Ruhrrevier gegenwärtig gehabt haben, alle schlechten Eigenschaften einer Ausnahmegerichtsbarkeit an sich gehabt hat

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

und so wird sie von den Leuten im Ruhrrevier lebhaft empfunden.

1Das, meine Herren, müssen wir wahrlich auf das Alleräußerste beklagen, und ich meine, dass doch auch bei Ihnen sich hier und da Stimmen regen sollten, die der Überzeugung Ausdruck geben, dass es, nachdem diese Bergsklaven nun durch Militär und Polizei niedergeworfen sind, wahrhaftig nicht christlich ist und auch nicht einmal der von Ihnen vertretenen Ordnung entspricht, wenn man nun noch so rücksichtslos im Bereich der Justizverwaltung mit eiserner Faust dazwischen greift.

Meine Herren, ich habe diese Dinge hier vorgebracht, weil sie ein allgemeines Interesse beanspruchen und ihre eingehendere Erörterung im Reichstag nicht möglich war, da sich dort die Justizverwaltung in der bekannten Weise in wesentlichen Beziehungen auf die mangelnde Zuständigkeit des Reichstages zurückgezogen hat. Deshalb müssen wir an dieser Stelle, von der die Justizverwaltung ja selbst behauptet, dass sie die zuständige sei, diese Dinge vorbringen, um Auskunft vom Justizministerium darüber zu bekommen, ob die einzelnen Ausschreitungen der Justiz – die wir als bösartige Auswüchse ausnahmegerichtlicher Tendenzen empfinden, die systematisch verübt worden sind – ganz oder zu einem Teile auf Anweisungen der Zentralbehörde zurückzuführen sind; ob der Justizminister Anweisungen gegeben hat, dass diese Verfahren möglichst beschleunigt werden, dass Untersuchungshaft in großem Umfange verhängt oder wenigstens die Polizei energisch mit den Festnahmen vorgehen solle, ob Anweisungen dieser Art an die Staatsanwaltschaft ergangen sind. Denn, meine Herren, bezüglich der Untersuchungshaft hat ja die Justizverwaltung einen gewaltigen Einfluss durch ihre Stellung zur Staatsanwaltschaft. In Bezug auf die Untersuchungshaft ist .die Staatsanwaltschaft in der Regel ja entscheidend. Wenn der Herr Justizminister sagen sollte, dass die unabhängigen Richter über die Untersuchungshaft entscheiden, so kennen wir das doch aus der Praxis anders. Gewiss, die Richter entscheiden; aber bei der formellen Voruntersuchung stimmt das schon nicht ganz, da ist in weitem Umfange die Zustimmung der Staatsanwaltschaft erforderlich, wenn der Untersuchungsrichter allein aufheben soll. Aber auch sonst ist, wie jeder Praktiker weiß, die Stellung der Staatsanwaltschaft zur Verhängung und Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft 90 Prozent für den Richter maßgebend. Also, die Justizverwaltung hat da einen großen Einfluss, und ich frage infolgedessen den Herrn Justizminister, ob er allgemeine Anweisungen erlassen hat, dass die Staatsanwaltschaft und die Amtsanwaltschaft in allen Fällen auf Verhängung und Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft zu drängen habe. Weiter: ob von der Justizverwaltung jene allgemeine Fristverzichte beeinflusst worden sind. Und schließlich, ob die Justizverwaltung Anweisungen an die Staatsanwaltschaft hat ergehen lassen, dass nach aller Möglichkeit die Dinge zur Vermeidung von Berufungen, zur rascheren Erledigung in erster Instanz vor die Strafkammer gebracht werden sollen.

Ich erwarte eine Antwort vom Herrn Justizminister und damit eine Erklärung darüber, ob die Zentralinstanz, das Justizministerium, ganz persönlich mitverantwortlich und hauptsächlich verantwortlich ist für die außerordentlich betrübenden und schwer zu verurteilenden Vorgänge in der Justiz des Ruhrreviers, die aufs Neue für jeden, der bis dahin vielleicht gehofft hatte, es würde in Deutschland besser werden, dokumentiert haben, dass wir in Preußen und Deutschland trotz alledem in dem klassischen Lande der Klassenjustiz leben.2

(„Sehr richtig!" und „Bravo!" bei den Sozialdemokraten.)

1Der folgende Absatz fehlt in den „Reden und Schriften“.

2 Der Justizminister gab in seiner Entgegnung zu, auf „schnelles Einschreiten" der Behörden gedrängt zu haben. Die von Karl Liebknecht dargelegten verschärfenden Anordnungen der Justizorgane schob er ausschließlich den örtlichen Instanzen zu, denen er seine volle Anerkennung aussprach. Die Red

Kommentare