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Karl Liebknecht 19130114 Nieder mit dem preußischen Junkertum, dem schwarzblauen Block, dem Dreiklassenhaus!

Nieder mit dem preußischen Junkertum, dem schwarzblauen Block, dem Dreiklassenhaus!

Rede im preußischen Abgeordnetenhaus zum Staatshaushaltsetat 1913

[Nach Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Preußischen Hauses der Abgeordneten, 21. Legislaturperiode, V. Session 1912/13, 7. Bd., Berlin 1913, Sp. 9322–9352, 9422 f. und nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 6, S. 9-61]

I

Meine Herren, der Herr Finanzminister hat das preußische Finanzwesen als eine Berühmtheit bezeichnet; er hat betont, dass das Finanzprogramm vom Jahre 1908 sich nach jeder Richtung bewährt habe. Es kann nicht verkannt werden, dass der preußische Etat finanztechnisch sich außerordentlich geschickt ausnimmt, und ein Etat mit 4600 Millionen kann sich natürlich in der Welt sehen lassen. Aber, meine Herren, wenn wir nicht auf die Quantität, sondern auf die Qualität sehen, so, glaube ich, haben wir alle Veranlassung, dem preußischen Etat sehr kritisch gegenüberzustehen, und dann werden wir auch der preußischen Finanzverwaltung schwere Vorwürfe machen dürfen.

Meine Herren, es ist charakteristisch, in welcher Weise die Mittel aufgebracht werden, mit denen das preußische Staatswesen, das seinem ganzen Wesen nach durchaus nicht als eine Wohlfahrtseinrichtung für die Massen der Bevölkerung angesehen werden kann, seine volksfeindlichen Leistungen ermöglicht. Meine Herren, die wesentlichsten Einnahmen sind neben den direkten Steuern die Betriebsüberschüsse, und diese Betriebsüberschüsse haben die Höhe der direkten Steuern nicht nur erreicht, sondern sogar überschritten. Das kann keinem Zweifel begegnen, wenn man bedenkt, in welch eklatanter Weise die Überweisungen an den Ausgleichsfonds unterschätzt sind, offenbar überlegt unterschätzt sind. Aber diese Einnahmen aus den Betriebsverwaltungen sind durchaus nicht zu rechtfertigen, wenn man den Maßstab anlegt, der meiner Ansicht nach von einer Staatsverwaltung angelegt werden muss, dass sie die sozialen Aufgaben in den Vordergrund stellt und es weit von sich weist, Gewinne einzuheimsen, die mit dem Schweiße der Ärmsten durchtränkt sind, und sich den Staatssäckel zu füllen mit den Groschen der Armen, die Arbeiter auszubeuten und auszupressen in den Staatsbetrieben und die Werksverwaltungen zum Schaden der Konsumenten zu leiten.

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, sehr belustigend war ja die höhere Akrobatik, die der Herr Minister entfaltete, als er auf der einen Seite die glänzende Finanzlage pries und dann doch die Klippe zu umschiffen versuchte, dass nunmehr aus seinen Ausführungen der stringente Beweis entnommen werden müsse, dass er die Steuerzuschläge, die gefordert werden, nun eigentlich zu fordern gar keinen Anlass mehr habe. Es war eine halsbrecherische Seiltänzerei, und es ist ja in der Tat nicht leicht, in einem Atem zu beweisen, dass die preußischen Finanzen gut stehen und dass sie schlecht stehen. Der Herr Finanzminister hat gedacht, der kluge Mann baut vor, und hat infolgedessen vielleicht etwas allzu früh bereits gegen sich selbst Beweis geführt, dass es mit den preußischen Finanzen trotz alledem nicht so glänzend bestellt ist. Die außerordentliche dialektische Schwierigkeit, der der Finanzminister hier gegenübersteht, scheint ein klein wenig erleichtert werden zu sollen durch offiziöse Pressausstreuungen. Ich finde wenigstens in dem „Lokalanzeiger", der gelegentlich zu offiziösen Veröffentlichungen benutzt wird, vom 11. dieses Monats eine sehr auffällige Notiz der gleichfalls zuweilen offiziösen „Frankfurter Zeitung" wiedergegeben über die bevorstehenden deutschen und preußischen Anleihen. Da wird in einer zweifellosen Verwandtschaft zu dem Gedankengange, den der Herr Finanzminister beim Vergleich der preußischen und deutschen Schulden unternommen hat, darauf hingewiesen, dass das Reich neue Anleihen nicht nötig haben werde, dass aber Preußen unbedingt neue Anleihen nötig haben werde, denn es gehe Preußen doch recht schlecht:

Anders sieht es freilich mit Preußen aus, das zunächst einen Ersatz für die am 1. April 1913 fälligen 20 Millionen Schatzanweisungen schaffen muss" usw.

Vielleicht ist das eine Pressaktion, die zur Unterstützung des Herrn Finanzministers und zur Verewigung der Steuerzuschläge unternommen worden ist. Um so notwendiger ist es, die Steuerzuschläge so schnell wie möglich aus der Welt zu schaffen, und bei dem jetzt bevorstehenden Steuergesetz, wenn es auch nicht mehr während dieser Legislaturperiode erledigt werden sollte, für eine Entlastung der ärmeren Schichten zu sorgen, weil wir ja doch in allernächster Zeit zu gewärtigen haben, dass wir im Reich heimgesucht werden mit einer neuen großen Militärvorlage. Wenn es sich dann fragt, wie werden die gewaltigen Kosten für diese neue Militärvorlage gedeckt werden, dann stehen wir einer allgemeinen Ungewissheit gegenüber. Zwar steht die berühmte Besitzsteuer in Aussicht. Die Finanzminister der Einzelstaaten, also auch der preußische Finanzminister, sind am 4. Januar zusammengetreten, um eine Einigung in der Besitzsteuerfrage zu erzielen. Diese Einigung ist nicht erzielt worden nach unwidersprochenen, man kann wohl fast annehmen offiziösen Pressmeldungen. Die Einigkeit ist nicht erzielt worden, und zwar um deswillen nicht, weil Preußen in der rücksichtslosesten Weise Widerstand geleistet hat gegen die einzig mögliche und dem Gemeinwohl nützliche Lösung der Einführung der Erbanfallsteuer oder Nachlasssteuer. Meine Herren, dieser preußische Widerstand gegen eine gerechte und notwendige, gar nicht mehr zu vermeidende Steuer erklärt sich selbstverständlich aus politischen Gründen. Man kann die Erbschaftssteuer haben, wenn man sie haben will, man muss sie allerdings nehmen auch aus den Händen der Sozialdemokraten. Das will die preußische Regierung nicht, das darf die preußische Regierung nicht, das würde der preußischen Regierung den Hals kosten. Die Herren von der Rechten und vom Zentrum würden sich eine solche „Brüskierung" nicht gefallen lassen, und sie sind ja vorläufig noch die Herren hier im Hause und Herren in Preußen. Wie energisch die preußische Konservative Partei in der Besitzsteuerfrage gegen das Interesse des deutschen Volkes arbeitet, beweisen die Auslassungen der „Deutschen Tageszeitung", in denen in jener bekannten hinterhältigen Manier gesagt wird, dass man keineswegs wünsche, dass Herr von Bethmann Hollweg etwa über die Besitzsteuerfrage stolpere. Da werden Nachrichten über eine Kanzlerkrise bei dieser und jener Gelegenheit in die Presse lanciert und dann dementiert, um so die notwendige Nervosität bei den Stellen zu erzeugen, wo man wirken will, dann wird ihnen schließlich die Knute gezeigt und dem Ministerpräsidenten und Reichskanzler „kusch dich!" zugerufen. Wie lebhaft die Kämpfe in der Erbschaftssteuerfrage sind und gewesen sind gegen den preußischen Finanzminister und seine Hintermänner, beweisen die Auslassungen sächsischer Organe, die häufig der sächsischen Regierung nahestehen. Es wird dort ausgeführt, dass es „Gründe politischer Bequemlichkeit und Zaghaftigkeit" seien, die die preußische Regierung und den Reichskanzler veranlassen, an dem Standpunkt der Gegnerschaft gegen die Erbanfall-Steuer festzuhalten.

Die in Preußen herrschenden Konservativen und Zentrumsleute sind gegen die Ausdehnung der Erbschaftssteuer auf Kinder und Gatten, und die Wahlen zum Preußischen Landtag stehen vor der Tür. Das ist der wirkliche Grund. Aus der Hand der Sozialdemokraten aber will die Reichsregierung keine Steuer nehmen.“

Die Wahlen zum Preußischen Landtag stehen vor der Tür. Wenn die preußische Regierung wirklich wahlrechtsreformfreundlich wäre, selbst in dieser tausendfach verdünnten Lösung, die gestern der Minister von Dallwitz zum besten gegeben hat, dann müsste sie doch jetzt die Möglichkeit schaffen, dass die oppositionellen Elemente mit allem Nachdruck bei den Wahlen gegen die Konservativen und das Zentrum gestärkt werden, damit im künftigen Landtag, entsprechend den angeblichen Wünschen der Regierung, jedenfalls aber entsprechend der Forderung der Thronrede von 19081, die Durchführung eines freien Wahlrechts im nächsten Abgeordnetenhaus erleichtert wird. Aber die Regierung will ja dergleichen gar nicht; das beweist ja wieder diese taktische Haltung. Sie hat Angst wie der Teufel vor dem Weihwasser, mit der Sozialdemokratie etwa in Berührung zu kommen, sich irgendwie auf oppositionelle Elemente zu stützen. Sie kennt das Lied von den gottgewollten Abhängigkeiten nur allzu gut, und ich bin überzeugt, der Herr Ministerpräsident träumt seit langem von nichts anderem mehr als von gottgewollten Abhängigkeiten, die ihm wie ein Alp Tag und Nacht auf der Brust liegen. Ich wiederhole: Je deutlicher es ist, dass wir mit der Gefahr zu rechnen haben, dass im Reich statt einer gerechten Erbschaftssteuer eine irgendwie verklausulierte indirekte Steuer kommt – denn das versteht man ja vortrefflich; bei der letzten Reichsfinanzreform sind „Besitzsteuern" gemacht worden, die ganz offenbare indirekte Steuern waren –, um so notwendiger ist es, dass hier mit den Steuerzuschlägen aufgeräumt wird.

Der Herr Finanzminister hat über die Hochkonjunktur und über die möglicherweise bevorstehenden Krisen gesprochen. Er hat die Gefahren der auswärtigen Politik für die Finanzwirtschaft erörtert und hat bewegt über die Zurückhaltung des Publikums mit dem Gelde geklagt. Tatsache ist doch, dass die Regierung alle Mittel in Bewegung setzt, um sich selbst gegen die von ihr gefürchteten Gefahren der äußeren Politik zu sichern. Wie will dann die Regierung, die unzweifelhaft finanzielle Kriegsvorbereitungen trifft und von ihrem Standpunkt in gewissem Sinne auch zu treffen verpflichtet sein mag, es dem Publikum verargen, wenn dieses nun auch für sich selbst Vorbereitungen trifft und ängstlich und vorsichtig ist. Es kann daher nur gesagt werden, dass diese Ausführungen des Herrn Ministers, die noch durch Publikationen der konservativen Presse usw. unterstützt werden, vollständig deplatziert sind. Das Publikum hat das gute Recht, die Besorgnisse, die es hegt, die ja auch die Regierung hegt, zur Veranlassung zu nehmen, um sich in irgendeiner Weise nach Möglichkeit wirtschaftlich zu sichern.

[Sozialpolitische Demagogie]

Meine Herren, ich komme zum sozialpolitischen Gesicht des preußischen Staates und seiner Finanzen. Das demonstrative Hervorkehren der geringfügigsten sozialpolitischen Lappalien, die in dem preußischen Etat geleistet werden, ist natürlich nicht ohne Absicht. Das ist auch so ein Stück Wahldemagogie, das jetzt schon unternommen wird. Ich will die unglaublichen sozialpolitischen Aufgeblasenheiten, von denen wir da gehört haben, doch einmal ein klein wenig auf das normale Maß zurückführen. Im Mittelpunkt hat ja als Schaustück der sozialpolitischen Leistungen des preußischen Staates die Vermehrung des Unterstützungsfonds um drei Millionen gestanden. Ja, meine Herren, das ist ein vorzügliches Exempel; es muss aufgespießt und präpariert werden. Diese Vermehrung des Unterstützungsfonds um drei Millionen verteilt sich, abgesehen von 640.000 Mark, die zur Verfügung der Finanzverwaltung geblieben sind, mit 30.000 Mark auf die Berg- und Hüttenverwaltung, mit 2.100.000 Mark auf die Eisenbahnverwaltung und mit 220.000 Mark auf die Justizverwaltung. Also 30.000 Mark für die gewaltige Berg- und Hüttenverwaltung in Preußen!

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Das soll der Not der Unterbeamten abhelfen!

Für die Eisenbahnverwaltung sind, wie ich schon sagte, rund 2.100.000 Mark eingesetzt. Dieser Betrag, der in Kapitel 23 Titel 5 g eingesetzt ist, bezieht sich auf die Titel 5 und 5 b, das heißt also – auf die Titel, die Unterstützungen für die Unterbeamten und für die höheren und mittleren Beamten betreffen. Wie die Verteilung des Betrages von rund 2.100.000 Mark voraussichtlich stattfinden wird, können Sie aus der Dotierung dieser beiden Etatpositionen entnehmen. Für die Unterbeamten sind in Titel 5: 3.522.000 Mark und für die höheren und mittleren Beamten in Titel 5 b 3.526.500 Mark ausgesetzt. Also es sind in diesen Etattiteln für die höheren Beamten schon mehr Mittel eingesetzt als für die Unterbeamten. Was das bedeutet, erkennen Sie aus folgenden Umständen. Einmal bedürfen die höheren Beamten natürlich nicht in dem Maße einer Unterstützung, wenn auch gern zugegeben werden mag, dass es schließlich auch ihnen nicht gar rosig geht in den durch ihre Freunde, die Herren von der Rechten und überhaupt die Herren vom schwarzblauen Block wesentlich herbeigeführten Teuerungsverhältnissen in Deutschland; aber dass die höheren und mittleren Beamten hier gegenüber den unteren viel stärker bevorzugt sind, ergibt sich vor allem aus ihrer viel kleineren Zahl, auf die sich eine noch dazu größere Summe verteilt. Es mögen vielleicht – ich will einmal überschlagen, das ist aber schon hoch gegriffen – 50.000 höhere und mittlere Beamte bei der Eisenbahnverwaltung in Betracht kommen und etwa 150.000 untere Beamte. Also ungefähr die dreifache Zahl der Unterbeamten bekommt nach den Etattiteln 5 und 5 b nicht einmal soviel an Unterstützungen wie der dreifach geringere Teil der oberen und mittleren Beamten. Wenn nun die neuen 2.100.000 Mark unter diese selben Kategorien verteilt werden, wer wird dann daran zweifeln, dass sie ungefähr in demselben Maßstabe verteilt werden, dass also ungefähr eine Million auf die 150.000 Unterbeamten kommen wird, das heißt nicht einmal sieben Mark auf jeden einzelnen Unterbeamten. Meine Herren, wenn Sie sich das vor Augen halten, dann erkennen Sie daran, weshalb der Herr Finanzminister außer den Gründen, die sonst noch zu Tage liegen, hier keine Teuerungszulage bewilligt hat: weil die Teuerungszulage, wenn es bei den jetzt ausgeworfenen Mitteln geblieben wäre, so schäbig ausgesehen hätte, dass der Herr Finanzminister es gar nicht wagen konnte, damit auch nur vor den Preußischen Landtag zu treten.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Wenn das schon schlimm genug ist, was ich eben ausgeführt habe, so darf noch darauf hingewiesen werden, dass in den ganzen Etat nicht ein Pfennig an Unterstützung neu eingesetzt ist für die Staatsarbeiter, die doch auch unter dem Druck der Teuerung leiden. Da finden sich, und das ist schon charakteristisch, im Etat der Eisenbahnverwaltung unter Kapitel 23 Titel 5 d für „Unterstützungen für Arbeiter und deren Hinterbliebene", also gleichzeitig die Arbeiterhinterbliebenenversorgung des preußischen Staates mit erschöpfend, ganze 2.800.000 Mark. Dieser Betrag, der wesentlich kleiner ist als der in Titel 5 b für die oberen Beamten mit ihrer geringen Zahl ausgeworfene, ist trotz der teuren Zeiten nicht mit einem Pfennig vermehrt worden.

