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Karl Liebknecht 19130404 Gegen Chauvinismus und Antisemitismus an deutschen Universitäten

Karl Liebknecht: Gegen Chauvinismus und Antisemitismus an deutschen Universitäten

Aus Reden im preußischen Abgeordnetenhaus in der zweiten Lesung des Kultusetats

[Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Hauses der Abgeordneten, 21. Legislaturperiode, V. Session 1912/13, 10. Bd., Berlin 1913, Sp. 13 379-13 388,13 363, 13 447-13 454. Nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 6, S. 162-202]

I

4. April 1913

Meine Herren, zu dem Halleschen Klinikerstreik1 und der Ausländerfrage bedarf es einiger Worte. Es ist ja eine tragikomische Tatsache, dass die Herren von den großen Parteien sich hier mit einem Streik haben befassen müssen, der von Ihrer eigenen Jugend inszeniert worden ist. Bis dahin ist der Begriff Streik stets als das Nonplusultra der Gottlosigkeit, Bösartigkeit, menschlichen Niederträchtigkeit, Gemeingefährlichkeit betrachtet worden. Der Streik ist Ihnen doch in der Tat die Ausgeburt aller Abscheulichkeiten der Arbeiterbewegung. Und nun müssen Sie erleben, dass selbst die Studenten streiken.

Wenn die Arbeiter streiken, dann tun sie das allerdings um großer Zwecke willen. Wenn die Studenten streiken, dann handelt es sich um Kleinlichkeiten, um Engherzigkeiten („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.), um Fragen, die geradezu das Gegenteil von Kulturfragen darstellen. Meine Herren, das ist der Unterschied zwischen den Arbeiterstreiks und den Studentenstreiks, dass die Arbeiter um idealer Ziele willen ihren Kampf führen, während die Studenten hier engherzige, kleinliche, reaktionäre Interessen verfolgt haben.

Meine Herren, ich möchte darauf aufmerksam machen, dass dieser Studentenstreik auch im Übrigen viele charakteristische Seiten wirtschaftlicher Streiks aufgewiesen hat. Es ist ja bekannt, dass nicht nur in Halle gestreikt worden ist, sondern dass sich dieser Kampf fast auf sämtliche Universitäten Deutschlands ausgedehnt hat. („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.) Die Studenten haben Sympathiestreiks beschlossen, Sympathieerklärungen losgelassen usw., eine Art Generalstreik der Studentenschaft wäre zustande gekommen („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.), wenn nicht schließlich die Regierung nachgegeben hätte. Meine Herren, die Regierung hat nachgegeben, und sie hat damit die Dekane und Dozenten der Universitäten preisgegeben. Das ist sehr charakteristisch.

Dieser reaktionäre, aus chauvinistischen, ausländerhetzerischen Gesichtspunkten heraus zustande gekommene Streik hat dermaßen die Sympathie der Regierung gefunden, dass sie die Universitätsleitungen, die sich zum Teil abwehrend gegen die Studentenstreiks verhielten, fallengelassen und den Studenten im Wesentlichen Recht gegeben hat.

Meine Herren, wir wollen folgendes nicht übersehen. Es ist zwar formell richtig, dass ein Ministerialerlass von 1906 besteht, wonach Ausländer nur dann zu den Kliniken zugelassen werden sollen, wenn sie das Physikum gemacht haben. Aber außer diesem Erlass bestehen eine ganze Anzahl von Erlassen verschiedenster Art, die es bis in die letzte Zeit hinein den Ausländern fast zu einem Ding der Unmöglichkeit gemacht, jedenfalls sehr erschwert haben, das Physikum zu machen, so dass sie auf diese Weise in die Notwendigkeit versetzt waren zu versuchen, auch ohne Physikum zu den Kliniken zugelassen zu werden. Das ist jedenfalls für Halle anerkannt worden. Das hat auch in der bürgerlichen Presse mehrfach seinen energischen Ausdruck gefunden. Das hat aber insbesondere in einer Eingabe seinen Ausdruck gefunden, die die Vertretung der ausländischen Klinikerschaft im Januar dieses Jahres an 13 deutsche Universitäten gerichtet hat. Dort ist darauf hingewiesen worden, dass die durch die verschiedenen Ministerial- und Reichskanzlererlasse geschaffene Rechtslage bisher den Ausländern, insbesondere den aus Russland stammenden Studierenden, die Ablegung der ärztlichen Vorprüfung erschwerte oder verbot. Meine Herren, dieser Tatsache haben die Universitätsleitungen Rechnung getragen und um deswillen haben sie sich für verpflichtet gehalten, die ausländischen Studenten zuzulassen, auch ohne dass sie das Physikum bereits abgelegt hatten.

Meine Herren, wenn die Rechtslage so einfach wäre, wie sie jetzt dargestellt wird, dass der Ministerialerlass von 1906 eindeutig gewesen wäre, dann hätte der Streik überhaupt gar nicht entstehen können, dann hätten vor allen Dingen, nachdem sich die Kliniker auf die Hinterfüße gesetzt haben, die Universitätsrektoren erst gar keinen Widerstand leisten können. All die langwierigen Diskussionen, bei denen es in der ersten Zeit durchaus den Anschein hatte, als ob die Streikenden Unrecht bekommen würden und als ob scharf gegen sie vorgegangen würde, sind doch nur aus der Tatsache heraus verständlich, dass trotz des Ministerialerlasses von 1906 eine absolut nicht geklärte Rechtslage bestand.

Meine Herren, der Herr Minister hat schon einige Maßnahmen zur Beschränkung des Universitätsbesuches durch Ausländer ergriffen. Inwieweit ihm die Befugnis zugesprochen werden kann, einfach über den Kopf der gesetzgebenden Faktoren hinweg derartige Maßregeln zu verfügen, mag dahingestellt sein. Es ist ja richtig, dass die Kultusverwaltung die souveränste von allen Verwaltungen in Preußen ist. Aber die Einrichtungen der Universitäten, soweit sie durch das Budget, durch den Etat betroffen sind, sind doch insoweit als festgelegt anzusehen, und ich möchte meinen, dass eine willkürliche Erhöhung der Institutsgelder für Ausländer, die von dem Herrn Minister bereits verfügt worden ist, von dem Herrn Minister allein nicht hätte verfügt werden dürfen.

Die Beschränkung der Zahl der Ausländer, der Numerus clausus, könnte meiner Ansicht nach durchaus nicht gebilligt werden. Es ist zu hoffen, dass die Kultusverwaltung von dieser Maßnahme Abstand nehmen wird.

Die Ausländer an preußischen Universitäten sind durchaus nicht so besonders zahlreich. Ich habe hier einen Artikel der „Täglichen Rundschau" vom 25. Februar dieses Jahres, in dem sich eine gute Zusammenstellung befindet. Es wird dort darauf hingewiesen, dass die Ausländerfrequenz im Jahre 1912 8,5 beträgt gegenüber 7,4 in der Zeit vor zehn Jahren. In dieser Zwischenzeit liegt aber die russische Revolution, liegt ein Erwachen des Orients, das dazu geführt hat, dass eine große Menge ausländischer Staaten, gerade des Ostens, eine vermehrte Zahl von Studenten ins Ausland schickt, die im Inlande selbst nicht die nötigen Bildungsmittel finden können. Der große Prozentsatz der serbischen, bulgarischen, rumänischen usw. Studentenschaft ist sicherlich ein Zeichen der kulturellen Erweckung dieser Gebiete. Meine Herren, im Übrigen beläuft sich aber auf den schweizerischen Hochschulen, die man zum Vergleiche herangezogen hat, der Prozentsatz der Nichtschweizer auf 43. Das ist ungefähr das Fünffache dessen, was sich an Ausländern auf deutschen Universitäten befindet.

Dass die russischen Studenten eine besondere Rolle unter den ausländischen Studenten spielen, ist bekannt. Das hat aber eine Ursache, die wir zu respektieren haben. In der Debatte ist schon darauf hingewiesen worden, dass die unerhörten politischen Zustände Russlands, diese kulturwidrigen Verhältnisse, speziell im russischen Bildungswesen, diese durchaus jedes Kulturstaates unwürdigen Zustände auf den russischen Universitäten mit ihrer Einschränkung der Zulassung der Juden, die vielfach nur in einem Prozentsatz von 1 oder 2 stattfindet –, dass alles dies die russische Jugend zu einem guten Teil geradezu in das Ausland zwingt.

Und soll man nun sagen, weil es sich zu einem großen Teil um russische Juden handelt, so dürfen wir engherzig sein? Die ganze Bewegung, von der ich spreche, richtet sich gegen die russischen Juden, das darf offen ausgesprochen werden. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.) Es ist also eine reaktionäre, antisemitische Bewegung, die sich zwar gegen die Fremden im Allgemeinen, aber in erster Linie gegen die Juden richtet.

Dieses Vorgehen der Klinikerschaft gegen die ausländischen Studenten ist um so betrübender, als die russisch-jüdischen Studenten ja hier in Deutschland nur allzu leicht misshandelt werden können. Sie unterliegen in Deutschland einer beschämenden Polizeiaufsicht und der fortgesetzten Ausweisungsgefahr. Darüber haben wir oft genug gesprochen. Sie finden auch keinen diplomatischen Schutz durch die Vertreter des Zaren in Deutschland. Sie werden ja aus ihrem Heimatlande selbst heraus gehetzt. Es sind also die wehrlosesten Menschen, die wir uns in Europa denken können, die aus ihrem eigenen Vaterlande fort getrieben, oft unter den größten Entbehrungen ihren Bildungsdurst im Auslande zu stillen versuchen, gegen die sich die „Ritterlichkeit" der deutschen Studenten wendet. Auf solche „Ritterlichkeit" hat die deutsche Studentenschaft keinen Anlass stolz zu sein, sie sollte sich ihrer schämen.

Vor hundert Jahren hatte die Studentenschaft einen anderen und ritterlicheren Geist, der von humanen Gedanken getragen war und nicht von den Empfindungen des Chauvinismus und des Antisemitismus, von denen gegenwärtig die „patriotische" Studentenschaft beherrscht wird.