Der Königliche Erlass vom 4. Februar 1890 über die Staatsbetriebe, die Musterbetriebe sein sollten, ist ja längst zu einer – wie soll man sagen? – etwas grotesken Erinnerung geworden wie ein Märlein aus vergangenen Zeiten. Wenn man solche längst verklungenen Worte heute hört, kann man nicht anders, als darüber lächeln. Bei allem Respekt: Es ist kein Wort je gefallen, das mit der Wahrheit in einem schrofferen Widerspruch gestanden hätte als jenes Wort von den Staatsbetrieben als Musterbetrieben; und dieses Wort ist nicht etwa wahrer geworden in den 22 Jahren, die seit jener Zeit vorübergegangen sind, im Gegenteil, die preußische Staatsverwaltung verschlechtert sich sozialpolitisch eher, als dass sie sich verbessert.

Dass das ganze System der Unterstützung überhaupt zu verwerfen ist, und zwar wegen seines entwürdigenden und unsicheren Charakters, darüber haben ja auch einige der Vorredner gesprochen. Ich habe schon bei früheren Verhandlungen so häufig darauf hingewiesen, dass es nicht nötig ist, es noch zu wiederholen. Tatsache ist und fest steht, dass der preußische Finanzminister durchaus nicht berechtigt ist, sich irgendwie zu rühmen, bei Aufstellung dieses Etats sozialpolitische Einsicht bewiesen und Wohlwollen für die Arbeiter und die Unterbeamten gezeigt zu haben, sondern dass dieser Etat so ungünstig und unfreundlich für die Unterbeamten und Staatsarbeiter ausgefallen ist, wie nur irgend zu befürchten war, mehr sogar, als zu erwarten war. Man hatte der Regierung zugetraut, dass sie wenigstens angesichts der Neuwahlen vielleicht doch noch etwas mehr Gewicht darauf legen würde, die Gärung unter den Arbeitern und Beamten zu dämpfen.

Meine Herren, während so die preußische Staatsverwaltung gänzlich versagt hat, hält sie natürlich nicht minder mit allem Nachdrucke fest an ihrer bisherigen Praxis, das Koalitionsrecht der Staatsarbeiter und Beamten aus der Welt zu schaffen. Meine Herren, gegen Gesetz und Recht ihnen das Koalitionsrecht zu nehmen! Wie ein Beamter über das Koalitionsrecht der Beamten und Staatsarbeiter denken müsste, auch wenn er ein in der Wolle gefärbter arbeiterfeindlicher Reaktionär ist, das hätten die Herren von der Regierung, die Herren von der Rechten erkennen können aus der wenigstens halbwegs mit dem Gesetz vereinbarten Haltung des Oberbürgermeisters von Breslau in der Feuerwehrmännerfrage. Da ist ja der Abgeordnete Kreth genötigt worden, seine falsche Behauptung richtigzustellen. So unangenehm dem Oberbürgermeister von Breslau das Koalitionsrecht und die Art, wie sich die Feuerwehrmänner organisiert haben, war, er hat sich doch nicht für berechtigt gehalten, sie gegen die bestehenden Gesetze ihres Koalitionsrechts zu berauben. Meine Herren, wir sind uns ja darüber klar, dass die Regierung in Bezug auf diese Versagung des Koalitionsrechts getragen wird von dem Willen der Mehrheit dieses Hauses, und zwar ausgeprägt auch von dem Willen des Zentrums, das einstens darüber anders gedacht hat, das einst im Saarrevier Kämpfe geführt hat um das Recht der freien Organisation, der oppositionellen Organisation gegenüber den Gewaltigen in Saarabien2, das aber heute sich nicht scheut, im Reich, in Preußen und in allen anderen Bundesstaaten ganz offen und unverhüllt einzutreten für die Entrechtung der Staatsarbeiter und der Beamten und damit, wenn ich mich auf Vorgänge, die sich außerhalb des Hauses abgespielt haben, beziehen darf, gewissermaßen sein eigenes Nest zu beschmutzen.

[Preußen schröpft das Reich]

Meine Herren, sehr interessant ist eine Betrachtung des Verhältnisses zwischen den preußischen und den Reichsfinanzen. Die preußische Finanzwirtschaft darf, wenn man sie im Verhältnis zum Reich betrachtet, als eine geradezu reichsfeindliche bezeichnet werden. Die preußische Finanzpolitik geht ganz ausgeprägt dahin, zur Verfügung der preußischen Staatsverwaltung möglichst große Mittel aufzustapeln, die zum diskretionären Ermessen der preußischen Bürokratie und ihrer Hintermänner dienen sollen, für jeden Fall, für den Fall eines neuen preußischen Konflikts, um aber auch dem Reichstag den Daumen aufs Auge drücken zu können, vielleicht auch für einen Kriegsfall. Wer wollte da irgendwie die Möglichkeiten nach der einen oder anderen Richtung abgrenzen wollen? Meine Herren, nicht nur die Unabhängigkeit Preußens vom Reiche, von dem verhassten Reiche, das ja mit dem Ludergeruch des revolutionären Wahlrechts behaftet ist, sondern die Suprematie, die Vormachtstellung Preußens gegenüber dem Reiche, soll auch in den Finanzen zum Ausdruck kommen. So stapelt denn Preußen in den Ausgleichsfonds und bei allen anderen Gelegenheiten in allerhand Sparstrümpfen Gelder auf, damit es fest gerüstet dasteht; das Reich muss von der Hand in den Mund leben, Preußen hat Gelder im Überfluss!

(Abgeordneter Ströbel: „Sehr wahr!")

Meine Herren, das ist eine sehr hübsche Verteilung der Rollen. Die in Preußen herrschenden Gewalten benutzen die Reichsfinanzwirtschaft dazu, um die Agrarier, die Junker zu bereichern mit Hilfe vor allem der Zollpolitik, mit der sie zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen; sie bereichern sich und bringen Geld in den Reichssäckel aus den Taschen der großen Masse der Bevölkerung, Geld, das in erster Linie der Aufrechterhaltung des Militarismus, der junkerlichen Reaktion und der kapitalistischen Ausbeutung dient.

Die ausgiebigsten Steuerquellen sollen in den Händen der preußischen Finanzverwaltung bleiben, sie will sich insbesondere die direkten Steuern nicht aus den Händen winden lassen, so lange es irgend möglich ist, natürlich auch, um sie für die herrschenden Klassen möglichst schonend zu gestalten. Das ist auch einer der Gründe, weshalb mit solcher Energie und Zähigkeit gegen die Einführung der Erbschaftssteuer gekämpft und statt dessen versucht wird, nun irgendwie eine Steuer, die nicht Fisch noch Fleisch ist, eine sogenannte Besitzsteuer, einzuführen.

Meine Herren, in welchem Maße diese Abhängigkeit des Reiches von Preußen besteht, das demonstriert gerade wieder am besten die Eisenbahnverwaltung. Es ist jüngst im Reichstag offen ausgesprochen worden, dass das Reichseisenbahnamt trotz seiner in der Reichsverfassung vorgesehenen Funktionen gegenüber der preußischen Eisenbahnverwaltung nicht die genügend starke Institution für die Wahrung der Interessen des Reiches ist. Meine Herren, es ist wahr, dass eine finanzielle Unabhängigkeit des Reiches von Preußen nur durchgeführt werden kann, wenn die Steuerverhältnisse zwischen dem Reich und Preußen, wenn die Steuerquellen verschoben werden, wenn das Reich auch direkte Steuern zur Verfügung bekommt und wenn andererseits Preußen die Eisenbahnverwaltung, die Preußen in erster Linie diese gewaltige Machtstellung gegenüber dem Reich verleiht, aus der Hand genommen wird. Schon um deswillen treten wir auf der einen Seite für die Erbschaftssteuer, auf der anderen Seite für eine Reichseisenbahnverwaltung ein.

Meine Herren, es ist so häufig davon gesprochen worden, dass die Politik nach moralischen Grundsätzen betrieben werden müsse, und vor kurzem hat sich der Welfe3 Alpers im Reichstage dagegen gewandt, dass eine Politik mit doppelter Moral getrieben werde. Meine Herren, unsere ganze Politik, die von den bürgerlichen Parteien und von der Regierung getrieben wird, ist eine Politik mit doppelter, mit dreifacher Moral, eine amoralische Politik, kann man geradezu sagen. Die konservative Partei ist ein besonders schlagendes Beispiel für die innere Unwahrhaftigkeit der Politik der bürgerlichen Parteien. In einem Artikel der „Kreuz-Zeitung" – dem Weihnachtsartikel, in dem zum Quartalswechsel gewaltig die Werbetrommel gerührt wird – der Konkurs steht oder stand ja vor der Tür – heißt es: „Die königliche Autorität ist der Eckstein der Regierung, auf ihr beruht die Verfassung." Meine Herren, die Führer der Konservativen Partei wissen ganz wohl, wie unwahrhaftig diese Behauptung ist. Die Konservative Partei hat auch niemals die königliche Autorität als den Eckstein der Regierung betrachtet, sondern sich selbst; sie hat bei jeder Gelegenheit das Königtum vor sich auf die Knie gezwungen. Es ist nur nötig, die Worte „Kanalvorlage", „Erbschaftssteuer" und „Wahlrechtsreform" auszusprechen.

(Lachen bei den Konservativen.)

Meine Herren, wollen Sie etwa darüber lachen? Sie wissen, dass Sie die Unwahrheit sagen, wenn Sie das Gegenteil von dem sagen, was ich gesagt habe.

Ich komme noch auf einiges andere zu sprechen. Ihr Sündenregister ist so unendlich groß, dass man Sie in der Tat bewundern muss wegen der Kaltblütigkeit, mit der Sie es wagen, hier zu sitzen und zu lachen. Wenn man Ihnen dieses Sündenregister vorhält, dann lachen Sie. Aber, meine Herren, dieses Lachen wird festgenagelt und festgehalten werden. Sie sind die hartgesottensten Sünder, die es auf der Welt gibt,

(Erneutes Lachen bei den Konservativen.)

die hartgesottensten politischen Sünder. Die Strafe wird nicht ausbleiben.

Wie die angebliche Königstreue in den Köpfen der konservativen Herren sich ausnimmt, zum Beispiel bei Herrn von der Goltz und Herrn von Liebert, das beweist der Vortrag, den Herr Generalfeldmarschall von der Goltz jüngst im Beisein zahlreicher konservativer Herren in Potsdam über die Konvention von Tauroggen4 gehalten hat, in dem er den General von Yorck gepriesen hat – weshalb? –: weil er gegen den Willen des Königs rebelliert hat.

(Erneutes Lachen rechts. – Zuruf: „Es ist doch zu dumm!")

Ist es nicht so? Ist denn nicht gerade in Ihrer Presse ein Kampf darüber ausgebrochen, ob Yorck dem Befehl des Königs gefolgt ist oder unter Missachtung dieses Befehls die Konvention von Tauroggen auf eigene Faust geschlossen hat? Generalfeldmarschall von der Goltz sagt: Wir brauchen solche Männer von dem eisernen Willen Yorcks und seiner hohen Vaterlandsliebe. Dann fügt er hinzu, was offenbar Ihrer Moralanschauung entspricht: Nicht Tugendbolde braucht die Armee, sondern energische Soldaten.

(„Sehr richtig!" rechts und bei den Nationalliberalen.)

Ich danke Ihnen, dass Sie dieses Wort unterstrichen haben.

[Preußische Paschawirtschaft pfeift auf Recht und Gesetz]

Es ist besonders erstaunlich, wie Sie es fertigbringen können, sich so aufzuspielen, als ob Sie mit gutem Gewissen vor die Wähler, vor das Volk treten könnten, wenn man an gewisse Vorgänge aus der letzten Zeit denkt, an den unverhüllten konservativen Terrorismus draußen im Lande. Sie haben sich stets über dem Gesetz gefühlt. Ich will nicht über bekannte Dinge von dem junkerlichen Gottesgnadentum in Ostelbien sprechen, nicht von dem charakteristischsten Ostelbiertum der Landratswirtschaft. Ich will mich auch nicht näher mit dem Zirkular der konservativen Parteileitung in Liegnitz befassen, in dem ja ganz offen zum Boykott aufgefordert wird, zu demselben Boykott, den Sie angeblich stets so bekämpfen, während Ihre ganze Macht auf Boykott, auf Terrorismus aufgebaut ist. Ich will auch nicht von dem Terrorismus bei der jüngsten Wahl in Stolp-Lauenburg5 sprechen, bei der der Kandidat der Liberalen, Schwuchow, von den Anhängern der Konservativen Partei geprügelt worden ist. Ich will zunächst die Vorgänge bei der Reichstagswahl in Schwetz berühren. In Schwetz haben sich tatsächlich Dinge zugetragen, die sogar in der preußischen Geschichte ohnegleichen sein dürften. Die Wahlfälschungen, die dort bei der Hauptwahl vom Januar vorigen Jahres vorgenommen worden sind, sind ja Gegenstand der Erörterung im Reichstag gewesen. Es hat sich dort ergeben, dass es ein Landrat war, Herr von Halem, der Kandidat, unter dessen Auspizien die Gesetze von den Behörden mit Füßen getreten worden sind, ohne dass die Regierung es bisher für erforderlich gehalten hätte einzuschreiten und diese Leute, wie es erforderlich gewesen wäre, vor den Strafrichter zu zitieren.

Meine Herren, ganz ähnliche Dinge scheinen sich nun aber bei der jüngsten Nachwahl in Schwetz abgespielt zu haben. Es ist Ihnen aus der Presse bekannt, dass von der konservativen Parteileitung dort ein Brief mit gewissen Anweisungen verschickt sein soll, wie polnische Wähler durch Anwendung von Schnaps usw. von der Ausübung des Wahlrechts abgehalten werden sollten. Diesen Brief will ich hier nicht näher erörtern, er ist umstritten und es ist behauptet worden, er sei nicht von der konservativen Parteileitung selbst geschrieben worden. Aber, meine Herren, Tatsache ist, dass ein anderes Zirkular nicht bestritten worden ist, ein Zirkular, das von einem Gutsvorsteher – wahrscheinlich von anderen gleichfalls – versandt worden ist und das den Zweck verfolgte, dafür zu sorgen, dass die polnischen Wähler mit ungenügender Legitimation zu den Wahlurnen kommen und dass nur denjenigen Wählern, die man für konservativ, für polenfeindlich hielt, die Mitteilung gemacht wurde, welche Art Wahllegitimation gefordert würde.

(„Hört! Hört!" bei den Polen.)

Meine Herren, diese Maßregeln sind in der Tat unerhört,

(„Sehr wahr!")

und es muss betont werden, dass gerade die Tatsache, dass trotz der Kassierung der Wahl in Schwetz solche Vorgänge sich wieder haben ereignen können, beweist, wie notwendig es ist, mit eisernem Besen auszufegen, dass es vollkommen ungenügend ist, dass der Reichstag durch irgendwelche Resolutionen seinen Unwillen zum Ausdruck bringt über dergleichen Dinge.

(„Sehr richtig!")

Hier muss das Übel an der Wurzel gefasst werden, in Preußen selbst muss mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden dieses Agrariertum, diese Landratswirtschaft, diese Paschawirtschaft, die auf Gesetz und Recht pfeift im Interesse der in Preußen herrschenden Parteien.