Ich darf darauf hinweisen, dass ein Teil der russischen Studenten – wohl ausschließlich nichtjüdische – in schärfster Opposition gegen die große Mehrheit der russischen Studenten steht. Sie haben eine Landsmannschaft, jene Schwarzhundert-Landsmannschaft hier in Berlin gegründet, über die wir schon früher verhandelt haben.

Als nun die russischen Studenten vor kurzem in Karlsruhe zusammentraten, um über Maßregeln gegenüber der Klinikerbewegung zu beraten, entblödete sich diese russische Landsmannschaft nicht, ihren eigenen Landesgenossen in den Rücken zu fallen unter der Führung des Studenten Hamm, des Sohnes des hiesigen russischen Generalkonsuls. Das ist wirklich ein Heldenstück, das seinesgleichen suchen dürfte.

Die russischen Studenten sind in ihrer sittlichen Qualifikation von einem der bedenklichsten russischen Organe, von einem Organ, das man im allgemeinen kaum in einer anständigen Gesellschaft nennen darf, von der „Rossija"2 maßlos beschimpft worden, gewissermaßen als der Abschaum der Menschheit, der zur Verrohung der deutschen Universitäten beitrage.

Zu diesen Angriffen der „Rossija", die auch Widerhall in deutschen Zeitungen gefunden haben, haben mehrere Organe, darunter die „Vossische Zeitung" und die „Frankfurter Zeitung", eine Enquete veranstaltet durch Befragung angesehener Universitätsprofessoren. Diese Enquete ist in der „Frankfurter Zeitung" vom 30. August 1912 und in der „Vossischen Zeitung" vom 3. November 1912 veröffentlicht worden. Ich empfehle Ihnen, das nachzulesen. Sie finden in der „Frankfurter Zeitung" Äußerungen der Heidelberger Professoren von Lilienthal, Endemann, Schroeder, Gottlieb, Paul Ernst, Bütschli, Radbruch – gerade in Heidelberg sind viele russische Studenten, die sich angeblich besonders missliebig gemacht haben sollen –, Äußerungen, die sich auf das Schärfste gegen die Beschuldigungen der „Rossija" wenden.

Die deutschen Universitätsprofessoren, die die beste Gelegenheit haben, die russischen Studenten zu beobachten, ihren Fleiß und ihrer Opferwilligkeit im Interesse der Wissenschaft und ihrer Fortbildung zu beurteilen, haben den russischen Studenten geradezu glänzende Zeugnisse ausgestellt. Das gilt auch von den Berliner Professoren. Es ist vielleicht zweckmäßig, Ihnen wenigstens einige davon mitzuteilen. Professor Ludwig Bernhard, der Ihnen bekannte und sicherlich nicht linksstehende Universitätslehrer, sagt unter anderem in seinem Schreiben an die „Vossische Zeitung": „Dass wir an unseren deutschen Universitäten, insbesondere in Berlin, Gelegenheit haben, auf diesen slawischen Geist einzuwirken und von ihm zu lernen, betrachte ich als einen großen Vorteil, und oft beobachte ich in meinen Seminarübungen, wie die jungen Russen arbeiten, die unter Entbehrungen zu Erfolgen gelangen (Abgeordneter Hoffmann: „Hört! Hört!"), und von denen ich hoffen kann, dass sie der Wissenschaft nutzen werden." Professor Haberlandt sagt, es sei ihm bisher weder in den Vorlesungen noch bei den praktischen Übungen ein ungehöriges Benehmen seiner russischen Schüler aufgefallen. Geheimrat Hertwig lässt sich ganz besonders ausführlich aus. Er sagt: „Nach den Erfahrungen, die von mir und manchen meiner Kollegen in vielen Jahren gemacht worden sind, nehmen es die russischen Studenten der Medizin mit ihren Studien im Allgemeinen ernst und zeichnen sich mit wenigen Ausnahmen durch fleißigen Besuch sowohl der Vorlesungen als auch der praktischen Übungen und der Kurse aus. Dass trotz mancher erschwerender Umstände, wie der Erlernung der deutschen Sprache, die russischen Studenten sich auch ein gründliches medizinisches Wissen in nicht geringer Zahl aneignen, lehren die examina rigorosa, denen sich die meisten am Schluss der vorgeschriebenen Studienzeit unterziehen. Was endlich die Stellung zu unseren einheimischen Studenten betrifft, so sind mir Misshelligkeiten oder nennenswerte Beschwerden der ersteren über ihre russischen Mitstudierenden bis jetzt nicht zu Ohren gekommen." Und dann kommt ein Appell des Professors Hertwig, der sehr beherzigenswert ist: „Ist doch der deutsche Student in der Tradition aufgewachsen, dass unsere Universitäten freie Bildungsstätten sind, die in liberaler Weise allen, welche die erforderliche Vorbildung mitbringen, zur Vervollkommnung ihres Wissens geöffnet sind, und dass es ein Ruhmestitel zumal einer großen Universität ist, wenn sie eine Anziehung auf Studierende anderer Länder ausübt und auf diesem Wege deutsche Kultur auch außerhalb des eigenen Landes zur Geltung bringt."

Geheimrat Professor Waldeyer, an dem während 30 Jahren, in denen er den anatomischen Unterricht an der Berliner Universität leitet, nahezu 1000 russische Zuhörer vorübergezogen sind, die auch an den praktischen Übungen teilgenommen haben, sagt, dass die Mängel, die früher dann und wann bei einigen bestanden haben, sich von Jahr zu Jahr weniger bemerkbar gemacht haben, dass die Angaben der „Rossija" selbst in Bezug auf jene einigen bei weitem übertrieben seien. Er müsse der „Rossija" auf das Entschiedenste widersprechen. „An Achtung vor ihren Lehrern, an Dankbarkeit gegen sie und vor allem an Fleiß und redlichem Bemühen, etwas zu lernen, haben es die russischen Studenten und Studentinnen im Berliner Anatomischen Institut nicht fehlen lassen. Davon erhalte ich noch jährlich rührende Beweise aus dem weiten russischen Reiche."

Was hier Professor Waldeyer sagt, ist hundertmal mehr wert als die Beschwerde irgendwelcher kleinlich gesinnten studentischen Kreise oder die Verunglimpfungen der „Rossija". Deshalb ist der lebhafte Wunsch und die Forderung auszusprechen, dass unsere Universitätsverwaltung sich nicht zu weiteren einschränkenden Maßregeln gegenüber den Ausländern treiben lässt und dass die bisherigen Einschränkungen, die vom Herrn Minister getroffen worden sind, wiederum aufgehoben werden.

Die ausländischen Studenten erheben geradezu die Forderung, dass sie zu möglichst allen Examina zugelassen werden. Sie wollen keineswegs eine Ausnahmestellung haben, sie wollen keine Examina erlassen haben, im Gegenteil, sie empfinden es als eine Zurücksetzung, dass man sie nicht in vollem Umfang zum Examen zulässt. Wenn alle Einschränkungen in dieser Beziehung beseitigt werden, dann kann man überzeugt sein, dass die Mängel, wie sie bisher infolge der Maßregeln der deutschen Universitätsverwaltungen bestehen, aufhören werden.

Meine Herren, ich möchte mich jetzt zur Frage der Marburger theologischen Fakultät wenden. Vorhin hat der Herr Abgeordnete Dr. Bredt schon einen Triumphgesang angestimmt, dass sich bisher niemand auf die Seite des Herrn Professor Jülicher3 in Marburg gestellt habe. Hierbei wird der Herr Abgeordnete Dr. Bredt wohl schon von vornherein die Mentalreservation gemacht haben, dass der Sozialdemokrat voraussichtlich eine Ausnahme bilden werde.

Ich muss sagen, diese Schrift des Herrn Professor Jülicher ist so tapfer, dass man ihm nur zurufen kann: Bravo! Alle Angriffe gegen die Schrift des Herrn Professor Jülicher laufen darauf hinaus, dass man Missstände, von denen man weiß, dass sie bestehen, zu vertuschen sucht. Man hat nicht den Mut, die Konsequenzen zu ziehen, die der Herr Professor Jülicher gezogen hat. Dieser hat sich erst nach langen Kämpfen, wie er schildert, dazu entschlossen, in die Öffentlichkeit zu gehen, und er hat das auch motiviert. Er sagt – ich will diese Bemerkung im Wortlaut vortragen –, es würde ihn selbst die Gefahr des Ruins der theologischen Fakultät in Marburg zu dem schweren Schritt nicht bestimmt haben, mit seiner Anklagebroschüre an die Öffentlichkeit zu treten, wenn er in dem Vorgehen gegen die Marburger theologische Fakultät etwas Einmaliges, Vereinzeltes zu erblicken vermöchte und nicht vielmehr die Wirkung einer Regierungsmethode, der später auch andere Fakultäten zum Opfer fallen und unter der das gesamte Universitätswesen in Preußen leiden müsste. Herr Professor Jülicher führt das im Einzelnen aus, und es ist von großem Interesse zu sehen, wie er gegen die Reglementierungssucht der preußischen Universitätsverwaltung zu Anklagen gelangt, die sich durchaus mit den Angriffen decken, die bereits früher von der Sozialdemokratie und auch sonst von energisch oppositioneller Seite erhoben worden sind. Er weist darauf hin, wie bei der Berufung in akademische Lehrämter nach allgemeiner Auffassung der Einfluss „persönlicher Beziehungen, hoher Empfehlungen und der Parteizugehörigkeit" zunimmt. Er spricht von einem „übel beratenen Parteiregiment", das bereits seit 20 Jahren mit wachsender Rücksichtslosigkeit bei den theologischen Fakultäten an den Universitäten – man kann wohl sagen innerhalb der gesamten Universitätsverwaltung ebenso wie in der Kirche in Preußen – wirke.

Herr Professor Jülicher spricht von drei Gründen, die zu diesem Resultat geführt haben, nämlich: „… von einem Erbfehler der Konservativen Partei in Preußen, von Vorspiegelung falscher Tatsachen durch eine Gruppe innerhalb der kirchlichen Partei der Positiven4 und von der falschen Orientierung des Kirchenregiments."

Nun, meine Herren, der Erbfehler der Konservativen Partei wird ja wohl, da er eben ein Erbfehler ist, eine Erbsünde der Konservativen Partei, solange sie lebt, nicht ausgetrieben werden können. Wie der Mensch seiner Erbsünde nach kirchlicher Lehre erst nach dem Tode ledig werden kann (Lachen im Zentrum.), so wird die Konservative Partei ja wohl auch diese Erbsünde erst nach ihrem Tode los werden. – Ich will mich lieber negativ ausdrücken: jedenfalls nicht vor dem Tode. Vor dem Tode kann man ja nicht selig und nicht heilig werden. – Der Erbfehler der Konservativen Partei ist nach Auffassung des Herrn Professor Jülicher, dass sie sich so einseitig in die Hände einer bestimmten wirtschaftspolitischen und kirchenpolitischen Richtung begeben hat. Hier muss ich dem Herrn Professor Jülicher sagen, dass er ein klein wenig naiv ist, denn das macht gerade das Wesen der Konservativen Partei aus, wie sie heute bei uns in Preußen ist – in ganz Deutschland, kann man fast sagen –, dass sie diese kirchliche und diese wirtschaftspolitische Richtung vertritt.

Meine Herren, charakteristisch ist der Hinweis, wie die Konservative Partei nach Auffassung des Herrn Professor Jülicher von dem kirchlich-positiven Klüngel durch geschickte Drahtzieherei gewonnen worden ist und wie dieser Klüngel das preußische Kirchenregiment eingesteckt hat, das nunmehr in Abhängigkeit ist einmal von dem kirchlich-positiven Klüngel und dann von der Konservativen Partei, die ja, wie allgemein bekannt ist, zu den gottgewollten Abhängigkeiten der preußischen Regierung gehört.

Herr Professor Jülicher nennt es einen geradezu entehrenden Zwang, dass vor der Berufung jedes Professors in eine theologische Professur ein Gutachten des Oberkirchenrats über seine kirchliche Unanstößigkeit einzuholen ist. Meine Herren, das ist ein starkes Stück! Ich habe bis dahin nichts davon gewusst.

Also der Oberkirchenrat wacht über die Geistlichen. Die Geistlichen werden naturgemäß, man kann das verstehen, einem etwas strafferen Regiment leichter unterworfen werden können – es lässt sich das in einem gewissen Sinne leichter motivieren – als Universitätsprofessoren, die Forscher sein sollen. Der Oberkirchenrat ist aber selbst bei der Geistlichkeit nur im Disziplinarwesen und in einem gewissen Sinne an der Spruchjudikatur im Irrlehreverfahren beteiligt. In Bezug auf die Universitätsprofessoren wirkt es präventiv, um zu verhindern, dass ein Professor an die theologischen Fakultäten kommt, der nicht von vornherein den Stempel des Oberkirchenrats trägt, der nicht die oberkirchenrätlich approbierte kirchliche und religiöse Gesinnung hat oder zur Schau trägt oder heuchelt; denn, meine Herren, dass damit nur Heuchler erzogen werden, ist ja ganz selbstverständlich.

Sie wollen ja im Grunde genommen gar nichts anderes. Sie wissen, dass nur Heuchelei auf einem solchen Boden gedeihen kann. Aber Sie meinen, dass, wenn den Betreffenden durch Terrorismus und Zwang, durch solche Zensurarbeit wenigstens der Mund verbunden ist, damit die Ausstreuung des Giftes des protestantischen Modernismus in das allgemeine Publikum verhindert wird. Das allein ist die Gefahr, die Sie besorgen, dass die Saat des protestantischen Modernismus in die Höhe schießen könnte. Ich möchte fast sagen, dass die antimodernistische Gesetzgebung des Päpstlichen Stuhles im Vergleich zu der bürokratischen Kleinlichkeit gegen jede modernistische Regung in der evangelischen Kirche und an den Universitäten ein reines Kinderspiel darstellt. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, eine solche Systematisierung der Überwachung der Gesinnung der Theologieprofessoren, wie sie hier vom Oberkirchenrat vorgenommen worden ist, geht noch weiter als selbst die in der katholischen Kirche. Das nennt man dann protestantische Kirche, die sich einstens von Rom losgelöst hat, weil sie unter dem römischen Krummstab nicht genug Freiheit zu haben behauptete. In Bezug auf die Gebundenheit – um alles in der Welt, da ist es in der Tat schwer zu entscheiden, wer da dem anderen voran ist!

Meine Herren, die Vorwürfe des Herrn Professor Jülicher werden scharf dahin zugespitzt, dass das ganze System des preußischen Kirchenregiments und des preußischen Universitätsregiments umgestaltet werden müsse, wenn nicht die Universitäten in schwerster Weise zu Schaden kommen sollen. Er nennt den positiven Klüngel eine „Versicherungsgesellschaft auf Gegenseitigkeit", die den Zweck verfolge, dafür zu sorgen, dass nur die Mitglieder dieses Klüngels unter hohem obrigkeitlichen Protektorat in die Fakultäten aufgenommen werden. Er spricht von den „Staatskirchenkrippen". Er beschwört das Gespenst des Ministers von Mühler und erinnert, dass die kleinliche Praxis, die jetzt bei uns in Preußen in Bezug auf das Kirchenregiment und die Universitäten besteht, schon damals Schiffbruch erlitten hat, trotz alledem. Indem er auf den Fall Jatho eingeht, den er im Zusammenhang mit der ganzen Angelegenheit betrachtet wissen will, zitiert er das Wort: „Besser ein lebendiger Hund als ein toter Löwe." Er variiert es dahin: „Besser ein lebendiger Tiger als ein toter Elefant." Er spricht davon, dass der Herr Minister „in seiner männlichen Art" sich ja hoffentlich schließlich wehren werde gegen die Zumutungen, die ihm von kirchlich-orthodoxer Seite gestellt werden.

Meine Herren, wir haben bisher von der männlichen Art des Herrn Ministers in der Beziehung nichts gemerkt. Wir haben jede Männlichkeit – wenn ich dieses Wort gebrauchen soll – des Herrn Ministers gegenüber reaktionären Bestrebungen vermisst und vielmehr den Eindruck gewonnen, als ob der Herr Minister sein einziges Heil und Glück darin erblickt, der kirchlichen Reaktion mit allen Kräften Vorschub zu leisten. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Der Herr Professor Jülicher verweist darauf, dass es ein Ding der Unmöglichkeit ist, mit Gewaltmitteln die kirchlichen Richtungen zu beeinflussen. Er sagt: Die herrschenden Gewalten haben zwar die Macht, aber die Macht ist nicht gleich Kraft, und er meint, dass das Protektionssystem zugunsten der kirchlichen Reaktion schließlich doch scheitern müsse. Er verweist – und das ist besonders interessant – darauf: „Wenn nicht auf politischem Gebiet die gemeinsame, aber fast entehrende Angst vor der Sozialdemokratie die verschiedensten Elemente in der Abneigung gegen jede Betätigung von Freiheit verbände, wenn sie sie nicht so blind machte, dass etwas bloß als Vorfrucht der Sozialdemokratie angeschrien zu werden braucht, um als anrüchig und destruktiv zu gelten, so wäre schon längst auch in Preußen die Herrschaft in kirchlichen Dingen wenigstens an die Mittelpartei übergegangen."

Meine Herren, das ist richtig. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.) Die Mittelparteien haben verzichtet auf die Geltendmachung ihrer Macht, die sie benutzen könnten, um sich den politischen Einfluss auch in kirchlichen Dingen zu verschaffen, aus Angst vor der Sozialdemokratie, und haben so die Herrschaft den Herren von der Rechten, den reaktionärsten Elementen, überlassen. („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, wenn es richtig ist, wie Herr Professor Jülicher sagt, dass im Verlaufe von sieben Berufungsfällen die Fakultät einmal gar nicht gefragt worden ist, viermal die Entscheidung gegen ihre Wünsche ausgefallen ist und nur zweimal ihre Bitten berücksichtigt worden sind („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.), so ist, glaube ich, durch diese einfache Tatsache erwiesen, dass die Selbstverwaltung der Universitäten in Bezug auf die wichtigste Frage, die Berufung der Dozenten, eine einfache Illusion ist. Das, was der Titel der Broschüre andeutet, die Entmündigung der preußischen Universitäten, ist nur die Konstatierung einer Tatsache.

Wenn ich mich nun noch mit einigen Worten befasse mit dem Geiste der Studentenschaft, der heute von allen Seiten so sehr gerühmt worden ist, kann ich um so kürzer sein, als ich bei Erörterung des Klinikerstreiks diesen Geist der deutschen Studentenschaft in mancher Richtung habe kennzeichnen können.

Meine Herren, man würde durchaus fehlgehen, wenn man den Geist der deutschen Studentenschaft als einen idealistischen bezeichnete. Im Gegenteil, diejenigen Kreise, deren Auftreten Ihnen so erwünscht und willkommen ist, haben nicht die Spur von irgendeinem Idealismus. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.) Das sind die Kreise, die erfüllt sind von engherzigem Strebertum und Materialismus, das sind die Karrieristen, dieselben Kreise, die als Zweck des Universitätsstudiums betrachten und ihre ganze Lebensaufgabe darin sehen, die politische Herrschaft und die wirtschaftliche Macht der oberen Klassen zu verstärken und das, was sie von ihren Vätern ererbt haben, in möglichst ausgiebiger Weise zum Schaden der Gesamtheit noch zu vermehren.