(„Sehr wahr!")

Eine sehr lustige Geschichte ist ja in Pommern passiert, in Puttkamerun, wie es einstens genannt wurde. Dort ist ein nationalliberaler Kandidat, Oskar Jesko von Puttkamer, Hauptmann a. D., aufgestellt gewesen. Dieser nationalliberale Puttkamer ist von der Konservativen Partei wegen seiner nationalliberalen Kandidatur sehr unfreundlich behandelt worden. Er hat einen Notschrei in der Nummer 297 der „Nationalzeitung" vom vorigen Jahre veröffentlicht, in dem es unter anderem heißt:

Mit Ausdrücken tiefsten Bedauerns wurde von den Gegnern festgestellt, dass ich als Adliger und ehemaliger Kompaniechef dieser Partei in die Arme gefallen sei, die ja andauernd weiter nach links auf der schiefen Ebene rutsche. Lokale wurden mir massenhaft verweigert"

einem Herrn von Puttkamer in Puttkamerun Lokale verweigert! –,

weil die Wirte fürchteten, dass alsdann die Kriegervereine nicht mehr bei ihnen verkehren könnten, ja, meine beiden ehemaligen Regimenter, die beiden pommerschen Grenadierregimenter, betrachteten mich anscheinend als ihres Verkehrs unwürdig, da ich nie mehr zu einer festlichen Veranstaltung aufgefordert werde."

Meine Herren, der selige Minister von Puttkamer würde sich im Grabe umwälzen, er würde egal im Grabe rotieren, nach dem bekannten Worte, wenn er davon erführe, wie es seinem Verwandten und Namensvetter in Puttkamerun im Jahre des Heils 1912 ergangen ist.

Aber, meine Herren, fast noch charakteristischer als dieser Vorgang selbst ist die Tatsache, dass der Redner der Nationalliberalen Partei auf ihn nicht mit einem Worte zurückgekommen ist.

(„Hört! Hört!")

Meine Herren, weshalb ist er nicht darauf zurückgekommen? Weil die pommerschen Nationalliberalen nicht sehr beliebt sind bei den Herren um Friedberg und Genossen!

(Abgeordneter Dr. Lohmann: „Ganz falsch, verehrter Herr, das hätte ich getan!")

So, na ja, jetzt werden Sie es vielleicht tun.

(Abgeordneter Dr. Lohmann: „Nein, auch ohne dem!")

Schön, Ihr Wort in allen Ehren; aber es wäre doch wohl besser gewesen, wenn Sie diese Dinge sofort vorgebracht hätten. Herr Dr. Friedberg hätte sich auch ein klein wenig um die Interessen seiner Partei in Pommern kümmern können.

(Lachen und Zurufe bei den Nationalliberalen.)

Nun aber, meine Herren, etwas anderes, was gestern im Reichstag zur Sprache gebracht worden ist und was ich hier auch vorbringen muss. Mein Freund Fischer hat gestern im Reichstag Mitteilung gemacht über gewisse Verhandlungen zwischen der Reichsregierung und der preußischen Staatsregierung, speziell dem Herrn Minister des Innern, über die Anschaffung von amtlichen Wahlurnen.6 Aus diesen Verhandlungen, insbesondere aus einem Schreiben des Herrn Delbrück an Herrn von Dallwitz, ergibt sich, wie zäh die preußische Regierung die Einführung von amtlichen Wahlurnen hintertrieben hat,

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

dass sie auch heute noch die größte Abneigung dagegen zeigt. Wenn man einmal das geheime Wahlrecht will, dann muss man auch die Wahlurnen haben;

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

wenn man allerdings das geheime Wahlrecht nicht will, es nur als eine lästige Fessel betrachtet, dann wird man keine Wahlurnen wollen. Herr Minister von Dallwitz will also offenbar das geheime Wahlrecht auch für den Reichstag nicht. Er sucht als gehorsamer Schüler, als gehorsamer Diener der Herren von der Rechten, der konservativen Parteien, alle Mittel in Bewegung zu setzen, um zu verhindern, dass die Geheimhaltung der Wahl zur Wirklichkeit werde. Herr Delbrück hat es gestern abgelehnt, auf diese Enthüllungen des Herrn Abgeordneten Fischer einzugehen mit einem Vorwande, den wir mit aller Kaltblütigkeit beiseite schieben und der uns hoffentlich heute nicht wieder vorgetragen wird: es handle sich um eine Indiskretion, und derartige durch Indiskretion erhaltene Dinge dürfe man nicht in die Öffentlichkeit bringen.

Meine Herren, so liegt es nicht. Die Regierung ist da, die Interessen des Volkes zu vertreten und zu wahren.

(Zuruf bei den Sozialdemokraten.)

Dazu sollte sie wenigstens eingesetzt sein; sie gibt sich den Anschein, als ob sie dazu eingesetzt wäre. Sie hat kein Recht dazu, geheime Sudelköchelei zum Schaden des Volkes zu treiben. Sie hat kein Recht dazu, gemeinschädliche Handlungen hinter den Kulissen vorzunehmen und dann den anzugreifen, der in die Öffentlichkeit zieht, welche Verschwörungen gegen das Gemeinwohl von der Regierung vorgenommen worden sind. Meine Herren, wir werden es stets für unsere Pflicht und Schuldigkeit halten, dieser gemeinschädlichen Geheimnistuerei, die das Licht der Öffentlichkeit zu scheuen hat, entgegenzutreten.

(Glocke des Präsidenten.)

Präsident Dr. Graf von Schwerin-Läwitz: Herr Abgeordneter Dr. Liebknecht, Sie dürfen der preußischen Regierung nicht vorwerfen, dass sie Verschwörungen gegen das Gemeinwohl schmiedete. Ich bitte, das zu unterlassen; Sie würden mich sonst in die Lage setzen, Sie zur Ordnung zu rufen, was ich zum ersten Male während meiner Amtszeit nicht gern tun würde.

Liebknecht: Meine Herren, wenn man sieht, welche Haltung die preußische Regierung hier in der Wahlurnenfrage eingenommen hat, dann wird man verstehen, welche Haltung sie bei den künftigen Wahlen einnehmen wird. Wenn das, was ich eben geschildert habe, schon bei den Reichstagswahlen Praxis der Konservativen Partei und der mit ihr versippten Regierung ist, unter welchem gewaltigen Druck vollziehen sich dann, wie ja für jedermann evident ist, die öffentlichen Wahlen, die angeblich auch den „Willen des Volkes" zum Ausdruck bringen sollen!

Meine Herren, ich will nicht weiter eingehen auf das Sündenregister der Konservativen Partei in Bezug auf die Arbeiterknebelung auf dem Lande. Ein charakteristisches Beispiel ist ja bereits von Herrn Abgeordneten Wiemer angeführt worden. Ich möchte nur mit einem Wort eine charakteristische Erscheinung erwähnen, eine Tatsache, die vor kurzem in der Presse gemeldet worden ist, und zwar von der katholischen „Westfälischen Rundschau". Da heißt es aus Mersch bei Drensteinfurt vom 4. Januar: Ein Warteraum für Adlige ist am Bahnhof hier eingerichtet worden. Es wird geschildert, wie ein Reisender nach dem Warteraum I. und II. Klasse gehen wollte, wie er ihn verschlossen fand und wie ihm dann von dem Stationsvorsteher bedeutet wurde, dass dieser Warteraum nur für die „Hohen Herrschaften" vorbehalten sei. Meine Herren, ich möchte vom Herrn Eisenbahnminister hören, ob es wirklich in Preußen bereits so weit gekommen ist, dass solche Wartesäle für Adlige eingerichtet werden.

(Zuruf rechts: „Der sitzt auf der anderen Seite!")

Ich weiß, meine Herren. Aber ich habe mich zu Ihnen gewandt, weil ich weiß, dass auch in diesem Punkte Sie die Auftraggeber des Herrn Ministers sind.

(Lachen rechts.)

Es hat ja gar keinen Sinn, hier zu den Ministern selbst zu sprechen; sie sind ja in der Regel nur das Echo von Ihnen, meine Herren.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, die Freikonservative Partei hat sich jüngst einmal in die Notwendigkeit versetzt gesehen, sich zu definieren. Prof. Dr. Seiffert ist in Breslau aufgetreten, um der Welt zu verkünden, was denn eigentlich die Freikonservative Partei ist, und dieser Herr kommt zu der außerordentlich lustigen Entdeckung, dass die Freikonservative Partei in geistigen und kulturellen Fragen freiheitlich sei, dass der freikonservative Standpunkt der der unbedingten Toleranz sei. „Frei in geistiger und kultureller, konservativ in politischer Hinsicht", das sei das Wesen der Freikonservativen Partei.

(Lachen bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, wir kennen die Freikonservativen wahrhaftig schon etwas länger, und der Herr brauchte sich die Mühe der Definition nicht zu geben. Wir wissen, sie sind die volksfeindlichen Scharfmacher, die wir in Preußen neben den Herren von der äußersten Rechten haben, und verbinden mit dieser volksfeindlichen offenen Scharfmacherei nur vielleicht noch ein klein bisschen Streben nach jener ebenso volksfeindlichen und volksverräterischen Durchtriebenheit, mit der die Herren links von ihnen – das Zentrum – ihre reaktionären Ziele zu verfolgen gewöhnt sind.

[„Es verwandeln die Bischöfe Aufruhr in Religion"]

Meine Herren, sehr charakteristisch ist, dass der Herr Abgeordnete Graf Praschma in seiner gesamten Etatsrede mit keinem einzigen Worte gesprochen hat nicht nur von allen sozialpolitischen Interessen, von den Interessen der Masse des Volkes, sondern mit keinem einzigen Worte sogar von der Wahlrechtsfrage, obwohl doch jetzt vor den Neuwahlen alle Parteien, die wirklich eine energische Reform des Wahlrechts wollen, die Wahlrechtsfrage in den Vordergrund stellen müssen. Da wagen es die Herren vom Zentrum zu behaupten, dass sie eine Wahlrechtsreform wollen!

Wir wissen ja allerdings, dass das bloß ein Zeichen neben vielen anderen ist; sie haben bereits bewiesen, dass sie keine Veränderung des Wahlrechts wollen. Aber es ist charakteristisch, angesichts der Redensarten über die Wahlrechtsreform, die auch gelegentlich noch aus ihrem Munde ertönt sind, darauf hinzuweisen, dass in dieser wichtigen Stunde vom Herrn Abgeordneten Graf Praschma nicht ein Wort darüber gesagt ist.

Meine Herren, anders aber ist es mit der Jesuitenfrage7. Sie ist auch hier wiederum ähnlich wie im Reichstag – das Schauspiel wiederholt sich – ganz ausschließlich, alles andere zurückdrängend, in den Vordergrund gezogen worden. Eine Stunde, anderthalb Stunden glaube ich sogar, hat Herr Graf Praschma nur die Jesuitenfrage besprochen. Meine Herren, unsere Stellung zur Jesuitenfrage ist klar; ich habe nicht nötig, sie nochmals besonders zu betonen. Es ist gerade in den letzten Tagen in der „Tremonia" behauptet worden, dass die Sozialdemokratie keine Gegnerin des Jesuitengesetzes sei, dass sie sich im Gegenteil alle Mühe gäbe, das Jesuitengesetz aufrechtzuerhalten. Das ist nicht wahr, das ist geradezu eine deutliche Entstellung der Tatsachen. Die Sozialdemokratie hat sich bei jeder Gelegenheit Mühe gegeben, mit aller Wucht für die Aufhebung des Jesuitengesetzes einzutreten. Meine Herren, so wahr es ist, dass die Sozialdemokratie hier ihre Schuldigkeit getan hat, solange das Gesetz existiert – es wird nicht einer uns den Nachweis führen können, dass es anders ist –, so wahr ist es, dass es eine Partei gibt, die ihre Schuldigkeit zur Aufhebung des Jesuitengesetzes noch nicht getan hat: das ist die Zentrumspartei!

(Widerspruch und Lachen im Zentrum.)

Die Zentrumspartei ist es, die bisher ihre Schuldigkeit nicht getan hat. Sie hätte wohl die Macht in den Händen, die Aufhebung des Jesuitengesetzes zu erreichen, wenn sie nur wollte. Sie braucht aber das Jesuitengesetz aus sehr leicht erkennbaren politischen Gründen.

Meine Herren, Tatsache ist, dass die Herren vom Zentrum mit einer außerordentlichen Geschicklichkeit alle Minen der Regiekunst haben springen lassen, um diese Münchener Hatz8 einzuleiten, denn es ist eine echte Münchener Hatz. Man wird an Herrn Justizrat Schmitt erinnert, der sich auf der Generalversammlung der Katholiken in Aachen im August vorigen Jahres mit dem Oberleiter der Illumination verglichen hat, der nur auf den Knopf zu drücken brauche, und sofort flammten tausend Kerzen, sofort erschalle stürmischer Beifall. Ja, meine Herren, Sie haben auf den Knopf gedrückt, sofort kocht die Volksseele, sofort ist der Kulturkampf da. Meine Herren, es ist sehr charakteristisch, dass Sie diese Ihre Regiekunst bisher noch nicht ein einziges Mal in der Wahlrechtsfrage entfaltet haben,

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

die doch wahrhaftig wichtig genug ist und die Ihnen vielleicht auch gerade die Lösung der Jesuitenfrage erleichtern würde.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Erreichen Sie erst einmal ein wirklich freies Wahlrecht in Preußen – Sie können versichert sein, es wird dann auch eine andere preußische Regierung dasitzen, sitzen müssen, die sich auch in Bezug auf die Jesuitenfrage anders stellt, mehr dem Willen der Massen des Volkes nachgeben wird, und der Wille der Masse des Volkes ist natürlich auf Aufhebung des Jesuitengesetzes gerichtet. Also fürs Wahlrecht, wenn Sie ernstlich die Aufhebung des Jesuitengesetzes wollen,

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

einen ähnlichen Sturm entfachen, wie Sie ihn jetzt bei dem Jesuitengesetz entfacht haben!

Meine Herren, wie und mit welcher Demagogie von Ihnen gearbeitet wird, das beweist ein Artikel der „Germania" vom 17. Dezember „Aus sturmbewegter Zeit". Dieser Artikel von der sturmbewegten Zeit spricht nicht von der äußeren, sondern nur von der inneren Politik, nur von der Jesuitenfrage. Und was besonders interessant an diesem Artikel ist, es wird darin mit allen Kälbern gepflügt, auch der Partikularismus wird für die Interessen der Zentrumspartei eingespannt, und zwar in einer geradezu hetzerischen Weise – in Anführungszeichen natürlich gesetzt –, von Ihnen, die Sie uns so gern vorwerfen, dass wir Hetzer seien, wo wir die reinen Waisenknaben sind im Verhältnis zu Ihnen. Besonders wird mit der Reichsfeindschaft Bayerns und Süddeutschlands gedroht, wenn die Jesuitenfrage nicht gelöst werde. Besonders interessant ist die Schicksalsfrage:

Geizt Herr von Bethmann Hollweg etwa nach dem Ruhm eines modernen Pilatus?

Herr von Bethmann Hollweg als der moderne Pilatus! Das ist die allerneueste Erfindung der Jesuitenkulturkampfpaukerei, die von Ihnen künstlich produziert worden ist aus allzu deutlichen, allzu offensichtlichen Gründen. Meine Herren, die Herren vom Zentrum arbeiten ja im Abgeordnetenhaus und Reichstag nach genau demselben Rezept, um die katholische Volksseele aufzupeitschen. Meine Herren, unserthalben selbstverständlich wenden Sie alle Mittel an, die Ihnen irgend zur Verfügung stehen. Wir haben nichts einzuwenden, solange Sie bei der Ehrlichkeit bleiben und solange von Ihnen nicht offenkundig mit diesem Jesuitenrummel, darf man wohl sagen, Zwecke verfolgt werden, die absolut abseits liegen von der Aufhebung des Jesuitengesetzes!

Herr Abgeordneter Graf Praschma hat den Jesuitenhimmel in allen Tonarten gelobt und demgegenüber die Umsturzhölle in den entsetzlichsten Farben ausgemalt. Er hat damit im Grunde nur eine Taktik fortgesetzt, die schon seit langer Zeit betrieben wird, insbesondere auch von Windthorst betrieben worden ist. Es ist jüngst in der Presse, in der „Germania" vom 11. Januar, ein Brief von Windthorst vom 4. Oktober 1890 veröffentlicht worden, in dem die Jesuiten als bestes Heilmittel gegen den Umsturz empfohlen werden, und so hat denn auch Herr Abgeordneter Graf Praschma nun alle Register gezogen. Er hat sogar den Schatten des reaktionären Herrn von Gerlach heraufbeschworen, der im Jahre 1853 den Jesuitenorden gepriesen hat, weil er mit dem schönsten Schmuck geschmückt sei, mit dem Hass der Revolution. Meine Herren, Tatsache ist ja, dass die Herren vom Zentrum durch die Arbeit, die sie in der letzten Zeit politisch und sozialpolitisch geleistet haben, sich auch bereits geschmückt haben mit dem Hass – nicht der Revolution, aber mit dem Hass aller ehrlichen Arbeiter- und Volksfreunde.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten. – Widerspruch und Lachen im Zentrum.)

Wenn der Abgeordnete Graf Praschma die Jesuiten als diejenigen gepriesen hat, die nur einen einzigen Gedanken, nur ein Ziel verfolgten, die Autorität der weltlichen Gewalten und die kirchliche Autorität zu schützen, meine Herren, so erkennt man, wie hier die Wurst nach der Speckseite geworfen wird.

(Lachen im Zentrum.)

Meine Herren, es ist nicht möglich, hier im Einzelnen darzulegen, wie die Herren vom Zentrum längst jedes Recht verwirkt haben, hier die Aufhebung des Jesuitengesetzes zu heischen unter der Parole „für Gerechtigkeit", „für Gewissensfreiheit". Sie haben das Recht verwirkt, meine Herren, das ist Ihnen schon wiederholt nachgewiesen worden, nachdem Sie die Gerechtigkeit mit Füßen getreten, nachdem Sie selbst Denunziationen Tür und Tor geöffnet, die Denunziation zum System erhoben haben gegen alle, die sich nicht Ihrem Willen beugen, nicht nur Kirchendiener, sondern auch Staatsdiener, nachdem Sie die Freiheit, unter deren Namen Sie angeblich kämpfen, unterdrückt haben und fortgesetzt unterdrücken in Bayern, wo Sie das Heft in Händen haben, in Preußen gegenüber den Staatsarbeitern. Auch im Reiche vertreten Sie ja offen den Standpunkt, dass den Staatsarbeitern kein Koalitionsrecht gegeben werde und dass der Staat das Recht habe, als Herr im Hause gegen die Arbeiterschaft und die Beamtenschaft aufzutreten. Meine Herren, Sie haben das Recht verwirkt, mit solchen großen Tönen von Gewissensfreiheit aufzutreten, wo Sie doch ganz deutlich und vor aller Welt kundgegeben haben, dass Ihnen – von der Schulverpfaffung zu schweigen – politische Gewissensfreiheit Hekuba ist. Hier heißt es: Entweder – oder. Wenn die Herren vom Zentrum eine ehrliche Politik durchführen würden, wie sie den großen Idealen: Wahrheit, Recht und Freiheit entspräche, dann könnten Sie ganz anders vor das Volk hintreten; so aber werden Sie sich immer wieder die Maske vom Gesicht herab reißen lassen müssen. Sie rufen die großen Ideale nur auf, um sich dadurch ein Schild, eine Kulisse zu schaffen, hinter der Sie um so bequemer Ihr volksfeindliches Treiben entfalten können.

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

So liegt es im vorliegenden Falle mit dem Kampf um das Jesuitengesetz, der in Süddeutschland aufgerollt worden ist. Sie verfolgen gewiss einmal die Aufhebung des Jesuitengesetzes, obwohl es sehr zweifelhaft ist, ob Ihnen die Aufhebung recht genehm wäre.

(Lachen im Zentrum.)

Sie brauchen jedenfalls das Jesuitengesetz. Ich habe Ihnen schon im Reichstag gesagt, Sie leben zum guten Teil vom Jesuitengesetz.

(Lachen im Zentrum.)

Aber selbst zugegeben, dass Sie die Aufhebung des Jesuitengesetzes wünschen, wenn Sie sie durchsetzen könnten, im gegenwärtigen Moment haben Sie sicherlich mit der Aufrollung dieser Frage, mit der Zurückstellung aller anderen Fragen hinter diese einzige Frage die Absicht, Stimmung in der Wählerschaft zu machen, dafür zu sorgen, dass eine möglichst günstige Wahl für Sie herausspringen möge. Es ist also ein gut Stück Wahldemagogie, das Sie treiben. Sie wollen vermeiden, dass Ihnen Ihre Sünden, die berghoch gehäuft sind und die Sie kennen

(Lachen im Zentrum.)

und doch lachen Sie darüber, das ist charakteristisch –, bei den Wahlen allzu wirksam vorgehalten werden könnten. Es ist mit Ihrem Lachen genau wie bei den Herren von der Rechten.

(Zurufe aus dem Zentrum: „Na also!")

Gewiss, Sie sind ein Herz und eine Seele. Wir wissen, dass Sie damit den Zweck verfolgen, Ihre Sünden vergessen zu lassen, und wir wissen, dass Sie speziell auch diese Jesuitenhatz brauchen, um auf die Weise in der Gewerkschaftsfrage eine etwas bessere Position zu erobern. – Herr Imbusch, Sie schütteln mit dem Kopf. Der Abgeordnete Giesberts hat jüngst im Reichstag gesagt, ich hätte die Wut und den Ärger der Sozialdemokratie gezeigt über die glückliche Lösung der Gewerkschaftsfrage durch die Enzyklika9. Wie „glücklich" diese Lösung war, das haben doch wohl inzwischen die letzten Wochen, die Vorgänge im Saarrevier10 gezeigt und alles, was drum und dran ist, und das hat doch wohl auch Herrn Imbusch die Rede des Herrn Handelsministers gezeigt. Herr Imbusch, wollen Sie leugnen, dass Sie wie ein begossener Pudel da unten gestanden haben bei der Rede des Herrn Handelsministers?

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten. – Glocke des Präsidenten.)

Präsident: Herr Abgeordneter, das ist kein passender Ausdruck. Sie dürfen einem Abgeordneten nicht sagen, dass er wie ein begossener Pudel dagestanden hat. Ich bitte, das zu unterlassen.

Liebknecht: Es bewahrheitet sich bei der Regiekunst, die hier vom Zentrum entfaltet ist, das Wort von Morton aus „Heinrich IV.": „Es verwandeln die Bischöfe Aufruhr in Religion." So suchen Sie bei dieser Gelegenheit die gesamte politische Unzufriedenheit derjenigen Bevölkerung, die Ihnen anhängt und für die Sie keine ehrlichen politischen Befriedigungsmittel haben, die ganze politische und soziale Gärung unter Ihren Anhängern in Religion zu verwandeln, um auf diese Weise einen bequemeren Standpunkt zu haben. Aber solche Falschmünzerei ist nicht auf die Dauer möglich.

(Zurufe im Zentrum: „Seien Sie doch froh!")

Gott, wir tun ja unseres dazu, um dafür zu sorgen, dass dies nicht auf die Dauer möglich ist, und daher das, was ich eben gesagt habe. – Wenn aber der Herr Kultusminister durch seine ungemein vorsichtigen Ausführungen, die wir natürlich sachlich trotzdem nicht billigen, weil wir gewünscht hätten, dass er offen für die Aufhebung des Jesuitengesetzes eingetreten wäre, vielleicht gemeint hat, damit Öl auf die Wogen zu gießen, so kennt er das Zentrum und die von ihm verfolgten politischen Ziele schlecht. Es ist aber auch in der „Germania" vom 12. dieses Monats erklärt worden: Durch die Versprechungen des Ministers werden sich die Katholiken nicht davon abbringen lassen, gegen das Jesuitengesetz mit aller Kraft Front zu machen, bis es aufgehoben wird. Und sehr charakteristisch ist eine Resolution, die am 10. Januar von einer Charlottenburger Zentrumsversammlung angenommen worden ist. Da wird am Schluss gefordert, dass die Zentrumsfraktion im Reichstag es im Kampf der Freiheit gegen die Unterdrückung des Rechts durch die Gewalt auf jede Kraftprobe ankommen lassen soll.

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

So wird hier gewissermaßen aufgefordert, den Etat zu verweigern, denn darauf läuft doch die ganze Geschichte hinaus. So spielt das Zentrum mit verteilten Rollen. Draußen lassen sie hetzen, dass die Fraktionen scharf gemacht werden sollen, dass der Sturm der Wähler noch viel stärker erscheint, als im Reichstag, in den Parlamenten zum Ausdruck kommt. Hier wollen Sie den Eindruck erwecken, als ob Sie vorsichtig die gewaltigen Sturmwellen dämpften, die sich draußen erhoben hätten. Tatsache ist, dass diese Sturmwogen draußen, die angeblich Sie tragen, von Ihnen erst ganz künstlich erzeugt worden sind, damit Sie für Ihre parlamentarischen Theateraktionen den nötigen Rückhalt haben.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Unsäglich amüsant ist nun die Verlegenheit der Konservativen Partei in der Jesuitenfrage. Das arme gequälte evangelische Gewissen kann einem in diesen Tagen wahrhaftig in der Seele wehe tun; denn Sie (zur Rechten) vertreten doch angeblich das evangelische Gewissen. Schon der konservative Etatredner hat nicht mit einem Wort über die Jesuitenfrage gesprochen, er hat nicht mit einem Wort über den Saarstreik und die dortigen Vorgänge gesprochen, obwohl er den Klinikerstreik in Halle11 für wichtig genug gehalten hat, um ihn zu erwähnen. Das ist sehr lehrreich.

Wenn man die Pressauslassungen der „Deutschen Tageszeitung", der „Kreuz-Zeitung" unmittelbar nach der Jesuitenaktion im Reichstag betrachtet, so sieht man, wie diese Organe, weit davon entfernt, sich auf die Seite der Regierung zu stellen, ihr noch unwirsche Vorwürfe machten, ob sie nicht vielleicht zu unsanft und unfreundlich mit dem Zentrum umgegangen sei. Besonders charakteristisch ist der Artikel der „Deutschen Tageszeitung" vom 5. Dezember, wo es heißt:

Vielleicht wäre es aber nicht unzweckmäßig gewesen, wenn er"

nämlich der Reichskanzler –

seine in der Sache berechtigten Mahnungen etwas anders hätte ausklingen lassen, wenn er auf die hochgehenden Wogen der Erregung einen stärkeren Tropfen glättenden Öles gegossen hätte."

So wird von der agrarischen „Deutschen Tageszeitung" geschrieben, bei der das evangelische Gewissen so stark entwickelt ist, dass der Hauptträger dieses evangelischen Gewissens in der „Deutschen Tageszeitung" kaum noch imstande ist, diese Bürde zu tragen und in jedem Augenblick von den großen Worten des Evangeliums überquillt. Das evangelische Gewissen hat aber für die Konservativen zurückgestellt werden müssen hinter die „Staatsnotwendigkeit", mit dem Zentrum zusammen gute Brüderschaft aufrechtzuerhalten zur gemeinschaftlichen Schädigung der großen Masse des deutschen Volkes.

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, das ist das Interesse, das Sie verfolgen. Wenn man schon im privaten Leben beobachten kann, wie Religion und Geschäft oftmals ganz heterogene Dinge sind, im politischen Leben sieht man es noch viel deutlicher; und das eklatanteste Beispiel dafür, das vielleicht je in der Geschichte zutage getreten ist, das ist die Hauptvertreterin der evangelischen Kirche in Deutschland, die Deutsch-konservative Partei.

Nun werfen sich die Konservativen und das Zentrum gegenseitig den Ball des Ausnahmegesetzes gegen die Sozialdemokratie zu. Das ist ja überhaupt eine sehr lustige Sache. Die konservative Presse sucht das Zentrum zu beruhigen: Nachbarin, Euer Fläschchen bei der Jesuitenunruhe; ein Sozialistengesetz, ein Ausnahmegesetz gegen die Sozialdemokratie gefällig? Vielleicht kann das Balsam sein auf Eure blutende Wunde, auf die durch den Jesuitenschlag blutende Wunde. Und die Herren vom Zentrum? Es ist zwar in bayrischen Zeitungen, so in der „Augsburger Postzeitung", abgewinkt worden gegenüber den konservativen Liebeswerbungen in Bezug auf ein Ausnahmegesetz. Aber auch das ist nur eins von den altbewährten Spielen mit verteilten Rollen. Was hat denn der Herr Abgeordnete Graf Praschma über die Frage des Ausnahmegesetzes gesagt? Er hat sich mit einer mindestens sehr zweideutigen Redensart darüber hinweggeholfen. Sie haben ja auch in Bayern Ausnahmegesetzen gegenüber der Arbeiterschaft zugestimmt, wenn auch im Verwaltungswege usw. Sie sind ja so entwicklungsfähig; Sie sind zu allem fähig; Sie werden auch einem Sozialistengesetz, einem Ausnahmegesetz gegen die Sozialdemokratie, Ihre Zustimmung geben, und wer weiß, ob das nicht am Ende auch eins von den Mitteln ist, um die Brüderschaft zwischen Konservativen und Zentrum weiter zu befestigen.

Meine Herren, sehr lustig ist, wie auf der anderen Seite sich das Zentrum den Konservativen und der Regierung gegenüber als das beste Mittel gegen die Sozialdemokratie anpreist. Es versichert, dass die Jesuiten zur Bekämpfung der Sozialdemokratie ungefähr ebenso wirksam seien, wie nach Versicherung der Herren von der Rechten ein Ausnahmegesetz gegen die Sozialdemokratie. Sowohl die Taktik der Herren vom Zentrum wie die der Herren von der Konservativen Partei dreht sich um die Sozialdemokratie. Beide wünschen – jeder auf seine Weise – die Bekämpfung der Sozialdemokratie. Ja, die Sozialdemokratie ist in der Tat die Achse, um die sich das ganze innerpolitische Leben in Deutschland dreht. Das beweist wieder von neuem dieser Vorgang.

Aber wie weit die Herren von der Konservativen Partei gehen, wie weit das evangelische Bewusstsein im Interesse des politischen Kuhhandels unterdrückt wird, das beweist der neugegründete Deutsch-Evangelische Volksbund. In dessen Aufruf heißt es:

Der Deutsch-Evangelische Volksbund sieht den Hauptkampf gegenwärtig im radikalen Liberalismus. Er wird bestrebt sein, mit dem gläubigen katholischen Teil des deutschen Volkes bei der Lösung von allgemein christlichen, nationalen und sozialen Fragen zu gemeinsamer Arbeit im Kampfe gegen die antichristlichen Mächte der Gegenwart Fühlung zu nehmen."

Das heißt also in der Tat: Die evangelische Kirche in ihrer orthodoxen Vertretung und die katholische Kirche in ihrer politischen Vertretung durch das Zentrum, sie reichen sich die Hand, die Reformation wird rückgängig gemacht

(Lachen rechts und im Zentrum.)

durch eine neue Reformation, beide Kirchen verschmelzen sich zum gemeinsamen Kampf gegen die Sozialdemokratie. Meine Herren, das ist doch wirklich erhebend fürs Gemüt. Glauben Sie, uns tut das weh? Für uns ist es ein Satyrspiel, dem wir nur mit Behagen zusehen. Lassen Sie nur die Jesuiten herein, uns soll es ein Vergnügen sein! Wir werden mit den Jesuiten auch fertig werden; und machen Sie Ihr Sozialistengesetz, wenn Sie können, auch damit werden wir fertig werden!