Es ist ja gar keine Rede davon, dass man jenen wahren Idealismus, der einstens die deutsche Studentenschaft erfüllt hat, in dem Gros der deutschen Studentenschaft heute noch fände. Diese Gesinnung finden Sie in der ärmeren Studentenschaft allerdings heute noch, unter der die Ausländer einen so großen Prozentsatz ausmachen. Diese arme Studentenschaft ist gerade darum in der Regel nicht von dem Geist erfüllt, der Ihnen erwünscht ist. Sie gehört zu demjenigen gelehrten Proletariat, vor das der Herr Abgeordnete Freiherr von Zedlitz im vergangenen Jahre drei Kreuze gesetzt hat, weil er in ihm eine schwere Gefahr für die gesamte künftige Entwicklung der Reaktion in Deutschland erblickt.

Das Beste, was das preußische Volk hat, ist die akademische Jugend." Gott, was sind das für Übertreibungen! Ich habe wirklich Verständnis für ein bisschen Überschwang in der Erinnerung an die akademischen Jahre. Ich verstehe das vollständig. Aber, meine Herren, wenn man dann solche Worte hört von einer Stelle aus, die doch die Aufgabe hat, sich dessen bewusst zu sein, dass die Gesamtheit des Volkes Objekt der Gesetzgebung und Verwaltung ist und dass die Gesamtheit des Volkes Berücksichtigung verdient, dann muss man doch solche Äußerungen auf das Schroffste zurückweisen. Das ist nur ein instinktives Eingeständnis dessen, was wir immer behaupten, dass Sie sich selbst für das Beste vom Volke halten. Und da Sie Ihre Jugendzeit für das Beste von sich halten, so kommen Sie zu dem Resultat, dass die akademische Jugend das Beste vom preußischen Volke sei. Meine Herren, das ist eine ganz und gar verkehrte Schlussfolgerung.

Der ritterliche, fröhliche Geist, von dem die Rede gewesen ist, kann, wie mir scheint, in unserer Studentenschaft lange gesucht werden. Dieser ritterliche Geist ist gerade in Ihnen nahestehenden Kreisen nur in dem ganz äußerlichen Sinne vorhanden, dass die Studenten ihre Mensuren schlagen, dass die Studenten wissen, wie sie den Hut abzunehmen haben, dass Sie die sogenannte gute Kinderstube, auf die Sie so viel Gewicht legen, das äußere Betragen, den äußeren Schliff bekommen. Aber wie es in diesen Kreisen mit der innerlichen Ritterlichkeit bestellt ist, davon könnte man wohl ein Lied singen. Das zeigte sich in dem Streikexzess, das zeigt sich in den Saufexzessen, das zeigt sich – (Lachen und Zurufe rechts: „Streiks?") – Ja, meine Herren, das hat sich bei dem Klinikerstreik in Halle gezeigt. Haben Sie nicht zugehört? Dann waren Sie vorhin nicht da (Abgeordneter von Pappenheim: „Es schlief sich so schön!"); da habe ich diesen Punkt erörtert. – Seien Sie vorsichtig mit Ihren Zwischenrufen! – Diese Dinge sind so beschämend, dass man von ritterlichem Geist nicht sprechen sollte; und die ganze Ausländerhetze gehört in dasselbe Gebiet. Ich will im Übrigen nur darauf hinweisen, dass dieser „ritterliche" Geist, der sich in den Mensuren, in dieser rein äußerlichen, formellen Ritterlichkeit, die sich jeder Mensch anstudieren kann, von uns nicht einen Pfifferling geachtet wird.

Sie können immer wieder erleben, dass Leute als Hochstapler auftreten können und eine Gefahr für unser ganzes Wirtschaftsleben bilden, weil sie sich diesen äußerlichen Schliff angeeignet haben, obwohl sie Verbrechernaturen im ausgeprägtesten Sinne des Wortes sind. Ich brauche nur auf das Milieu zurückzugreifen, das der Stallmannprozess jetzt wieder vor aller Augen zeigt. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.) Das ist dasselbe Milieu (Rufe rechts: „Studenten?") – das ist dasselbe Milieu in Bezug auf die äußere „Ritterlichkeit", das Ihnen auch für die Studenten wertvoll erscheint. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.) Es ist gar kein Zweifel, dass die äußere Ritterlichkeit dieser prächtigen Kavaliere, die im Stallmannprozess aufgetreten sind, ihnen die Pforten zu jedem feudalen Korps geöffnet hat. (Lachen bei den Konservativen.) Ich bin sogar überzeugt: Die Leute haben in feudalen Korps verkehrt und werden dort als freudige Errungenschaft begrüßt worden sein, weil sie die Ritterlichkeit in diesem Sinne besessen haben.

Im Übrigen habe ich gerade in Bezug auf die Mensuren ein sehr interessantes Material aus Bonn. In Bonn werden die Mensuren vor den Augen der Polizei, unter genauer Kenntnis der Polizeibehörden (Zuruf bei den Sozialdemokraten.) – ich spreche jetzt nur von Bonn, in anderen Städten ist's natürlich nicht besser – ausgefochten, und obwohl die Judikatur bekanntlich die Mensuren als eine strafbare Handlung betrachtet, wird dagegen nicht eingeschritten.

Nun ist einem Bonner Bürger die Geduld übergelaufen. Er hat bei der Universitätsverwaltung Beschwerde erhoben. Darauf hat er vom Rektor der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Anfang des vergangenen Jahres die Antwort bekommen: „Auf Ihr Schreiben vom 20. erwidere ich, dass ich keine Veranlassung habe, mich in einen Schriftwechsel über die studentischen Mensuren einzulassen. Ein Grund zu einer Beschwerde Ihrerseits scheint mir um so weniger vorzuliegen, da Sie nicht einmal in der Nachbarschaft der angegebenen Verbindungshäuser Ihre Wohnung haben." Diese Antwort ist frivol, ist einfach gesetzesverächterisch! Dieser Universitätsrektor sollte sich nicht als ein Lehrer der Jugend aufspielen. Er verspottet mit der Art seines Auftretens einfach seine Pflicht und Schuldigkeit, für Ruhe und Ordnung und Innehaltung der Gesetze zu sorgen. Dergleichen Dinge sind ein Skandal!

Als der betreffende Bürger sich damit noch nicht zufriedengab, erneut an den Universitätsrektor schrieb und um weitere Prüfung der Angelegenheit bat – er hatte seinem Schreiben eine Fünfpfennigmarke beigelegt –, da bekam er darauf eine Postkarte. Das ist die zweite Antwort: „Die Ihrem Schreiben vom 29. vorigen Monats beigefügte Fünfpfennigmarke folgt auf dieser Karte zurück. Universitätssekretariat." (Heiterkeit rechts.) Das war die schnoddrige Antwort des Universitätsrektors, der sich schämen sollte, sich in dieser Weise hier gegenüber seinen gesetzlichen Verpflichtungen aufgespielt zu haben. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.) Meine Herren, dass das mit dem Ausdruck „schnoddrig" noch sehr zahm bezeichnet ist, ist doch wohl selbstverständlich. Der Mann hat einfach die Pflicht und Schuldigkeit, darauf zu sehen, dass die Studenten Gesetz und Recht innehalten.

Wir haben eine besondere Universitätsdisziplin. Wir haben wiederholt hier gefordert und Anträge gestellt, dass die Studenten von ihrer Beschränkung der persönlichen Freiheit befreit und staatsbürgerlich gleichgestellt werden mit den anderen Bürgern. Meine Herren, wir haben diese Forderung nur zu erheben gehabt in Bezug auf das Vereins- und Versammlungsrecht, weil hier wiederum aus Gründen der kleinlichsten politischen Engherzigkeit den Studenten Schwierigkeiten bereitet worden sind und fortgesetzt bereitet werden. Aber allerdings in Bezug auf die Übertretung solcher Strafgesetze, die Ihnen (nach rechts) nicht wichtig genug zu sein scheinen, weil diese Übertretungen Ihre Interessen nicht berühren, und die Sie (nach rechts) ja alle jeden Tag zu übertreten bereit sind, nach Ihrer gesellschaftlichen Anschauung haben die Studenten eine erstaunliche Freiheit. Da hält sich der Universitätsrektor nicht für verpflichtet einzuschreiten.

Ich bin überzeugt, wenn in Bonn die Freie Studentenschaf5 einen Vortrag halten lassen würde, der irgendwie unbequem erschiene, würde der Universitätsrektor sofort dazwischenfahren und plötzlich einsehen, was studentische Disziplin heißt. („Sehr wahr!") Aber hier, wo es sich darum handelt, dass das Strafgesetz vor aller Augen in skandalöser Weise übertreten wird, da findet das den Hohn, den ich Ihnen vorgetragen habe.

Auch ein drittes Schreiben ist in ähnlicher Weise erledigt worden: „Auf Ihre gefällige Anfrage vom 5. dieses Monats verfehle ich nicht zu erwidern, dass ich auch meinerseits keine Veranlassung finde, mich mit Unberufenen in einen Schriftwechsel über die studentischen Mensuren einzulassen." Meine Herren, das schreibt der Universitätsrichter.

Aber das Gegenstück ist hier sofort präsent. Bei der Angelegenheit, die ich jetzt vorbringen will, handelt es sich auch um Bonn. Da wird von einem Manne, der Flugblätter verteilen will, die Genehmigung dazu bei der Polizei nachgesucht. Er bekommt die Genehmigung, die ihm ja erteilt werden musste, aber in folgender Form: Es wird ihm die Erlaubnis erteilt, an Werktagen Flugblätter zu verteilen; an Sonn- und Feiertagen darf während des Hauptgottesdienstes eine Verteilung nicht stattfinden; „Verteilung vor der Universität ist verboten." („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.) Meine Herren, ich habe zwei derartige Kulturdokumente hier in den Händen. Beide Male ist der Satz noch nicht in dem Formular enthalten gewesen, sondern hineingeschrieben: „Verteilung vor der Universität ist verboten."

Das ist die andere Seite der akademischen Freiheit, die eben nur in dem Rechte besteht, sich rücksichtslos betragen zu dürfen gegen die Staatsordnung, trinken zu dürfen in größerem Maße, als andere Staatsbürger das im Allgemeinen für gesittet halten, Mensuren zu schlagen unter Missachtung der Strafgesetze und schließlich auch einen kleinen Landfriedensbruch zu begehen, wenn es darauf ankommt, ohne dass die Staatsgewalt dagegen einzuschreiten die nötige Kraft findet.