Nun, meine Herren, genug von dieser Münchener Hatz! Ein merkwürdiger Differenzpunkt zwischen den Konservativen und dem Zentrum hat sich in der jüngsten Zeit herausgestellt, ein Wölklein trübt den Himmel, das ist die Christlich-Nationale Land- und Forstarbeitergewerkschaft. Die Konservative Partei hat sich sofort energisch gegen diese Gewerkschaft gewandt. Die „Kreuz-Zeitung" schreibt unter anderem: Das geht nicht, Gewerkschaften dieser Art zu gründen, das bedeutet ja den sozialen Kampf auf das Land hinaustragen. Aber die „Kreuz-Zeitung" macht einen sehr lustigen Vermittlungsvorschlag, nämlich, es soll eine gemeinsame Organisation der ländlichen Arbeitgeber und Arbeiter geschaffen werden. Meine Herren, ist so etwas schon einmal dagewesen? Steht das in einer Faschingszeitung oder hat das die „Kreuz-Zeitung" ernsthaft geschrieben? Das würde ja eine schöne societas leonina geben, ein hübsches neues Mittelchen, um die Arbeiter zu unterdrücken und zu knebeln.

Es soll den Herren vom Zentrum aber nichts geschenkt bleiben, auch nicht die Frage der christlichen Gewerkschaften und die Vorgänge im Saarrevier. Dass die Enzyklika singulari quadam vom 24. September 1912 für das Zentrum eine sehr unangenehme Tatsache ist, darüber braucht kein Wort verloren zu werden. Tatsache ist ja, dass die christlichen Gewerkschaften sich schon seit langer Zeit umgestaltet haben. Früher waren sie eine Zeitlang etwas wie Kampforganisationen. Dieser Wandel hat sich am deutlichsten im Saarrevier gezeigt, wo schließlich die Führer der christlichen Gewerkschaftsbewegung zum Minister gegangen sind und ihm dargelegt haben, da ja die Bergarbeiter das Petitionsrecht hätten, so bedürften sie des Streikrechts nicht mehr. Es ist feierlich auf das Streikrecht verzichtet und so erreicht worden, dass die christliche Bergarbeiterorganisation staatlich konzessioniert ist. Die christlichen Gewerkschaften sind gegenwärtig nichts anderes als Fallen, in die die Arbeiter gelockt werden, um sie zur höheren Ehre des Unternehmertums, des Staates und der katholischen Kirche vollständig zu entwaffnen und unschädlich zu machen.

Das hat sich am deutlichsten gezeigt bei dem Saarstreik. Wenn Sie bestreiten wollen, dass die Enzyklika singulari quadam in der Tat ernstlich die Erdrosselung der christlichen Gewerkschaften bedeutet, dann erinnern Sie sich an die Vorgänge, die sich in Berlin abgespielt haben, wohin der lange Arm des Kardinals Kopp12 gereicht hat, um Versammlungen unmöglich zu machen, die zu einer Auseinandersetzung führen sollten mit der Berliner Richtung13, die den christlichen Gewerkschaften im Saarrevier in den Rücken gefallen ist. Meine Herren, darüber geben wir uns keinem Zweifel hin: Wenn die christlichen Gewerkschaften im Saarrevier Sturm geblasen haben im November, auch Dezember, dass sie es getan haben einmal, weil sie mussten – die Aufregung in der Bergarbeiterschaft war in der Tat ungeheuer und nur allzu berechtigt; dann aber, weil sie auf diese Weise dachten, die Scharte auszuwetzen, die ihnen zugefügt worden war durch den Ruhrstreik. Meine Herren, die Aufregung bei der Bergarbeiterschaft im Saarrevier war groß, ist groß, war berechtigt, ist berechtigt. Die Ausführung des Herrn Handelsministers über die Lohnverhältnisse im Saarrevier hat bereits ergeben, dass durchaus unzureichende Verbesserungen eingetreten sind. Und dass man auf Versprechungen vom Ministertisch nichts zu geben hat, darüber sollten sich doch alle einig sein, darüber waren sich auch die Herren von den christlichen Gewerkschaften einig, und das haben sie deutlich zum Ausdruck gebracht. Und was die Arbeitsordnung anbelangt, so enthält sie wenigstens ein halbes, wenn nicht ein ganzes Dutzend Punkte, die zum schärfsten Widerspruch herausfordern und eine außerordentliche Benachteiligung der Arbeiterschaft darstellen. Es ist nur allzu begründet, wenn die Arbeiterschaft im Saarrevier von der Stimmung ergriffen wurde, mit aller Energie gegen die Einführung dieser Arbeitsordnung vorzugehen und die Regierung zu nötigen, wenigstens einen Funken sozialen Gefühls und Verständnisses zu zeigen. Sie hätte die Verpflichtung, als Leiterin eines sogenannten Musterbetriebes der Privatindustrie voranzugehen; und sie hinkt tatsächlich hinter der Privatindustrie her. Nun, Tatsache ist, dass diese nur allzu berechtigte Empörung in überlegter Weise von den christlichen Gewerkschaften auf ein falsches Geleise abgeleitet und dass schließlich die Bergarbeiterschaft betrogen worden ist von den Leitern der christlichen Gewerkschaft – betrogen worden ist, meine Herren! –, so dass sie jetzt in der Tat nicht einen Funken von Vertrauen mehr haben kann zu den Leitern einer Organisation, die so mit den Interessen der Arbeiterschaft gespielt haben.

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, die Sozialdemokratie hat sich von vornherein bereit erklärt, in dem Streik mitzumachen; sie hat nicht etwa versucht, irgendwelche Konsequenzen zu ziehen für diesen Streik aus dem Streikbruch der christlichen Gewerkschaften im Ruhrrevier. Sie wurde jedoch von den christlichen Gewerkschaften zurückgewiesen. Die christlichen Gewerkschaften – das sei hier festgestellt – haben das freiwillige Angebot der freien Bergarbeiterorganisation, mit ihnen zusammen die Bewegung zu führen, ausdrücklich zurückgewiesen, weil sie den Verrat bereits damals planten, den sie nachher ausgeführt haben. Nun, trotz alledem, meine Herren, es ist eine Tatsache, die sich nicht leugnen lässt, dass die Berliner Richtung sich in einen Gegensatz zu den christlichen Gewerkschaften gesetzt hat. Aber auch das ist mehr oder weniger ein Kampf mit verteilten Rollen; denn wir erkennen deutlich, wie trotz der heftigen Kämpfe, die da ausgekämpft worden sind mit Fenster einwerfen und dergleichen – ich brauche ja nicht die bekannten Äußerungen aus der Zentrumspresse zu zitieren –, schließlich die beiden Organisationen gemeinschaftlich den Verrat an der Arbeiterklasse geübt haben. Begonnen hat mit dem Verrat ganz offenbar die Berliner Richtung, und die christlichen Gewerkschaften haben zunächst getan, als ob sie Opposition machten; dann haben sie einfach Fahnenflucht begangen, und damit war der Verrat an der Arbeiterschaft perfekt. Meine Herren, wie Sie sich damit selbst gekennzeichnet haben, das beweist eine Episode aus diesem Bruderkampfe. Die Vertrauensmänner der Berliner Richtung haben im Dezember gegen die christlichen Gewerkschaften ein Flugblatt veröffentlicht, fast wörtlich abgeschrieben von einem Flugblatte, das die christlichen Gewerkschaften beim Ruhrrevierstreik gegen den freien Verband, gegen die drei Verbände veröffentlicht haben, die damals im Streik standen. Sie (zum Abgeordneten Imbusch) haben die Berliner Organisationen als Streikbrecher bezeichnet; Sie haben damit anerkannt, welches Recht wir gehabt haben, Sie im Frühjahr vorigen Jahres als Streikbrecher zu bezeichnen. Sie sind jetzt selbst aus Ihren eigenen Reihen als das gekennzeichnet worden, was Sie sind.

Meine Herren, die Aufregung im Saarrevier ist ungemein groß. Es ist kein Zweifel, dass die Bergarbeiterschaft dort Konsequenzen aus dieser Haltung der christlichen Organisationen ziehen wird und dass sie sich von derartigen Arbeiterführern abwenden wird, denen nichts am Herzen liegt außer Schädigung der Arbeiterinteressen.

Meine Herren, wenn ich vorhin erwähnt habe, dass die Abfertigung, die der Herr Minister Sydow dem Herrn Abgeordneten Imbusch gegeben hat, sehr treffend gewesen sei, so muss ich doch am Schlusse meiner Ausführungen zu diesem Punkte noch energisch gegen den Scharfmacherton Verwahrung einlegen, den der Herr Handelsminister am Schlusse seiner Ausführungen angeschlagen hat, indem er erklärt hat: Wenn die jetzt gewählte Arbeiterkommission sich zu einer Kontrollkommission gegenüber der Verwaltung aufwerfe, werde er rücksichtslos mit Entlassungen vorgehen usw. Den Standpunkt des „Herrn im Hause" betont zu hören, wie es der Herr Minister getan hat, das sind wir ja in Preußen gewöhnt; aber wir müssen schon sagen, dass eine solche schroffe, rücksichtslose Hervorkehrung dieses Standpunktes, wie wir sie vor wenigen Tagen vom Herrn Handelsminister gehört haben, uns bisher in Preußen noch kaum begegnet ist. Meine Herren, dagegen erheben wir schärfste Verwahrung. Der Herr Minister wird sich gefallen lassen müssen, dass die Arbeiter auch ein klein wenig mitreden auf den Gruben. Wir haben keinen Absolutismus in den Grubenverwaltungen. Die Werksverwaltungen sind wirtschaftliche Betriebe, und die Arbeiter sind keine Sklaven, die Fabriken sind keine Kasernen, in denen kommandiert werden kann, und der Herr Minister wird sich gefallen lassen müssen, dass die Arbeiter sagen: Wir haben genau dasselbe Recht, bei der Gestaltung der Verhältnisse mitzusprechen, wie irgend jemand anders, wir wollen gehört werden, als gleichberechtigte Faktoren betrachtet werden. Meine Herren, dieser hochmütige Ton gegen die Arbeiterschaft ist durchaus nicht angebracht, nicht einmal im preußischen Abgeordnetenhause.

[Bürgerliche Sammlungspolitik gegen die Arbeiterklasse]

Meine Herren, ich will mich mit den Herren von der Nationalliberalen Partei nicht eingehend befassen; aber ein paar Worte muss ich ihnen doch widmen. Die Nationalliberale Partei ist besonders in der letzten Zeit von viel Pech heimgesucht worden. Herr Abgeordneter Bassermann genießt das Vertrauen der Partei angeblich nicht mehr; eine große Revolte hat sich erhoben; der Kampfruf ist zuerst in Pommern ertönt – ich habe die Vorgänge bereits gestreift – von dem Geheimen Justizrat Ludewig. Welche Gegensätze dieser Kampf aufgewühlt, zutage gefördert hat im Innern der Nationalliberalen Partei, das zeigen verschiedene Tatsachen. Der Nationalliberale Verein Ostcharlottenburg fordert bereits eine Verschärfung des Parteistatuts, um eventuelle Schädlinge aus der Partei herauszuwerfen: Wer nicht pariert, soll fliegen!

(Große Heiterkeit rechts, im Zentrum und bei den Nationalliberalen.)

Wer nicht nach der Pfeife des Herrn Friedberg tanzt, soll ausgemerzt werden, der soll nicht würdig sein, dieser Partei anzugehören, die ja jüngst nicht ganz unzutreffend als Asyl für politisch Obdachlose bezeichnet worden ist. Dass man beinahe bis zum Duell zwischen Herrn Geheimen Justizrat Ludewig und Herrn Abgeordneten Schiffer gekommen wäre,

(Zuruf bei den Nationalliberalen: „Schauerlich!" – Heiterkeit.)

meine Herren, das haben Sie ja auch in der Presse gelesen. Es wäre natürlich ein fürchterliches Unglück für die Weltgeschichte gewesen.

(Lachen bei den Nationalliberalen.)

Die Hauptschwierigkeiten für die Nationalliberale Partei ergeben sich natürlich immer wieder durch die Schwerindustrie, die gleichzeitig die Hauptgeldgeberin für die Nationalliberale Partei ist. Das Wörtchen „liberal" bei den Nationalliberalen hat ja ungefähr eben denselben Wert wie das Wörtchen „frei" bei den Freikonservativen. Meine Herren, die Kohlenbarone, die Schwerindustriellen sind es, die der Nationalliberalen Partei immer wieder zeigen, dass sie schließlich doch die maßgebende Macht sind, und wenn man so ein paar politisch-phantastische Professoren und Anhänger freier Berufe, so Halb- und Viertelliberale, in der Partei mit duldet, so ist das nötig, damit man ein Aushängeschild für gewisse Kategorien vom Wählern hat, die man mit der einfachen Scharfmacherparole nicht einfangen könnte. Am deutlichsten zeigt sich der Charakter der Nationalliberalen Partei in Preußen an der Stellung, die sie in der letzten Zeit zu den Konservativen eingenommen hat. Als die Jesuitenfrage aufgerollt wurde, schien manchem in der Nationalliberalen Partei die Gelegenheit günstig. Man witterte Morgenluft und dachte: Holla, jetzt werden die Konservativen bereit sein, leichter als bisher wieder mit uns zu dem alten Kartellverhältnis zurückzukehren, nach dem gar so viele Nationalliberale eine unüberwindliche Sehnsucht empfinden. Meine Herren, wollen Sie bestreiten, dass die Ausführungen des Herrn Abgeordneten Friedberg, die zu Anfang Dezember in Posen in einer nationalliberalen Versammlung gefallen sind, in dem Sinne, wie ich es eben sagte, politisch zu deuten sind? Herr Friedberg fordert, dass die Wunden verharschen sollen, die aus dem Bruch des Blocks von Seiten der Konservativen herrühren.

(„Sehr richtig!" bei den Nationalliberalen.)

Das wissen wir, dass auch Sie das wünschen. Es ist aber immer sehr wichtig, dass Sie es unterstreichen. Ich hoffe, dass Sie noch recht oft „sehr richtig" rufen. Ich will Sie ja kennzeichnen, und je mehr Sie bestätigen, dass das richtig ist, was ich sage, um so mehr beweisen Sie, dass meine Kennzeichnung richtig ist.

(Abgeordneter Lohmann: „Ich sage es nur kürzer!")

Gut, es wird Ihnen auch nötig sein, es möglichst kurz zu sagen, denn Sie möchten schnell darüber hinweggehen.

Ein verheißungsvoller Anfang"

sagte Herr Friedberg –

ist in Posen gemacht worden, wo ein Wahlabkommen mit den Konservativen getroffen worden ist. Möchte Posen dafür vorbildlich sein, dass die bürgerlichen Parteien auch anderwärts mit der gegenseitigen Zerfleischung, die nur der Sozialdemokratie zugutekommt, aufhören!"

(„Sehr richtig!" rechts.)