Meine Herren, der Geist der deutschen Studentenschaft ist wahrlich keineswegs so besonders großzügig, dass man Anlass hätte, sich heute dafür ins Zeug zu legen.

Meine Herren, ich erinnere daran, welch unglaublich komische Rolle die deutsche Studentenschaft bei den Feierlichkeiten gespielt hat, die vor einigen Monaten, im Februar, aus Anlass der Anwesenheit des Königs in Königsberg stattgefunden haben. Die Frage, wer bei dieser Feierlichkeit die Lakaiendienste am besten verrichten könne („Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.), hat den Studenten ganz besonders viel Kopfzerbrechen gemacht. („Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.) Meine Herren, wenn ich sehe, wie nach den Schilderungen in der Zeitung – ich habe hier eine Schilderung des Sekretariats der Königsberger Universität – die einzelnen Rollen, die einzelnen Hofämter verteilt worden sind unter die studentischen Korporationen, dann muss man sagen: Es könnte geradezu ein Hund heulen, wenn man heute diesen Geist auf unseren Universitäten sieht.

Meine Herren, der große Kampf darum: Wer ist berechtigt, das Kaiserhoch auszubringen! Da war der jüdische Verein ausgelost worden. Welch eine Wendung durch Gottes Fügung! Was hätte entstehen können, wenn der jüdische Verein wirklich das Kaiserhoch ausgebracht hätte!

Nun weiß man nicht, was eigentlich passiert ist; die Nachrichten sind widersprechend. Das kaiserliche Hofmarschallamt bestreitet ja, dass man um deswillen, weil es sich um die jüdische Organisation handelte, dieser das Kaiserhoch etwa entzogen habe. Aber, meine Herren, Sie wissen ja aus Ihrer eigenen Taktik hier im Hause, wie es da so neben den offiziellen Schritten offiziöse und halb offiziöse Schritte gibt („Sehr wahr!" und Heiterkeit bei den Sozialdemokraten.), wie man so Fühlung nehmen kann und durch eine Hintertür, vermittelst eines Dritten, von dem man offiziell nichts weiß, seine Zwecke erfüllen lässt. Wahrscheinlich sind den Königsberger Staatsstützen die Perücken zu Berge gestiegen bei dem Gedanken, dass jüdische Studenten das Kaiserhoch ausbringen sollen, und auf dem Hofmarschallamt wird wahrscheinlich Aufruhr geherrscht haben und Angst vor der Posaune des jüngsten Gerichts, und so hat denn schließlich durch einen Staatsstreich ein anderer freier deutscher Bursch' das Kaiserhoch ausbringen dürfen. Meine Herren, wem da das Herz nicht übergeht, und wer nun nicht weiß, wie ritterlich und groß und frei und ideal der Geist unserer Studentenschaft ist, dem ist nicht zu helfen: Drastischere Beweise kann ich dafür nicht bringen.

Meine Herren, ich muss Ihnen sagen: Es ist geradezu unerträglich, in der Presse die einzelnen Nachrichten über die Art zu verfolgen, wie die Studentenschaft die sogenannte Jubiläumsfeier vorbereitet, die ja nun schon durch die allen Staatsstützen höchst willkommene Verquickung des Kaiserjubiläums6 mit dem Jubiläum von 1813 einen ganz besonderen Stich in das Höfische bekommen hat.

Wenn man sieht, wie sich da die einzelnen Korporationen geradezu miteinander um die Ehre raufen, irgendwelche kleinen Ämterchen ausfüllen zu können, welche lächerliche Etikettefragen die deutsche Studentenschaft leidenschaftlich zerklüften, meine Herren, dann muss man doch wirklich sagen, einen kleinlicheren, unwürdigeren Geist als den, der darin zum Ausdruck kommt, kann man sich überhaupt gar nicht vorstellen. Es ist ein reines Wettlaufen im Byzantinismus, das sich da in der Studentenschaft zeigt, und dieses Wettlaufen (Zuruf bei den Sozialdemokraten.), meinethalben auch dieses Wettkriechen im Byzantinismus muss um so unangenehmer und unerträglicher wirken, als es im Anklang an das Jahr 1813 geschieht. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, es fällt einem schwer, Ruhe zu bewahren, wenn man hier in diesem Hause über das Jahr 1813 spricht. Es fällt einem ganz besonders schwer, Ruhe zu bewahren, wenn man im Hinblick auf diese byzantinischen Ausschweifungen, die gerade dieses Jahr ausfüllen und von denen auch die Studentenschaft erfüllt ist, von dem Jahr 1813 und dem, was vorangegangen ist, reden soll. Meine Herren, wenn ein Körner diese Feier des Jahres 1813 durch die deutsche Studentenschaft im Jahr 1913 erlebt hätte, er hätte nur ein Wort gefunden: Pfui! („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.) und nichts anderes. (Lachen rechts und im Zentrum.) Er hätte dieses einzige Wort gefunden. (Erneutes Lachen rechts.) Ja, meine Herren, wenn heut ein Geist hernieder stiege von jener Art, dann müsste es Ihnen in der Tat bange sein. (Heiterkeit.) Einen einzigen von den Leuten, die jetzt blasphemisch gelobt und gerühmt werden, einen einzigen wünschten wir hier zur Stelle, und wir möchten sehen, welchen Schmerz es ihm bereiten würde, wenn er sähe, was nach 100 Jahren aus dem deutschen und preußischen Volke geworden ist, für das die Leute damals ihr Bestes hingegeben haben. (Unruhe und Zurufe rechts.) So liegt es in der Tat, meine Herren! Was ich sage, sage ich eben gerade um deswillen, weil ich das Jahr 1813 in seiner Bedeutung erkenne (Heiterkeit.) und weil wir es schützen wollen vor dem ständigen und systematischen Missbrauch, den Sie mit dem heiligen Namen dieses Jahres treiben. (Zurufe von den Konservativen. „Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, wir brauchen Sie nur an die Art zu erinnern, wie große deutsche Dichter und Denker über die Zeit 1813 und später geurteilt haben, wie ein Gneisenau darüber gedacht hat. Wie er, ein Mann, der mit an der Wiege der preußischen Freiheit gestanden hat, nach den Karlsbader Beschlüssen die Faust geballt hat gegen das Regiment des Preußen, das er groß zu machen geholfen hat.

Kennen Sie nicht die rasselnden Worte Uhlands, Platens und aller der Dichter des Vormärz? „Freiheitskriege fürwahr! Sagt, war Miltiades etwa mit den Baschkiren im Bund, als er die Perser bezwang?" Kennen Sie die peitschenden Verse von Platen und anderen politischen Dichtern des Jungen Deutschlands und der Romantiker? Jeder einzelne ist für Sie ein Schlag in das Gesicht und ist eine Brandmarkung der heutigen politischen Zustände, eine Zurückweisung des Versuchs, das Jahr 1813 für Ihre reaktionären politischen, chauvinistischen Zwecke auszubeuten. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Dieser Wettlauf im Byzantinismus! Darf ich Sie an eins der schönsten Studentenlieder erinnern, das Sie vielleicht auch gern gesungen haben:

Und die auf ihren Schätzen brüten,

Wie lach' ich die Philister aus!

Ich kann mein volles Herz nicht hüten,

Und jedem offen steht mein Haus.

Entsinnen Sie sich des Verses:

Wie sich die armen Toren plagen,

Für sich erst, dann für's Vaterland!

Geduldig alle Lasten tragen,

Um Amt und Würden, Stern und Band.

Wie leicht wär's, ihnen nachzustreben,

Blieb dabei nur die Seele rein.

Meine Herren, dieser Idealismus, der auf Reinlichkeit der Seele hält, der ist in dem größten Teil der deutschen Studentenschaft heute leider verschwunden, er hat einem Byzantinismus hässlichsten Charakters Platz gemacht.

Meine Herren, man kann nach alledem nur sagen, dass das Jahr 1913 die deutsche Studentenschaft nicht in einer Verfassung findet, die geeignet wäre, den guten Ruf der deutschen Studentenschaft zu vermehren, vielmehr dass die Art, wie das Gros der deutschen Studentenschaft sich in diesem Jahre verhält, speziell in Bezug auf die Jubiläumsfeiern, ein sehr wenig rühmliches Blatt in der Geschichte der deutschen Studentenschaft darstellt. („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Aber all das ist natürlich nur Wirkung des allgemeinen Geistes, der an unseren Universitäten herrscht, und auch dieser Geist auf unseren Universitäten ist nur ein Teil des gesamten Geistes der preußischen Staatsverwaltung, der von uns ja bei allen möglichen Gelegenheiten immer wieder gekennzeichnet werden muss. Dass dieser Geist auf den Universitäten ein Teil Ihres eigenen Geistes ist, kann von Ihnen um so weniger bestritten werden, als es sich ja um Ihre eigene Jugend handelt. Daraus erklärt sich auch, dass der an und für sich der Jugend innewohnende Idealismus, der in den Jahren um 1813 so wundervolle Formen angenommen hat, heute zumeist verschwunden ist. Diese Ihre Jugend ist eben erfüllt von dem junkerlich-kapitalistischen Materialismus der heutigen Zeit, von der Jagd nach Geld und Gut und von der Jagd nach politischen Privilegien. Sie ermangelt des Gefühls für freiheitliche Volksentwicklung, für Kulturförderung der Volksmassen. Sie ist vielmehr erfüllt von der Auffassung, dass die herrschenden Klassen all ihre Kraft, all ihre Macht einsetzen müssen, um die große Masse der Bevölkerung zu unterdrücken, um sie nicht aufkommen zu lassen, um ihr den Aufstieg zur höheren Kultur unmöglich zu machen.

Meine Herren, aus einer Gesellschaftsordnung und aus herrschenden Klassen, die derartige Prinzipien vertreten, verkörpern und durchzusetzen suchen, kann natürlich auch in der Jugend niemals eine Weltanschauung hervorgehen, die irgendwelchen Idealismus aufweist, und deshalb müssen wir die Redensarten von dem freien, ritterlichen, idealen Geist in unserer deutschen Studentenschaft unter den heutigen Umständen in das Gebiet der Fabel verweisen und konstatieren, dass unsere deutsche Studentenschaft durchaus nicht Veranlassung hat, auf dieses Jahr und die gegenwärtige Periode mit Stolz zu blicken! („Bravo!" bei den Sozialdemokraten. Lebhafte Pfuirufe rechts. Erneutes „Bravo!" bei den Sozialdemokraten. Erneute lebhafte Pfui-Rufe rechts. Wiederholtes lebhaftes „Bravo!" bei den Sozialdemokraten. Lachen rechts. Abgeordneter Hoffmann: „Endlich können Sie ja wieder lachen!")

II

Persönliche Bemerkung

Die Herren Abgeordneten Bell und von Hennigs-Techlin haben sich mit ein paar hilflosen Redensarten gegen meine Ausführungen gewendet. Ich hoffe, Gelegenheit zu haben, den Herren, soweit es nottut und wert ist, morgen noch sachlich antworten zu können.

III

5. April 1913

Meine Herren, wenn es eines Beweises bedurft hätte, dass meine Kennzeichnung des Geistes, der an den preußischen Universitäten herrscht, berechtigt ist, so hätte die Rede des Herrn Abgeordneten Schenk zu Schweinsberg genügt, die darin gipfelte, dass es die Aufgabe der Universitäten und Fakultäten sei, der Kirche und dem Staate zu dienen („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.), die aber nicht ein einziges Wort des Verständnisses dafür enthielt, dass die Universitäten vor allen Dingen, wie man sie einstens so schön genannt hat, freie Republiken des Geistes sein und der freien Forschung, der voraussetzungslosen Wissenschaft dienen sollen. Die Universitäten als Dienstmädchen, als Helfershelfer der Staatsgewalt, der Kirche, das ist das Ideal, das hier von dem Abgeordneten Schenk zu Schweinsberg unter dem Beifall des Hauses vertreten worden ist.

Es ist ganz richtig, wenn er seinen Gegensatz zu Professor Jülicher schließlich dahin prononciert hat, dass es sich um den Gegensatz verschiedener Weltanschauungen handelt. Das ist das einzig richtige, was er gesagt hat, und das habe ich ja bereits als meine Auffassung zum Ausdruck gebracht. Dass er von seinem Standpunkt aus in den unstreitigen Vorgängen natürlich keinen Grund für die heftigen Angriffe findet, die Herr Professor Jülicher erhoben hat, kann nicht wundernehmen; man muss von der Überzeugung durchdrungen sein, dass die Universitäten der staatlichen Bevormundung entzogen werden müssen, dass die wissenschaftliche Forschung und Lehre Selbstzweck sein muss, dass die Universitäten ohne freie Selbstverwaltung niemals ihre hohen Aufgaben erfüllen können, um die Schrift des Herrn Professor Jülicher würdigen zu können.

Mir ist in verschiedenen Zeitungen der Vorwurf gemacht worden, ich hätte gestern die deutschen Studenten angegriffen, verlästert und die ausländischen Studenten in den Himmel gehoben. („Sehr richtig!" bei den Konservativen.) Meine Herren, das ist ja grundverkehrt. Sie hätten, wenn Sie sich die Mühe gegeben hätten, wohl verstanden, welchen Sinn meine Ausführungen hatten. Es ist die erste Pflicht und Schuldigkeit eines jeden, dem Gerechtigkeit und Humanität kein leerer Wahn ist, dass er sich der Schwachen, der Unterdrückten annimmt und dass er diejenigen, die in der Macht sitzen, rücksichtslos angreift, um sie zu ihrer Pflicht gegen die Schwachen zu rufen. („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.) So ist es immer und immer unsere Aufgabe, unsere Kritik gegen die Starken, gegen diejenigen zu richten, die sich in der Macht befinden, um sie an ihre Pflichten gegen die Schwachen zu mahnen. So treten wir auch in diesem Studentenstreit als die Verfechter der Interessen der Schwachen auf, wenn wir damit auch keineswegs sagen wollen, dass die ausländischen Studenten über allen Tadel erhaben seien. Wer wird denn so töricht sein anzunehmen, dass die Sozialdemokraten sich einbilden, die ausländischen Studenten auf den deutschen Universitäten seien Engel? Davon ist kein Wort gefallen. Ich habe nur auf das energischste dagegen Front gemacht, dass man ihnen in so kleinlicher Weise die Gleichberechtigung auf den deutschen Universitäten vorenthält („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.) und ihnen systematisch den Zugang zu den deutschen Universitäten erschweren will.

Meine Herren, in den Morgenzeitungen finden wir heute die Nachricht, dass an der Leipziger Universität eine Lösung der Ausländerfrage gefunden sei, die wohl allgemein für ganz Deutschland Geltung bekommen werde und als befriedigend zu bezeichnen sei. Diese Lösung sei folgende: Vom kommenden Sommersemester an werden Abiturienten russischer Gymnasien an der Universität Leipzig im Allgemeinen nur angenommen, wenn sie bereits ein Jahr an einer russischen Universität immatrikuliert gewesen sind. Außerdem wird Ausländern, die offensichtlich die deutsche Sprache in einem den erfolgreichen Besuch der Vorlesungen gewährleistenden Umfange nicht beherrschen, die Aufnahme künftighin versagt werden. („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Wenn diese Meldung zutrifft, dann muss ich sagen, das Epitheton, dass diese Lösung befriedigend sei, ist durch und durch falsch. Das Gegenteil ist richtig. Diese Art der Lösung würde einfach die vollkommene Rechtloserklärung, den völligen Ausschluss derjenigen ausländischen Studierenden bedeuten, um die es sich hier in erster Linie handelt, nämlich der russischen Juden.

Wenn zur Voraussetzung ihrer Zulassung auf einer deutschen Universität gemacht wird, dass sie vorher ein Jahr lang in Russland studiert haben sollen, so wissen wir doch, dass der Zustrom russischer Juden nach den deutschen Universitäten ja gerade dadurch hervorgerufen wird, dass sie an russischen Universitäten überhaupt nicht ankommen. Wie sollen sie da nachweisen, dass sie ein Jahr lang auf einer russischen Universität studiert haben! Diese Bedingung setzen heißt also nichts weiter, als eine starre Barriere gegen die Zulassung der russischen Juden überhaupt errichten (Abgeordneter Hoffmann: „Sehr wahr!") und, wenn die Leipziger Meldung zutrifft, dann haben die allerreaktionärsten Bestrebungen einen vollen Erfolg erzielt. Ich möchte den dringenden Wunsch aussprechen, dass uns von Regierungsseite eine Aufklärung darüber gegeben wird, ob diese geradezu unglaublich klingende Zeitungsmeldung (Zuruf vom Regierungstisch: „Leipzig!") – Es wird aber, Herr Minister, in der Meldung gesagt, ich bitte ja doch um Aufklärung, dass diese neuen Bestimmungen voraussichtlich auf die gesamten Universitäten, wenigstens habe ich es so verstanden, ausgedehnt werden sollen. – Ich besorge, da in der Ausländerfrage überhaupt die preußische Unterrichtsverwaltung offenbar mit den anderen bundesstaatlichen Verwaltungen Hand in Hand gegangen ist, wenigstens eine gewisse Fühlung genommen hat, dass auch hier eine Verständigung mit den außerpreußischen Universitätsverwaltungen vorliegt. Ich würde sehr zufrieden sein, wenn ich die Mitteilung bekäme, dass diese Zeitungsmeldung unzutreffend ist, dass Preußen jedenfalls nicht die Absicht hat, in dieser Weise gegen die ausländischen Studenten vorzugehen. (Abgeordneter Hoffmann: „Na, na!")

Es ist noch notwendig, darauf hinzuweisen, wie unzutreffend gewisse Zahlen über den Prozentsatz ausländischer Studenten an den deutschen Universitäten sind, die gestern Herr Abgeordneter von der Osten vorgetragen hat. Ich will dabei nicht verschweigen, dass, soweit ich imstande war, der Verhandlung zu folgen, der Herr Minister gestern bereits in Kürze die Richtigkeit dieser Zahlen bestritten hat. Aber es ist nötig, noch einmal darauf zurückzukommen, da von dieser Berichtigung in der Presse kaum Notiz genommen worden ist und die Zahlen des Herrn von der Osten im Sperrdruck wiedergegeben worden sind.

Ich habe hier, meine Herren, ein „ganz einwandfreies" Blatt, die „Deutschvölkischen Hochschulblätter", also ein antisemitisches reaktionäres Organ, und zwar vom Oktober 1912. In diesem sind die Zahlen über die ausländischen Studierenden an deutschen Universitäten im Sommersemester 1912 zusammengestellt. Danach betrug der Prozentsatz der Ausländer in Königsberg insgesamt 13,62, in Leipzig 13,73. Das ist aber der Prozentsatz aller Ausländer, nicht etwa der Russen allein. Wie hoch sich der stellt, ist hieraus nicht ersichtlich. Ich habe aber für alle Fälle bereits gestern darauf hingewiesen, dass der Durchschnittssatz der Schweizer Universitäten nicht weniger als 43 Prozent beträgt, und die Schweizer Universitäten gehen dadurch nicht zugrunde, sondern sie sind vielmehr stolz darauf, in dieser Weise von der ganzen Welt geachtet zu werden. („Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, noch eines zur Frage der ausländischen Studenten, was gleichzeitig die Weltfremdheit unserer Professoren illustriert. Sie entsinnen sich, dass die Universitätsdozenten aus Anlass des Klinikerkonfliktes eine Zusammenkunft veranstalteten. Ich weiß nicht, welche äußere Form die Zusammenkunft hatte, es wird wohl nur eine Delegiertenkonferenz gewesen sein und nicht einmal eine allgemeine. Auf dieser Zusammenkunft ist unter anderem beschlossen worden – da die Wurzel des Übels in den inneren russischen Zuständen liege, in der Erschwerung des Studiums für die Juden in Russland –, die deutsche Regierung zu ersuchen, der russischen Regierung den Wunsch der deutschen Universitäten vorzutragen, dass Russland künftig dem Studium der Juden keine Schwierigkeiten mehr bereiten möge, und so Abhilfe zu erwirken. Meine Herren, etwas Naiveres ist mir in meinem Leben noch nicht vorgekommen. Wenn die Herren Professoren ernstlich gemeint haben, durch eine derart ergebene Petition eine Besserung der russischen Zustände zu erreichen, dann hätten sie sich doch wenigstens an die Unmöglichkeit erinnern sollen, vor der jüngst die Vereinigten Staaten von Nordamerika gestanden haben, als sie sich bemühten, unter Anwendung ihrer ganzen diplomatischen und politischen Macht, Russland zu zwingen, einen geringen Teil seiner kleinlichen Judengesetzgebung preiszugeben. Sie hätten daran denken sollen, wie gründlich die Vereinigten Staaten, die diesen Feldzug ganz offiziell führten, dabei Schiffbruch erlitten haben. Also, meine Herren, auf diese Weise ist nicht zu helfen.