Gewiss, ja, ja, aus Ihrer Seele gesprochen! Wenn man so – wenn ich ein Wort brauchen darf, nehmen Sie es mir nicht übel – wie ein balzender Truthahn um die Konservative Partei herumtanzt, um Liebe girrend ihre Freundschaft zu erwerben, dann nimmt man schließlich auch ein bisschen Zentrum mit in Kauf. Sie sind schon beinahe soweit, auch das Zentrum in den Kauf zu nehmen. Es wird im Moment darüber verhandelt. Die Herren Konservativen setzen Ihnen die Bedingungen, um Sie von Ihren Linksbrüdern, von der Fortschrittlichen Volkspartei, loszuschneiden, aber radikal. Dieser Linkskurs muss eliminiert werden, und sie fordern weiter, dass Sie Ihre intransigente Haltung gegen das Zentrum aufgeben. Die Nationalliberalen wieder wünschen, dass die Konservativen ihre allzu enge Liaison mit dem Zentrum aufgeben und dass sie doch auch noch ein bisschen Interesse für die Interessen der industriellen Großkapitalisten zeigen möchten. Und, meine Herren, als schließlich alles andere nicht mehr zog, da kamen die Herren Konservativen den Herren Nationalliberalen mit demselben Angebot, mit dem sie bereits zur Beruhigung des Zentrums aufgetreten sind: „Ein Ausnahmegesetz gegen die Sozialdemokratie gefällig?" Es ist bekanntlich besonders der Herr von Wangenheim, der jüngst die gesamten sonstigen Schwierigkeiten, die einer Verbindung im Wege stehen, aus dem Wege zu räumen suchte, indem er meinte, auf dem Boden einer gemeinsamen Bekämpfung der Sozialdemokratie mit Hilfe eines Ausnahmegesetzes könne man sich wohl einigen. Und da wird das Zentrum wohl auch mitmachen, und das neue Kartell ist fertig, die Sammlungsparole hätte Erfolg.

Meine Herren, werden diese Versuche, diese Aufforderungen von nationalliberaler Seite, dass das Zentrum, die Konservativen und die Freikonservativen ihren Gaul an den dürren Ast der Sammlungspolitik anbinden möchten, Erfolg haben?

(Lachen bei den Nationalliberalen.)

Nun, meine Herren, machen Sie, was Sie wollen; uns gegenüber sind Sie ja im Grunde genommen bereits ein Herz und eine Seele. Es kann ja gar nicht mehr viel anders kommen, und deshalb viel Vergnügen zu Ihren Techtelmechteleien. Ich glaube allerdings, dass die Nationalliberalen vorläufig noch nicht so ganz mit den Konservativen zusammengehen können. Sie haben noch manches Sträußlein mit ihnen auszufechten im Interesse der schweren Industrie, nicht im Interesse der großen Masse der Bevölkerung, deren Interesse sie gar nicht vertreten, auch gar nicht vertreten wollen.

Ein zweites Angebot von Seiten der Konservativen an die Nationalliberalen ist ein Arbeitswilligengesetz14. Die „Deutsche Tageszeitung" vertritt mit geradezu verdächtigem Eifer jetzt die Propaganda für ein Arbeitswilligengesetz und empfiehlt es den National-liberalen. Vielleicht ist das auch irgend so ein Mittelchen. Wir wollen abwarten, wie der Hase läuft.

Vorläufig sehen wir, wie bei den Vorbereitungen zu den Reichstagswahlen die Nationalliberalen mit den Fortschrittlern zusammengehen, wenigstens in einigen Teilen. Aber wenn es nach dem Willen des Herrn Friedberg geht, dann wird wahrscheinlich das Zusammenwirken zwischen den Nationalliberalen und den Konservativen einen größeren Umfang annehmen als das zwischen den Nationalliberalen und den Fortschrittlern.

Meine Herren, ich bin nicht in der Lage, mich mit allerhand anderen Fragen zu befassen, auf die es notwendig wäre einzugehen, die aber schließlich der Einzelerörterung vorbehalten werden können. Unsere Stellung zur Enteignungsfrage15 brauche ich nicht zu präzisieren, sie ist wiederholt deutlich genug präzisiert worden, wir haben davon kein Wort nachzulassen.

Es ist noch kein Wort des Bedauerns über die verschiedenen schweren Grubenunglücke gefallen, die in der letzten Zeit in Preußen geschehen sind.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, es ist notwendig, dass auch hier in diesem Hause – natürlich kann es nur von sozialdemokratischer Seite geschehen – zum Ausdruck gebracht wird, wie sehr es zu beklagen ist, dass sich diese schweren Unglücke wiederholen und häufen. Wir erblicken darin nicht die Wirkung von unabwendbaren Ereignissen, sondern von Sünden in der Bergwerksverwaltung, von Wirkungen der Plusmacherei, in der Bergverwaltung ganz besonders. Dass die Bergverwaltung in diesem Falle insofern nicht in Frage kommt, als die Zeche Achenbach keine staatliche Grube ist, das will deswegen nichts besagen, weil die staatlichen Grubenverwaltungen überall mit schlechtem Beispiel vorangehen und die Privatindustrie natürlich keine Veranlassung nimmt, weiterzugehen als die Staatsverwaltung.

Es wäre auch sehr verführerisch, von der Schulreform zu sprechen und darauf hinzuweisen, wie Herr Graf Praschma sein Bedauern über die allzu zahlreichen hauptamtlichen Schulinspektoren, die eingesetzt worden sind, ausgesprochen hat.

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Sehr wichtig wäre es, ein Wörtlein zur Wohnungsfrage zu sprechen. Es wird sich eine besondere Gelegenheit ergeben, darüber das Erforderliche zu sagen. Das Kinderelend, die Kindersterblichkeit nagen an dem Marke des deutschen, des preußischen Volkes. Das sind Dinge von prinzipalster Wichtigkeit, denen nicht durch irgendwelche Etatposition im Interesse der Jugendpflege abgeholfen werden kann, denen auch nicht abgeholfen wird, wenn die Jugendpflege auf das schulpflichtige und vorschulpflichtige Alter ausgedehnt würde, wie Herr Abgeordneter Friedberg es gewünscht hat und wogegen natürlich an und für sich nichts einzuwenden ist, ja, was durchaus zu unterstützen wäre. Dieses Thema muss einmal in den Vordergrund der Erörterungen in diesem Hause gestellt werden, und ich hoffe, dass es noch in dieser Session geschieht.

[Die Reaktion vergiftet die Jugend]

Aber, meine Herren, ich muss einiges über die staatlich gefütterte und korrumpierte Jugendbewegung sagen, für die ja jetzt zweieinhalb Millionen ausgeworfen sind. Was diese Jugendbewegung für Resultate gezeitigt hat und zeitigt, darüber kann man nicht vollkommen klarsehen. Wenn man den Jungdeutschlandbund16 betrachtet, so wartet er mit ungeheuren Zahlen auf. Aber wenn er allein im Provinzialverband Schlesien 120.000 Köpfe zählt, so ist gerade jüngst aufgedeckt worden, wie diese Zahl ermöglicht worden ist. Dort ist nämlich einfach durch einen Akt der Regierung – offenbar der Verwaltungsbehörden – der ganze Regierungsbezirk Oppeln und ein Teil des Regierungsbezirks Breslau korporativ an den Jungdeutschlandbund angeschlossen worden. Ja, meine Herren, dann kann ein solcher Bund natürlich mit Leichtigkeit ungeheure Ziffern erreichen; aber nur schade, hinter diesen Ziffern steht nichts, und es ist jüngst bereits scherzhafterweise vorgeschlagen worden, man möge einfach ganz Deutschland dem Jungdeutschlandbund anschließen, dann hätte doch die arme Seele Ruh.

Über die Methoden, mit denen da gearbeitet wird, wie da militaristischer Geist erzeugt wird, wie Militärkapellen von der Militärverwaltung billiger zur Verfügung gestellt werden, das mag hier nicht näher erörtert werden. Interessant ist, wie dieser militaristische Geist in Spandau gewirkt hat, wie da ein Jugendwehrjüngling in Seeoffiziersuniform eine Serie von Köpenickiaden aufgeführt, die Bevölkerung und auch das Militär irregeführt hat: Er hat sich die militärischen Kenntnisse, die ihn zu diesem Gaunerstreich befähigten, bei der Jugendwehr17 erworben.

Meine Herren, dass man im Jungdeutschlandbund für kriegerischen Geist, für Chauvinismus kämpft, das entspricht offenbar Ihren Herzenswünschen. Das ist geradezu programmatisch. Wenn man aber hört, dass der Leiter der Ortsgruppe Krotoschin, ausgerechnet Krotoschin, am 7. Dezember in einer Festrede gesagt hat:

Es sind bedenkliche Kräfte am Werk, um die Ideale zu gefährden. Friedensapostel durchziehen das Land, und mit Wort und Schrift versuchen sie, den Heldengeist unseres deutschen Volkes zu vernichten. In Scharen strömen entnervte Männer und Frauen aller Gesellschaftskreise ihnen zu“

so geht das doch über die Hutschnur. Meine Herren, die Friedensapostel, die durch die Welt ziehen und sich Mühe geben, nach ihren Kräften zu verhindern, dass eine Massenmetzelei unerhörter Art über ganz Europa kulturvernichtend hereinbricht, in einer Götzendämmerung, einer Götterdämmerung unserer gesamten Kultur die Völker nieder geschlachtet werden, zu verhindern, dass Brand, Mord und Seuchen das Regiment der Welt antreten, die werden hier als höchst bedenkliche Friedensapostel bezeichnet, als Schädlinge, als entnervte Menschen. Das Eintreten für Ideale gilt Ihnen nach altem Rezept als entnervt; Sie müssen Leute mit starken Nerven haben, Leute, die stark sind – klug brauchen sie nicht zu sein. Das Rezept des Freiherrn von der Goltz ist ähnlich: Leute, die imstande sind, Gewalt gegen außen zu üben, die brauchen keine Mustermenschen zu sein, keine Tugendbolde, sie können gegen Gesetz und Recht freveln. Die Hauptsache ist, dass sie stark sind, nicht nur nach außen, sondern auch nach innen, um gegebenenfalls mit Gewalt die Sozialdemokratie, den Umsturz, niederzuwerfen. Dass solche Bestrebungen die Jugend verwildern, das hat nicht ein Sozialdemokrat, sondern ein Anhänger der Fortschrittlichen Volkspartei jüngst im Reichstag gesagt.

Meine Herren, die Bekämpfung der Sozialdemokratie und ihrer Bestrebungen in der Armee hat jüngst zu einem sehr drolligen Ergebnis geführt. Es soll eine Broschüre ausgearbeitet werden, die jeden Offizier in den Stand setzt, die Mannschaften über die Hohlheit und Gefährlichkeit der sozialdemokratischen Schlagwörter aufzuklären, und ihn befähigt, die vor ihrer Einziehung häufig sozialistisch „verhetzten" Rekruten und Reservisten zu überzeugtem Pflichtgefühl gegenüber Herrscher, Staat und Gesellschaft zurück zuführen. Die Arbeiten sollen bis zum 1. Juli 1913 eingereicht werden. Auch Nichtoffiziere dürfen sich darum bewerben. Meine Herren, das ist allerdings nicht ein deutsches Projekt, sondern ein österreichisches. Aber die „Kreuz-Zeitung" registriert es mit lebhafter Begeisterung und hofft, es offenbar auch für Deutschland zu fruktifizieren. Meine Herren, guten Appetit dazu!

Ich habe hier eine Zeitschrift in Händen: „Deutsche Jugendwehr". Wenn man sie durchliest, wird einem übel,

(Heiterkeit.)

besonders bei einem Artikel der Nummer 6 vom vergangenen Jahre, dem Weihnachtsartikel. Meine Herren, da wird in einer sehr unsympathischen Weise über das Christentum und die Pflichten der „Jugendwehrjünglinge" gegenüber der armen Bevölkerung gesprochen. Sie sollen den armen Leuten, die am Notwendigsten Mangel leiden, bringen, was sie haben, eine alte Jacke, ein Stückchen Kuchen. Dann würden sie sich ihres Heilands würdig zeigen, und die Jugendwehr würde stolz auf sie sein – für eine alte Jacke, die sie irgend jemandem hin tragen. Das bedeutet in der Tat ein bequemes „Christentum".

Gerade diese Weihnachten war es sehr charakteristisch, wie sich die reaktionären Organe mit dem Christenwort abgefunden haben: Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen. Die „Post" hat diese himmlische Botschaft, wie mir scheint, als eine Irrlehre bezeichnet – jedenfalls beginnt sie einen Artikel vom 25. Dezember, der „Irrlehren" überschrieben ist, gleich mit der himmlischen Botschaft: Friede auf Erden. Und die „Deutsche Tageszeitung" schwingt sich zu dem köstlichen Wort empor: Es ist schier so, als habe des Menschen Herz alles das, was es an Liebe hegen und entzünden kann, in diese Zeit hinein gerettet In der Tat, wenn man die Herren von der Konservativen Partei betrachtet: Sie haben alles an Menschenliebe in diese Zeit hinein gerettet, alles in den Weihnachtsartikel hinein. Außerhalb des Weihnachtsartikels haben sie nichts weiter von Menschenliebe usw. und insbesondere in ihrer Politik.

(„Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten. Lachen rechts.)

Meine Herren, besonders zeigt sich ja die Travestie auf das Christentum, die in unserer heutigen Zeit von der Politik der kapitalistischen Staaten getrieben wird, in der „Christbotschaft", die der Kavalleriegeneral von Bernhardi vom Stapel gelassen hat, und in der Tatsache, dass gerade jetzt, zu Weihnachten, dem Volke ein neues Christkind beschert worden ist in Gestalt einer Kruppschen Kanone von ganz besonderen Dimensionen, die wahrscheinlich auch in der neuen Militärvorlage eine Rolle spielen wird.

[Steigende Lebensmittelteuerung für das Volk]

Meine Herren, wie verhält sich demgegenüber die Regierung zu der Teuerung im Volke? Es ist in der Tat hier schwer, keine Satire zu schreiben! Auf Kaninchen- und Pferdefleisch, das als besonders eiweißhaltig gepriesen wird, wird das Volk verwiesen. Es ist für die Zeit bis zum 31. März dieses Jahres von dem Herrn Landwirtschaftsminister eine geringe Erleichterung für die Einfuhr ausländischen Fleisches gewährt. Es soll die Absicht bestehen, am 1. April diese Erleichterung wieder aufzuheben. Ich frage den Herrn Minister, ich frage die preußische Regierung, ob sie in der Tat den Plan hat, diese Erleichterung nicht über den 31. März hinaus zu gewähren. Wir fordern, dass diese Erleichterungen gewährt werden!

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Die Not hört mit dem 31. März nicht auf. Sie dauert weiter. Sie wird wahrscheinlich um so schlimmer werden, je mehr solche vorübergehenden Erleichterungen später aufgehoben werden.

Meine Herren, wir sehen, wie in der Fleischteuerungsfrage in einer geradezu erstaunlichen Weise – wie soll ich sagen – Irreführung geübt wird. Es wird allerhand Maßregeln – Moorkultur usw. und gar agrarischen Domänengeschenken – ein falsches Etikett aufgeklebt. Dem hungernden Volk wird geantwortet: Wir wollen zwar der Fleischnot abhelfen, aber es gibt nur ein Abhilfsmittel, nämlich die deutsche Viehproduktion so zu stärken, dass sie alles Vieh, alles Fleisch selbst produzieren kann. Ich weise darauf hin, dass von agrarischer Seite gar nicht gewünscht wird, dass der Fleischbedarf vollständig im Inland gedeckt wird, denn in dem Moment, wo das geschähe, würden Sie den Profit an den Zöllen einbüßen. Und weiterhin: Ist es denn überhaupt möglich, die deutsche Landwirtschaft in den Stand zu setzen, alles Fleisch selbst zu produzieren?

(Rufe rechts „Ja!")

Es ist nicht möglich, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil diese Berechnungen unter Außerachtlassung der Tatsache aufgestellt sind, dass andere Zweige der Landwirtschaft darunter leiden müssten, die dann eben auf den Import angewiesen wären. Meine Herren, so liegt die Sache, und infolgedessen heißt es stets das Bild verschieben. Überdies kann man ja doch bei unserer heutigen Wirtschaftsweise nur aus einer Abhängigkeit vom Auslande in die andere geraten. Die Abhängigkeit vom Auslande ist eine absolute Notwendigkeit, und selbst wenn Sie erreichen würden, dass unsere gesamten landwirtschaftlichen Produkte ausreichend für die Versorgung des Inlands erzeugt würden, dann würden wir nicht um eines Haares Breite vom Auslande unabhängiger sein, dann würden eben immer wieder andere Dinge: Fabrikate, Kleidungsstücke usw. aus dem Auslande importiert werden müssen. Wir leben im Zeitalter der Weltwirtschaft mit internationaler Arbeitsteilung. Es heißt in der Tat hier ein durchaus verwirrendes Spiel treiben, wenn man sagt, es dürften aus Gründen der nationalen Sicherheit zur Beseitigung der Fleischteuerung keine energischen Maßregeln durch Öffnung der Grenzen, durch Beseitigung der Seuchengesetzschikanen und durch Beseitigung des Paragraphen 12 des Fleischbeschaugesetzes ergriffen werden, Forderungen, die gerade am Sonntag wieder von 25 überfüllten Versammlungen in Berlin und Umgebung aufgestellt worden sind.