Es gibt nur ein Mittel, und das ist, dass die deutsche Universitätsverwaltung die Gemeinsamkeit der Interessen der gesamten Kulturwelt so lebendig empfindet, dass sie den Zustrom der Ausländer nicht als eine peinliche Last betrachtet, sondern es als ein Nobile officium, als eine ruhmvolle Aufgabe, erkennt, die Bedürfnisse anderer Völker nach wissenschaftlicher Ausbildung durch deutsche Leistung an deutschen Universitäten zu befriedigen. Meine Herren, wir haben allerdings große Besorgnis, dass die Hoffnung auf eine solche Universitätspolitik zuschanden werden wird.

Was meine Bemerkung über Münster betrifft –. Meine Herren, ich habe gestern nicht etwa Anlass genommen, Münster zu schmähen, sondern ich habe mich nur gegen die Kleinlichkeit gewendet, mit der man, und zwar aus ganz durchsichtigen Gründen, die sittlichen Verhältnisse in den großen Städten, an den großen Universitäten im Gegensatz zu den an den kleinen Universitäten herauszustreichen versucht. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.) Ich habe darauf hingewiesen, dass dieser Wettstreit über die bessere Sittlichkeit in großen und kleinen Städten gar keinen Sinn hat, da man sehr darüber im Zweifel sein kann, wo die Sittlichkeit größer ist, in den kleinen oder in den größeren Städten. Ich habe abzuwägen gesucht, wo denn die Vorteile der einen oder der anderen Art von Universitäten liegen. Ich glaube, hierbei durchaus objektiv verfahren zu sein, und wenn ich dabei Münster herausgegriffen habe, so nur als ein Beispiel, und zwar durchaus nicht in pharisäerhaftem Geiste. Sie werden mir nicht zutrauen, dass ich mich in pharisäerhaftem Geiste gegen eine derartige Stadt wende, weil wir uns darüber klar sind, dass die Menschen dort geradeso gut sind wie woanders, und dass, wenn die sittlichen Verhältnisse sich so ungünstig gestaltet haben, dies eben an gewissen äußeren Umständen liegt, zum Beispiel am Garnisonscharakter. Es ist ja bekannt, wie die Sittlichkeitsverhältnisse in Garnisonen zu sein pflegen. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten. Lachen rechts.)

Im Übrigen kann ich nur das eine bestätigen, das kann ich den Verteidigern von Münster sagen, Münster ist eine der reizendsten, lieblichsten und freundlichsten Städte Norddeutschlands, die ich in meinem Leben kennengelernt habe. Meine Erinnerungen an Münster sind nur die angenehmsten, und ich gönne Münster seine Universität von Herzen. Ich habe dort noch den Professor Landois kennengelernt, den Professor mit der langen Pfeife, und habe dort noch gar manches erlebt, was recht erfreulich war. Herr Landois war allerdings dem Zentrum nicht gerade angenehm, er war etwas allzu sehr Freidenker.

Meine Herren, im Übrigen kann ich die Bemerkungen, die ich über den Geist der deutschen Studentenschaft gemacht habe, nur in vollem Umfange aufrechterhalten. (Abgeordneter Freiherr von Zedlitz und Neukirch: „Hört! Hört!". „Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.) Ich habe nicht ein einziges Mal davon gesprochen, dass diese Vorwürfe gegen die gesamte deutsche Studentenschaft gerichtet sind. Ich habe immer und immer wieder meine Vorwürfe gegen denjenigen Teil der deutschen Studentenschaft prononciert, der auf Ihrem (nach rechts) Boden steht („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten. Lachen rechts.), gegen den Teil, den Sie in Schutz nehmen, den Sie als die Blüte der deutschen Studentenschaft bezeichnen. („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.) Das sind eben die kleinlichen, politisch reaktionären, antisemitischen Teile der deutschen Studentenschaft und diejenigen, die sich an jenen byzantinischen Wettläufen beteiligt haben. („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Wenn Sie daran zweifeln wollen, dass die antisemitischen Tendenzen in der deutschen Studentenschaft mit den sogenannten patriotischen Tendenzen in einer geradezu abschreckenden Weise Hand in Hand gehen, dann brauchen Sie nur die „Deutsche Tageszeitung" zu lesen, von den eigentlichen antisemitischen Zeitungen und Organen ganz abgesehen.

Ich habe hier den Artikel eines deutschen Studenten über die Studentenpolitik in der „Deutschen Tageszeitung" vom 10. Februar dieses Jahres. Da wird die Selbstverständlichkeit der antisemitischen Politik der sogenannten patriotischen Studentenschaft in einer Weise betont, dass es schlimmer allerdings nicht mehr sein kann. Auch sonst habe ich Material darüber in Fülle.

Meine Herren, soll ich Sie noch auf eins hinweisen? Sie wissen, dass der englische Schriftsteller Norman Angell7 eine Schrift herausgegeben hat: „Die falsche Rechnung". Sie wird Ihnen allen bekannt sein. Diese Schrift bemüht sich, in sachlicher Weise darzutun – man mag mit dem Ergebnis meinethalben nicht übereinstimmen –, dass jeder europäische Krieg unbedingt für jede Macht ein schwerer Verlust sein müsse, möge er siegreich ausgehen oder mit einer Niederlage enden. Nun, meine Herren, dieser Norman Angell hat unter anderem in Göttingen auf Einladung der Internationalen Studentenvereine einen Vortrag über den Inhalt seines Werkes gehalten. Daraufhin haben sich die Göttinger Verbindungen auf Anregung der Göttinger Burschenschaften zusammengetan und eine Protestversammlung dagegen abgehalten, dass man diesem Engländer, diesem Ausländer, diesem Friedensfreund – denn das ist das Schlimmste, was man heutzutage in den alldeutschen Kreisen8 sagen kann – gestattet habe, zu deutschen Studenten zu sprechen.

Ich meine doch wirklich, das heißt einen Tiefstand des Geistes („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.) und einen Tiefstand der sittlichen Empfindung beweisen („Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.), der in der Tat kaum überboten werden kann. („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.) Wenn man die humanitären Bestrebungen nach Aufrechterhaltung des Friedens, wenn man den Gedanken der friedlichen Entwicklung des Menschengeschlechts nach besten Kräften zu fördern sucht, dann muss man die Schmähungen dieser antisemitischen alldeutschen Kriegshetzer über sich ergehen lassen.

Nun, meine Herren, im Übrigen darf ich wohl das eine betonen: Die Angriffe oder die Anwürfe, darf ich ja nach einem Vorgange von gestern in diesem Hause sagen, die gestern einige Abgeordnete gegen mich gerichtet haben – es waren, und das ist sehr charakteristisch, glaube ich, nur ein konservativer Abgeordneter, aber drei Zentrumsabgeordnete dabei – („Ah!" im Zentrum. „Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.) Ja, das ist charakteristisch, das Zentrum ist eben der Parvenü des Patriotismus (Lachen im Zentrum.), der es nötig hat, besonders aufdringlich nach außen aufzutreten. Sie wissen ja, wie Parvenüs aufzutreten pflegen; den Herren von der Rechten glaubt man ja ihren Patriotismus, natürlich immer in Anführungszeichen, aber dem Zentrum glaubt man ihn noch nicht, und da gilt es denn, ihn dreimal zu unterstreichen, ihn recht knallig hervorzuheben: Wir sind die besten Patentpatrioten mit der weißesten Patriotenweste! – Da habe ich denn dreimal die Berserkerattacken von drei verschiedenen Zentrumsabgeordneten erfahren müssen, die mich natürlich nicht im Geringsten aus meinem Gleichgewicht gebracht haben und die von mir so wirkungslos abgeprallt sind, so dass ich mich fragte, ob diese Angriffe überhaupt gegen mich gerichtet waren.

Meine Herren, darüber sind wir uns doch längst einig, dass wir uns über unsere Weltanschauungen nicht einigen werden („Sehr richtig!"); darüber sind wir uns längst einig, dass unsere Anschauungen Ihnen unbequem sind („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.); darüber sind wir uns längst einig, dass wir hier in diesem Hause des Dreiklassenwahlrechtes nicht gern gesehen werden. („Sehr wahr!" rechts.)