Meine Herren, ich will nicht weiter davon sprechen, inwieweit sich in der letzten Zeit bereits geradezu ein Rückgang des Viehbestandes in gewissen Teilen Deutschlands geltend gemacht hat. Ich will hier auch nicht weiter davon sprechen, wie bedauerlich es ist, dass in dem Subventionsvertrag mit dem Norddeutschen Lloyd eine Bestimmung getroffen ist, wonach landwirtschaftliche Produkte, die mit denen der deutschen Landwirtschaft konkurrieren, vom Norddeutschen Lloyd nicht nach Deutschland gebracht werden dürfen – eine geradezu unerhörte Bestimmung.

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, ich will nur darauf hinweisen, dass Deutschlands Außenhandel im November 1912 allein in der Summe an Einfuhr 64, an Ausfuhr 56 Millionen Tonnen betragen hat und dass die Einfuhr von Ackerbauerzeugnissen in der Zeit von Januar bis November 1912 noch 120 gegen 123 Millionen Tonnen im vergangenen Jahre betragen hat. Meine Herren, glauben Sie denn, dass das deutsche Volk Zeit hat, mit der Stillung seines Hungers so lange zu warten, bis wir diese 120 Millionen Tonnen auch im Inlande produzieren können, bis eine gesamte Umgestaltung unseres deutschen Wirtschaftslebens in dieser Richtung vorgenommen wird?

Und, meine Herren, wenn Sie von dem politischen Interesse an der Unabhängigkeit unserer Fleischversorgung vom Auslande sprechen, glauben Sie denn, dass solche Sicherungsmaßregeln von so weit ausschauendem Ziel wie hier jetzt erfolgreich getroffen werden können? Dieser Erfolg einer Versorgung Deutschlands mit eigenen Nahrungsmitteln, der meiner Meinung nach überhaupt ganz ausgeschlossen ist, würde doch bestenfalls nach Dezennien und Dezennien eintreten können. Hier, meine Herren, möchte ich Ihnen aber sagen: Es gibt andere Dinge, die Sie gerade im Interesse der Sicherheit des Vaterlandes bedenken sollten. Wenn das deutsche Volk Not leidet unter der schweren Teuerung, wird es in seiner Gesundheit schwer geschädigt.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Denken Sie doch einmal an diese Wirkung Ihrer agrarischen Politik zum Schaden der Sicherheit des Vaterlandes!

Und dann wird naturgemäß auch die Leidenschaftlichkeit des Hasses der Bevölkerung gegen die reaktionären Elemente in Preußen und im Reiche, in den Parteien und in den Regierungen immer weiter und weiter zur Siedehitze geschürt, und ob das der Sicherheit des Vaterlandes zuträglich ist – in Ihrem Sinne –, das mögen Sie selbst beantworten.

Meine Herren, es ist ein sehr gefährliches Spiel, das Sie treiben! Und wenn Sie sonst immer tun, als ob Sie bereit seien, alles für die äußersten Staatsnotwendigkeiten zu bewilligen – Sie haben es ja bewiesen bei der Kanalvorlage und anderem, dass Sie dazu nicht bereit sind –, so beweisen Sie gerade in diesem Falle, wie wenig Sie bereit sind, für die Staatsnotwendigkeiten alles zu tun, was erforderlich ist, sonst müssten Sie unter Zurücksetzung Ihrer eigenen Interessen zunächst einmal dafür sorgen, dass das deutsche Volk gesund wird und sich gesund ernähren kann, dass es billige Nahrungsmittel bekommt. Sie müssen dafür sorgen, dass die gesamte soziale Lage des deutschen Volkes verbessert wird. Sie müssen dafür sorgen, dass die politische Entrechtung im deutschen Volke beseitigt wird, die es niemals dazu kommen lassen wird, dass Ruhe in Preußen, Ruhe in Deutschland ist, meine Herren, die im Gegenteil den allerhitzigsten innerpolitischen Kampf verewigt, zu einer Notwendigkeit macht, geradezu provozierend in diesem Sinne wirkt.

Meine Herren, wie schädlich Preußen auf die Reichspolitik wirkt, das hat sich gerade in den letzten Tagen wieder eklatant gezeigt, einmal in der Besitzsteuerfrage, dann in den Enthüllungen im Reichstag zu der Wahlurnenfrage, von der ich schon sprach, dann aber in den Mitteilungen des Herrn Delbrück in der Budgetkommission des Reichstages über die Art, wie sozialpolitische Gesetze im Reichstage zustande kommen: Die vollkommene Preisgabe der Unabhängigkeit der Reichsregierung gegenüber der preußischen Regierung ist dabei deutlich zutage getreten. Die Reichsregierung ist nicht imstande, nach den jetzt bestehenden Grundsätzen dem Reichstage irgendeine sozialpolitische Vorlage zu machen, ohne dass sie vorher das Plazet der preußischen Regierung, der preußischen Minister bekommen hat; ja, sie darf nicht einmal den anderen Bundesstaaten eine derartige Vorlage vorlegen, nicht einmal im Bundesrat sie zur Sprache bringen, bevor nicht die preußische Regierung das Plazet gegeben hat.

[Das Volk wird um sein Recht zu kämpfen wissen]

Die Art des preußischen Wahlrechts ist es, die das Wesen der preußischen Regierungsmaxime bestimmt, und die Art des Wahlrechts bestimmt nicht nur die Zusammensetzung des Hauses, sondern sie bestimmt auch das politische Verantwortlichkeitsgefühl der einzelnen Gewählten in dem Hause. Ein Wahlrecht, das den Abgeordneten zu der Verpflichtung erzieht, der Wählerschaft, der breiten Masse der Bevölkerung Rechenschaft abzulegen, übt einen ganz anderen Einfluss auf seine Parlamentstätigkeit als ein Wahlrecht, das wie das preußische Dreiklassenwahlrecht darauf hinausläuft, dass die Abgeordneten, von verschwindenden Ausnahmen abgesehen, von den besitzenden Klassen einfach ernannt werden und der großen Masse des Volkes gegenüber gar keine Verantwortung fühlen. Das haben neulich in eklatantester Weise die Ausführungen des Herrn Freiherrn von Maltzahn bewiesen. Wenn man bedenkt, dass im Deutschen Reichstag die Sozialdemokraten zwei Siebentel ausmachen, im preußischen Abgeordnetenhause ein Dreiundsiebzigstel, also nicht einmal den zwanzigsten Teil im Verhältnis zu der Zahl der Abgeordneten, dann sieht man bereits, dass hier ein solch schroffer Gegensatz besteht, wie es auf die Dauer nicht ohne die schwersten Schädigungen des Deutschen Reiches und des Deutschen Volkes aufrechterhalten werden kann.

Jüngst hat es Schwierigkeiten gegeben in einem deutschen Bundesstaat, in Schwarzburg-Rudolstadt. Die Regierung konnte sich mit der Landtagsmehrheit, weil sie sozialdemokratisch ist, nicht verständigen. Die Regierung dieses Bundesstaates schritt zur Auflösung mit einem Resultat, das ihr nicht angenehm sein kann. Jetzt tritt der Staatsrechtslehrer Laband auf und beweist an Hand der Reichsverfassung, dass es möglich ist, von Reichs wegen die Regierung von Schwarzburg-Rudolstadt ohne Landtag regieren zu lassen und ihr ein Budget zur Verfügung zu stellen durch Reichsexekution. Es ist gut, dass Laband auf diesen Weg aufmerksam gemacht hat. Wenn Sie hier und die preußische Regierung nicht imstande sein werden, Ihre Pflicht und Schuldigkeit in Bezug auf die Staatsnotwendigkeit, die die prinzipalste von allen ist, die Staatsnotwendigkeit eines neuen Wahlrechts, zu tun, dann, meine Herren, wird vielleicht auch einmal der Tag kommen, wo der Reichstag den Mut haben wird, die Reichsexekution gegen Preußen auszuüben. Ich glaube allerdings, dass diese Exekution gegen Preußen vorläufig nicht ausgeübt wird; es muss erst noch ganz anders kommen als bisher. Der jetzige Reichstag ist ja, selbst wenn er sich für Einführung eines freien Wahlrechts in Preußen aussprechen sollte, so wenig sicher und zielklar, so wenig imstande, sich auf die Forderung auch nur des Reichstagswahlrechts für Preußen in einer auch nur kleinen Majorität zu einigen, dass Sie von diesem Reichstag nicht zu befürchten haben, dass er zur Reichsexekution schreiten wird. Aber die Aktion für die Wahlreform wird auch vom Reichstag unterstützt werden, wir werden dafür sorgen, dass Ihnen auch von dieser Seite die Hölle recht tüchtig eingeheizt wird.

Wie steht es denn nun eigentlich um das Wahlrecht, dessen jetzige Struktur angeblich zur Eigenart von Preußen gehört und das Herr Zedlitz nur ein wenig abstufen möchte, das Herr Freiherr von Maltzahn einen vortrefflichen Destillierapparat genannt hat, wahrscheinlich in Reminiszenz an die Spirituszentrale, die ihm so nahe steht. Nicht einmal ein Notgesetz werden wir in dieser Session bekommen. Das Zentrum hat sich seit langem ganz auf die Seite der Wahlrechtsfeinde geschlagen. Die Nationalliberalen denken gar nicht daran, etwa für ein freies Wahlrecht im Sinne des Reichstags-Wahlrechts einzutreten, nicht einmal Dr. Poensgen hat das getan. Die Nationalliberalen haben sogar die Resolution für das geheime und direkte Wahlrecht mit zu Fall gebracht, indem sie eine ganze Zahl von ihren Mitgliedern abkommandiert haben oder bei der Abstimmung im Mai vorigen Jahres haben laufen lassen. Sie haben damit dieselbe Schuld auf sich geladen wie das Zentrum, obwohl es sich um eine Forderung handelte, die mit von nationalliberaler Seite ausgegangen ist.

Und was will Herr Dr. Friedberg? Er will eine Wahlreform haben, aber was für eine Wahlreform! Eine, die möglichst rasch kommen soll, damit sie möglichst wenig radikal zu sein braucht. Danach kann man sich ungefähr ausmalen, was man mit den Herren Nationalliberalen in Bezug auf eine Wahlrechtsreform anfangen kann. Und doch sind wir bereit zu versuchen, ob es nicht möglich ist, von diesem Dornenstrauch Feigen abzupflücken; und doch sind wir bereit, jede einzelne Regung in irgendeiner bürgerlichen Partei, die auf eine ehrliche Reform des Wahlrechts hingeht, bei den bevorstehenden Wahlen zu unterstützen! Und da wagt man, uns Engherzigkeit vorzuwerfen. Nein, wir sind so weitherzig wie möglich und denken mit allen Mitteln der modernen politischen Technik auf die Zusammensetzung des Hauses einzuwirken. Einen Großblock in Preußen zu bekommen, angesichts der Herren um Dr. Friedberg, ist eine Illusion, um die wir das „Tageblatt" kaum beneiden können.

Wie steht es mit den Herren von der Fortschrittlichen Volkspartei? Sie sind hier energisch für das Wahlrecht eingetreten. Wir müssen Sie leider an die Vorgänge in Kiel, Neukölln und Reuß erinnern, wo unzweifelhaft fortschrittliche Volksparteiler an der Verschlechterung des Wahlrechts mitgewirkt haben. Auch die Fortschrittliche Volkspartei hat ihr Gerippe im Hause so wie manche andere Partei, und es ist recht schwer, sich zu überreden, dass man in den Herren Fortschrittlern etwas anderes als sehr wattierte Sturmböcke gegen die Junkerfestung besitzt. Aber immerhin, wie dem auch sein mag, die Demokratie ist allenthalben auf dem Vormarsch, und wenn auch die Herren von der schwarzblauen Brüderschaft gegenwärtig mit viel Genuss und Behagen auf Württemberg sehen und sich dort des blauen Präsidiums in der Kammer freuen, die Sozialdemokratie hat dort nicht schlecht abgeschnitten, und ob es gerade so sehr nützlich für Sie ist, sich jetzt da unten dekuvrieren zu müssen, das ist sehr zweifelhaft. Die nächsten Wahlen werden die Wähler belehrt haben. Und dann werden Sie auch da unten diejenige Rechnung aufgemacht bekommen, die Sie verdienen. Aber alle Ihre Schreierei über das „Stemmeisen des Nörgelns", das eingesetzt werde in bewährte Staatsinstitutionen, wird keinen Erfolg haben und wird die Wahlrechtsbewegung nicht hindern können. Denken Sie daran, dass in dem von Ihnen so viel geliebten und gelobten Bayern jetzt ein Mann Prinzregent ist, der einst ein energischer und wirksamer Vertreter der Einführung des demokratischen Wahlrechts, sogar des Proportionalwahlrechts in Bayern gewesen ist. Denken Sie daran, dass nicht nur in Deutschland, sondern auch im Ausland allenthalben die Demokratie sich fortentwickelt! Es ist Ihnen und der preußischen Regierung zwar gelungen, sich noch einmal trotz des Versprechens der Thronrede vom Jahre 1908 durch die jetzt zu Ende gehende Legislaturperiode hindurch zu winden, die Wahlrechtsfrage noch einmal zu verschleppen. Das ist aber die letzte Galgenfrist. Darauf können Sie Gift nehmen.

(Zuruf bei den Nationalliberalen.)

Ja, freilich, wenn die Herren von der Nationalliberalen Partei jetzt schon wieder diese Angst vor der eigenen Courage haben und sich nicht einmal zutrauen, bei den künftigen Wahlen und im künftigen Landtag so zu wirken, dass die Regierung einfach muss, wenn sie nicht will! Es liegt sehr viel an Ihnen, meine Herren; aber Sie wollen nicht. Herr Abgeordneter Röchling, ich bin sicher, Sie fühlen sich bei dem Dreiklassenwahlrecht sehr wohl, und ich bezweifle sehr –

(Zuruf des Abgeordneten Dr. Röchling.)

Sie bejahen es? Herr Röchling, Mitglied der Nationalliberalen Partei des Abgeordnetenhauses, teilt uns eben mit, dass er sich bei dem Dreiklassenwahlrecht, wie es jetzt in Preußen besteht, recht wohl fühlt.

(Zuruf des Abgeordneten Dr. Röchling.)

Das ist sehr wichtig, Herr Abgeordneter Dr. Röchling. Also wir sehen daraus, dass mit diesen Herren kaum etwas anzufangen sein wird.

(Lachen bei den Nationalliberalen.)

Aber das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit, und wir sehen, wie der Sozialismus, die Demokratie die Welt erobert.