Meine Herren, ja, wir wissen ganz genau, dass wir nicht dazu da sind, um Ihnen Artigkeiten zu sagen. („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten. Lachen rechts.) Wir fassen unsere Aufgabe nicht so auf, als ob wir hier in einer ästhetischen Teegesellschaft, etwa zum Five o'clock tea, eingeladen wären, um uns nach allen Regeln des „Anstandes" usw. (Rufe rechts: „Jawohl des Anstandes!" Heiterkeit. Zurufe bei den Sozialdemokraten.) – hier mit Ihnen zu unterhalten. Meine Herren, Sie wissen doch, dass ich dieses Wort in Anführungszeichen gesetzt meine. (Rufe: „Ja, ja!") Ich habe vom Five o'clock tea gesprochen, und Sie wissen doch ganz genau, dass diese sogenannten Anstandsregeln es nicht sind, die parlamentarische Kämpfe zu beherrschen haben, besonders nicht, wo die Gegensätze so schroff aufeinander platzen wie hier in diesem Hause, wo wir sechs Sozialdemokraten natürlich als ein Fremdkörper, als ein Gift in Ihrem Körper drinsitzen. („Sehr richtig!" rechts.) Wir wissen das ganz genau und fassen deshalb eine derartige Abwehrbewegung von Ihnen mit der nötigen Gelassenheit, mit dem nötigen Humor auf („Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.), und wir freuen uns sehr, wenn wir sehen, dass das Gift in Ihnen wirkt, dass das Gift Sie so schmerzt, dass Sie derartige Abwehrmaßregeln ausführen. (Rufe rechts: „Gift ist richtig!") Meine Herren, Sie wissen schon, das sozialdemokratische Gift. (Erneute Zurufe rechts.) Ja, ja, das sozialdemokratische Gift! (Abgeordneter von Pappenheim: „Als Gegengift!" Abgeordneter Hoffmann: „Als Gegengift gegen Junker und Agrarier!")

Wenn der Abgeordnete Bell gestern seine patriotische Kindertrompete geblasen hat – (Glocke des Präsidenten.)

Vizepräsident: Herr Abgeordneter, ich möchte doch bitten, in den Ausdrücken gegenüber Mitgliedern des Hauses etwas zurückhaltender zu sein.

Liebknecht: –, so ist das für mich ganz besonders beruhigend gewesen. Ich habe an der Art, wie es geschehen ist, von Neuem erkannt, dass wir keine Gefahr laufen, jemals von Ihrer Seite Schwierigkeiten zu erfahren, wenn wir uns bemühen, dem Volk die ganze innere Haltlosigkeit und die ganze innere Unwahrhaftigkeit speziell der Zentrumspolitik darzulegen. (Zurufe aus dem Zentrum: „Universitäten!") – Ich spreche von dem Geist in der deutschen Studentenschaft. (Zurufe aus dem Zentrum.) – Ach, ich höre, dass der Abgeordnete Dr. Bell den Geist der deutschen Studentenschaft bezweifelt. (Zurufe aus dem Zentrum: „Ihren Geist!") – Meine Herren, ich sehe, dass Sie noch geistreicher sind, als ich es Ihnen bisher zugetraut habe. Der Abgeordnete Dr. Bell mag uns noch einmal eine solche Vorstellung geben, wie er uns gestern gegeben hat, er wird unsern begeisterten Beifall finden. („Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.)

Ich habe gestern davon gesprochen, wie die Erinnerung an das Jahr 1813 von der deutschen Studentenschaft durchaus nicht würdig gefeiert wird, wenn sie sich in byzantinischen Schlangenwindungen bemüht, an allerhand höfischen Feierlichkeiten teilnehmen zu können. Das gilt natürlich nur von denjenigen Studenten, die sich in dieser Weise betragen. Es ist ja zum Glück ein vielleicht nicht unerheblicher Teil der Studentenschaft, der es ablehnen wird, eine derartige Politik, eine derartige Entwürdigung mitzumachen. Ich verweise darauf, dass im Jahre 1817 die deutsche Studentenschaft – wenn Sie wissen wollen, wie die deutschen Studenten zu jener Zeit über das Jahr 1813 gedacht haben – das Wartburgfest gefeiert hat, das sich gerichtet hat gegen die Gesamtheit derjenigen preußischen Reaktion, die zu einem großen Teile noch heute besteht. Die Studentenschaft, die jenes Wartburgfest gefeiert hat, hat auf das Jahr 1813 zurückgeblickt mit Trauer als auf ein Jahr des Volksbetruges, in dem das Volk die schwersten Opfer gebracht hat, die in keiner Weise von den herrschenden Klassen respektiert worden sind. Kein geringer als Yorck, Ihr Held von Tauroggen9, hat das ja auch den herrschenden Klassen ins Stammbuch geschrieben.

Wenn die Studenten im Jahre 1817 sich in dieser Weise gegen die preußische Reaktion wandten und wenn das Gros der jetzigen deutschen Studentenschaft die heutigen preußischen Zustände nicht vom Standpunkte des zufriedenen Bourgeois, des gesättigten Kapitalisten oder des durch die nationale Wirtschaftspolitik gefütterten Großagrariertums ansehen würde (Heiterkeit rechts.), dann würde es zu dem Ergebnis kommen, dass wir seit jener Zeit in der politischen Entwicklung nicht einen Schritt weitergekommen sind.

Wenn die deutsche Studentenschaft noch desselben Geistes wäre wie damals, dann würde sie heute statt der höfischen Feiern ein Wartburgfest wiederholen. Aber die Studentenschaft ist ja in ihrer Mehrzahl jetzt ein Teil der herrschenden Klassen geworden, und deshalb wird es dem Proletariat überlassen bleiben, ein Wartburgfest zur Erinnerung an das Jahr 1813 zu feiern. Aber wenn bei jenem Wartburgfest von 1817 außer den Schriften der Kamptz, Schmaltz und Genossen ein preußischer Schnürleib, ein österreichischer Korporalstock und ein hessischer Zopf verbrannt wurden, so würden bei der Feier des neuen Wartburgfestes ein preußischer Schnürleib, ein preußischer Korporalstock und ein preußischer Zopf zu verbrennen sein. („Bravo!" bei den Sozialdemokraten.)

1 In der zweiten Hälfte des Jahres 1912 kam es an verschiedenen Universitäten zu Kundgebungen nationalistischer Studenten gegen das Studium von Ausländern an deutschen Universitäten. Ein gewisser Höhepunkt dieser nationalistischen Bewegung war der Streik der Medizinstudenten an der Universität Halle am 16. Dezember 1912. Sie forderten, ausländische Studenten ohne Physikum nicht mehr zu den klinischen Vorlesungen zuzulassen. Die Verwirklichung dieser Forderung hätte ein weiteres Studium der russischen Studenten unmöglich gemacht, da sie nicht das Recht hatten, das Physikum abzulegen. Für Preußen legte das Kultusministerium im September 1913 die Gesamtzahl (numerus clausus) von 900 Studierenden je Nation fest. Außerdem wurde die Höchstzahl russischer Studenten für die einzelnen preußischen Universitäten festgesetzt.

2 „Rossija" (Russland) – Tageszeitung der Schwarzhunderter. Sie erschien in Petersburg von 1905–1914. Seit 1906 offizielles Organ des Innenministeriums. Die Red.

3 Dr. Jülicher, Professor an der theologischen Fakultät der Universität Marburg, hatte in einer aufsehenerregenden Schrift mit dem Titel „Die Entmündigung einer preußischen theologischen Fakultät in zeitgeschichtlichem Zusammenhange", Tübingen 1913, scharfe Angriffe gegen den preußischen Staat ausgesprochen. Die Red.

4 Partei der Positiven, Positive Union: eine 1876 gegründete politische Vereinigung in der evangelischen Kirche Altpreußens. Diese orthodoxe, besonders reaktionäre Richtung innerhalb der evangelischen Kirche war eine der Stützen der konservativen Parteien und der preußischen Regierung.

5 bürgerliche Studentenorganisationen, in denen sich die nicht korporierten Studenten, die sogenannten Finken, organisierten. Entsprechend ihrer Gegnerschaft zu den reaktionären Korporationen wurden in ihnen oft liberale Auffassungen vertreten. Ihren Höhepunkt erreichte die freistudentische Bewegung um 1910, als an 36 deutschen Hochschulen solche Organisationen bestanden.

6 Gemeint ist das 25jährige Regierungsjubiläum Wilhelms II. am 16. Juni 1913. Die Red.

7 Angell, Norman: Pseudonym des bedeutenden englischen pazifistischen Schriftstellers R. N. Lane. 1910 erschien sein aufsehenerregendes Buch „Die große Täuschung. Eine Studie über das Verhältnis zwischen Militärmacht und Wohlstand der Völker". (Die dritte deutsche Auflage, auf die sich Karl Liebknecht bezieht, erschien unter dem Titel „Die falsche Rechnung. Was bringt der Krieg ein?") Angell war vor dem ersten Weltkrieg ein aktiver und konsequenter Vertreter der bürgerlichen Friedensbewegung. Auch während des Krieges und danach setzte er seine Tätigkeit fort. 1933 erhielt er den Friedensnobelpreis.

8 Alldeutscher Verband: 1891 gegründet, wurde nach der Jahrhundertwende immer mehr zur allgemeinen Haupt- und Dachorganisation des deutschen Monopolkapitals für die systematische ideologische Vorbereitung des ersten Weltkrieges. Auf seine Wirksamkeit geht die Gründung weiterer spezialisierter Propagandaorganisationen des deutschen Imperialismus zurück, wie z. B. des Deutschen Flottenvereins, des Deutschen Wehrvereins, der Deutschen Kolonialgesellschaft u. a. Besonders einflussreiche Mitglieder des Alldeutschen Verbandes waren Alfred Hugenberg, der auch als eigentlicher Begründer der Organisation gilt, der Monopolkapitalist Emil Kirdorf, später Geldgeber und Vertrauter Hitlers, und Heinrich Claß, der langjährige Vorsitzende des Verbandes.

9 Am 30. Dezember 1812 schloss der preußische General Hans David Ludwig von Yorck, der Befehlshaber des preußischen Hilfskorps in der Armee Napoleons, mit dem russischen General von Diebitsch in der Nähe des russischen Städtchens Tauroggen einen Vertrag, in dem festgelegt wurde, dass sich das preußische Korps von der französischen Armee trennt und als neutral erklärt. Damit setzte sich Yorck im entscheidenden Moment über das militaristische Prinzip blinden Gehorsams hinweg. Das Beispiel Yorcks wies den Weg zur Erhebung Preußens und zur deutsch-russischen Waffenbrüderschaft im Kampf gegen die Fremdherrschaft Napoleons in Europa.

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