Meine Herren, wir sehen, wie Staatsnotwendigkeiten den Regierungen aufzwingen, mehr Rücksicht auf die Interessen der Volksmassen zu nehmen. Meine Herren, das Deutsche Reich ist geboren worden zusammen mit dem allgemeinen Wahlrecht. Weshalb ist dieses eingeführt worden? Weil es unmöglich erschien, angesichts der außenpolitischen Schwierigkeiten und gewisser innenpolitischer Schwierigkeiten das Deutsche Reich, das Bismarcksche Deutsche Reich, anders zu sichern als durch das allgemeine, gleiche, geheime und direkte Wahlrecht. Vor dem Jahre 1813 wurde dem Volke ein freies Wahlrecht versprochen. Weshalb? Weil der äußere Feind bekämpft werden musste, weil „das Vaterland" die gesamte waffenfähige Mannschaft des Volkes zusammenberief und brauchte, um sich zu befreien, um die herrschenden Klassen zu befreien von dem Joch der napoleonischen Unterdrückung. Damals brauchte man das Volk, und so versprach man ihm Freiheit, Verfassung und alles mögliche. Heute verspricht man ihm nicht einmal mehr ein freies Wahlrecht, während man gleichzeitig von ihm höchsten „Patriotismus" erwartet und gleichzeitig verlangt, dass es einmütig in all das chauvinistische Gerede einstimmen und furor teutonicus entfalten soll, wie Herr von Zedlitz unfreiwillig parodiert hat.

(Lachen rechts.)

Furor teutonicus verlangen Sie im Interesse des preußischen Staates, der das preußische Volk zu Heloten macht, verlangen Sie im Interesse des preußischen Staates, der nationale Unterdrückung, politische, soziale, wirtschaftliche Unterdrückung zu seinem Panier gemacht hat, furor teutonicus im Interesse des Deutschen Reichs, das von Preußen regiert wird, furor teutonicus im Interesse der preußischen Konservativen und des Zentrums, der Volksausplünderer,

(Lachen.)

derer, die das Volk aushungern, ausbeuten und entrechten. Meine Herren, dieses Verlangen geht wahrlich zu weit.

Aber das kann ich Ihnen sagen: Der Wahlrechtskampf, den wir mit aller Rücksichtslosigkeit führen werden, er wird zum Ziele führen. Der Wahlkampf, in den wir jetzt eintreten werden – bald, vielleicht am 14. Mai; vielleicht haben wir heute die Gnade zu hören, ob es der 14. Mai sein wird –, dieser Wahlkampf wird eine Etappe sein in dem Wahlrechtskampf, den wir führen. Meine Herren, dieses Abgeordnetenhaus, das sich durch den 9. Mai vorigen Jahres ein Denkmal gesetzt hat aere perennius, das in dem Prozess Borchardt-Leinert18 und in dem Wachs-Prozesse um die berühmte „Affenkomödie"wahrhaftig keine Lorbeeren geerntet und damit weiteres Wasser auf unsere Mühle geleitet hat: das preußische Abgeordnetenhaus soll in diesem Jahre des Befreiungskrieges neu gewählt werden. Es gilt von dem preußischen Abgeordnetenhause, was in der Bibel steht – Sie können es nachlesen –, Jacobus, Kapitel 5, Vers 1, 2 und 3:

Euer Gold und Silber verrostet; und deren Rost wird ein Zeugnis gegen euch sein und wie Feuer euer Fleisch verzehren. Ihr habt Schätze des Zornes gehäuft in den letzten Tagen.

Schätze des Zornes haben Sie gehäuft durch die ganze letzte Legislaturperiode. Sie werden die Strafe dafür erhalten. Dies irae, dies illa! Wir werden dafür sorgen, dass der jetzt bevorstehende Wahlkampf das ganze preußische Volk aufrüttelt in dem Sturmruf: Nieder mit dem preußischen Junkertum, mit dem schwarzblauen Block, nieder mit dem Dreiklassenhaus!

(„Bravo!" bei den Sozialdemokraten.)

II

Persönliche Bemerkung

Um auf das Letzte zurückzukommen, der Abgeordnete Dr. Friedberg –

(Glocke des Präsidenten.)

Präsident Dr. Graf von Schwerin-Läwitz: Das Letztere, die Bemerkung von Herrn Dr. Friedberg, geht Sie in einer persönlichen Bemerkung nichts an.

Liebknecht: Dr. Friedberg hat sich in seiner persönlichen Bemerkung mit mir befasst, und deshalb wende ich mich bei dieser Gelegenheit gegen ihn. Er sagt, dass mein Zitat über seine Posener Rede unzutreffend sei. Das mag sein. Ich bin bei der Rede nicht zugegen gewesen. Ich habe diese Rede wörtlich einer bürgerlichen Zeitung entnommen, wenn ich nicht irre, der „Täglichen Rundschau" oder der „Deutschen Tageszeitung". Ich kann sie eben aus meinem Material nicht herausholen. Ich bin bereit, sie Herrn Dr. Friedberg zur Verfügung zu stellen.

Im Übrigen scheint mir doch dasjenige, was er und sein Freund Lohmann heute gesagt haben, die Richtigkeit des von mir vorgetragenen Zitats dreifach zu bestätigen.

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Ich hatte in meinen Ausführungen erwähnt, dass Herr Graf Praschma zum Preise des Jesuitenordens den Schatten des urreaktionären Herrn von Gerlach heraufbeschworen habe. Herr Dr. Porsch hat demgegenüber darauf hingewiesen

(Zuruf des Abgeordneten von Pappenheim)

bitte sehr, warten Sie ab, Herr von Pappenheim, Sie sind doch kein Prophet –, jene Worte des Herrn von Gerlach von 1853, dass die Jesuiten mit dem schönsten Schmuck versehen seien, nämlich dem Hass der Revolution, seien von ihm nur vorgetragen als Referent einer Kommission oder als Regierungsvertreter, nicht als einfacher Parlamentarier. Ich habe durchaus nicht behauptet, dass Herr von Gerlach das als einfacher Parlamentarier vorgetragen habe. Ich habe in meinen Ausführungen nur gezeigt, dass die Herren vom Zentrum die Aufhebung des Jesuitengesetzes empfehlen, indem sie die Jesuiten als Medizin gegen die Sozialdemokratie, als eine Art Quelle –

(Glocke des Präsidenten.)

Präsident Dr. Graf von Schwerin-Läwitz: Herr Abgeordneter Dr. Liebknecht, das letztere ist nicht persönlich. Ich bitte Sie, sich darauf zu beschränken, unrichtige Darstellungen in einer kurzen Bemerkung richtigzustellen, aber nicht weitere Ausführungen über Ihre eigentlichen Behauptungen zu machen.

Liebknecht: Das ist ein Missverständnis. Ich habe nichts getan und will nichts anderes tun, als die unzutreffende Darstellung meiner Ausführungen richtigstellen. Also, ich wiederhole: Ich habe in meiner Rede nur gezeigt, dass die Herren vom Zentrum die Aufhebung des Jesuitengesetzes empfehlen, indem sie die Jesuiten

(Zurufe rechts.)

als Medizin gegen die Sozialdemokratie –

(Zuruf rechts: „Richtigstellung!" Glocke des Präsidenten.)

Präsident Dr. Graf von Schwerin-Läwitz: Meine Herren, ich bitte, das mir zu überlassen.

(„Sehr richtig!" und „Bravo!" links.)

Ich folge den Rednern ganz genau und beschränke sie auf die Richtigstellung von unrichtigen Auffassungen ihrer Ausführungen. Darüber hinaus bitte ich den Herrn Redner nicht zu sprechen. Ich bitte Sie, in dieser Beziehung sich kurz zu fassen, denn eine persönliche Bemerkung soll nebenbei auch kurz sein.

Liebknecht: Ich wäre gewiss längst fertig gewesen, wenn nicht die Unterbrechung von rechts gekommen wäre. Ich habe also gesagt, dass man die Jesuiten empfiehlt als eine Art Quelle von Lourdes19, um unser heutiges Staatswesen von den Gebresten des Umsturzes zu heilen, und dass die Herren vom Zentrum das Jesuitengesetz in den Vordergrund gestellt haben, um auf diese Weise der Wahlrechtsfrage aus dem Wege zu gehen.

Präsident Dr. Graf von Schwerin-Läwitz: Das Letzte war nicht persönlich.

1 Gemeint ist die Rede Wilhelms II. vom 20. Oktober 1908, in der er eingestand, dass das preußische Wahlrecht einer Änderung bedürfe. Die Red.

2Das Saargebiet wurde damals von Sozialdemokraten gelegentlich als Saarabien verspottet, weil dort Bergwerksunternehmer, v.a. „König Stumm“, wie orientalische Despoten herrschten.

3 Als Welfen wurden die Abgeordneten der Deutsch-Hannoverschen Partei bezeichnet. Die Red.

4 Am 30. Dezember 1812 schloss der preußische General Hans David Ludwig von Yorck, der Befehlshaber des preußischen Hilfskorps in der Armee Napoleons, mit dem russischen General von Diebitsch in der Nähe des russischen Städtchens Tauroggen einen Vertrag, in dem festgelegt wurde, dass sich das preußische Korps von der französischen Armee trennt und als neutral erklärt. Damit setzte sich Yorck im entscheidenden Moment über das militaristische Prinzip blinden Gehorsams hinweg. Das Beispiel Yorcks wies den Weg zur Erhebung Preußens und zur deutsch-russischen Waffenbrüderschaft im Kampf gegen die Fremdherrschaft Napoleons in Europa.

5 Es handelte sich um Ersatzwahlen zum Reichstag am 23. Dezember 1912. Die Red.

6 Zu den Methoden der Wahlfälschung und des Wahlterrorismus von Seiten der Konservativen in den ländlichen Bezirken gehörte es, die Aufstellung amtlicher Wahlurnen zu verhindern und die Wahlscheine in Suppenterrinen und Zigarrenschachteln zu sammeln. Die Red.

7 Das Reichsgesetz vom 4. Juli 1872 gegen den Jesuitenorden war eine der ersten scharfen Maßregeln der sogenannten Kulturkampfgesetzgebung, mit der Bismarck versuchte, den Einfluss der katholischen Kirche in Deutschland zurückzudrängen und dadurch die Vormachtstellung des junkerlich-bourgeoisen Militärstaates Preußen im neugeschaffenen Deutschen Reich zu festigen. Das Gesetz verbot den Jesuitenorden und die ihm verwandten Orden für das Reichsgebiet und erzwang die Auflösung ihrer Niederlassungen. Die katholische Zentrumspartei beantragte immer wieder die Aufhebung dieses Gesetzes. In einer Eingabe der bayrischen Bischöfe an den Bundesrat vom 16. Juli 1912 forderte das Zentrum eine authentische Auslegung des Begriffes „verbotene Ordenstätigkeit". Das erfolgte durch den Bundesratsbeschluss vom 28. November 1912: „Verbotene Ordenstätigkeit ist jede priesterliche oder sonstige religiöse Tätigkeit gegenüber anderen sowie die Erteilung von Unterricht." Das Gesetz selbst wurde erst 1917 aufgehoben.

8 Mit Münchener Hatz bezeichnete Liebknecht die von den bayrischen Bischöfen im Juli 1912 begonnene und vom Zentrum im Reichstag und preußischen Abgeordnetenhaus unterstützte Bewegung zur Aufhebung des Jesuitengesetzes. Die Red.

9 Gewerkschaftsenzyklika, Enzyklika singulari quadam – Die von Pius X. am 24. September 1912 erlassene Enzyklika bezweckte, die katholischen Arbeiter stärker unter den Einfluss und die Kontrolle der katholischen Kirche zu bringen und vor allem den langjährigen Streit im katholischen Lager zwischen der Berliner und Kölner Richtung zu beenden. Die Enzyklika forderte: Alle Christen dürfen „keine Feindschaft und Zwistigkeiten unter den Ständen der bürgerlichen Gesellschaft schüren, sondern müssen untereinander Frieden und wechselseitige Liebe befördern. Die soziale Frage und die mit ihr verknüpften Streitfragen über Charakter und Dauer der Arbeit, über die Lohnzahlung, über den Arbeiterstreik sind nicht rein wirtschaftlicher Natur und somit nicht zu denen zu zählen, die mit Hintansetzung der kirchlichen Obrigkeit beigelegt werden können, da es im Gegenteil außer allem Zweifel steht, dass die soziale Frage in erster Linie eine sittliche und religiöse ist (!) und deshalb vornehmlich nach dem Sittengesetze und vom Standpunkte der Religion gelöst werden muss." Das war eine im Interesse des kapitalistischen Staates ausgesprochene Warnung vor der Teilnahme der katholischen Arbeiter am Klassenkampf. Die Streitfrage, ob reine katholische Arbeiterorganisationen (Berliner Richtung) oder die konfessionell gemischten christlichen Gewerkschaften vorzuziehen seien, beantwortete die Enzyklika zugunsten der reinen katholischen Organisationen. Es sollte aber auch geduldet werden, wenn sich Katholiken den interkonfessionellen christlichen Gewerkschaften anschlössen, allerdings müssten diese katholischen Arbeiter als „Vorsichtsmaßregel" „zugleich jenen katholischen Vereinigungen angehören, welche unter der Bezeichnung Arbeitervereine bekannt sind". Die Enzyklika des Papstes bedeutete einen unerhörten Eingriff in das Koalitionsrecht der deutschen Arbeiterklasse und zugleich eine direkte Kampfansage an die sozialdemokratisch beeinflussten freien Gewerkschaften und auch die christlichen Gewerkschaften, aber den Gewerkschaftsstreit konnte sie nicht beilegen. Sie stieß in der deutschen Arbeiterklasse auf heftigen Protest und rief unter der Kölner Richtung weiteren Widerstand hervor. Auf dem außerordentlichen Kongress der christlichen Gewerkschaften am 25. November 1912 in Essen ließen die deutschen Bischöfe durch den Generalsekretär des Gesamtverbandes der christlichen Gewerkschaften, Stegerwald, eine die christlichen Gewerkschaften befriedigende Interpretation bekanntgeben.

10 Vorgänge im Saarrevier – Ende 1912 verlangten die Bergarbeiter im Saarrevier außerordentliche Kampfaktionen gegen die Grubenverwaltung. Diese hatte eine verschärfte Arbeitsordnung angekündigt und zeigte keine Bereitschaft, den berechtigten Lohnforderungen der Arbeiter nachzugeben. Angesichts der Kampfbereitschaft der Kumpel sah sich die Leitung des Gewerkvereins christlicher Bergarbeiter (Kölner Richtung) zu dem Versprechen gezwungen, Anfang Januar 1913 den Streik auszurufen, falls die Forderungen der Arbeiter nicht erfüllt würden. Die Unaufrichtigkeit der „Streikentschlossenheit" der Imbusch und Giesberts, der Führer der christlichen Bergarbeitergewerkschaft, äußerte sich unter anderem darin, dass sie die Unterstützungsangebote des sozialdemokratischen Bergarbeiterverbandes zurückwiesen. Die katholischen Arbeitervereine des Saarreviers (Berliner Richtung) lehnten den Streik von Anfang an ab. In einer Delegiertenkonferenz der Saarbergleute am 29. und 30. Dezember 1912 in Saarbrücken setzten die Führer der Kölner und Berliner Richtung gemeinsam gegen den Willen der Kumpel einen „vorübergehenden Waffenstillstand" durch. Damit würgten sie den Streik ab.

11 In der zweiten Hälfte des Jahres 1912 kam es an verschiedenen Universitäten zu Kundgebungen nationalistischer Studenten gegen das Studium von Ausländern an deutschen Universitäten. Ein gewisser Höhepunkt dieser nationalistischen Bewegung war der Streik der Medizinstudenten an der Universität Halle am 16. Dezember 1912. Sie forderten, ausländische Studenten ohne Physikum nicht mehr zu den klinischen Vorlesungen zuzulassen. Die Verwirklichung dieser Forderung hätte ein weiteres Studium der russischen Studenten unmöglich gemacht, da sie nicht das Recht hatten, das Physikum abzulegen. Für Preußen legte das Kultusministerium im September 1913 die Gesamtzahl (numerus clausus) von 900 Studierenden je Nation fest. Außerdem wurde die Höchstzahl russischer Studenten für die einzelnen preußischen Universitäten festgesetzt.

12 Kardinal-Fürstbischof von Breslau. Die Red.

13 Zwischen dem Verband der katholischen Arbeitervereine (Sitz Berlin) – daher Berliner, manchmal auch Breslauer oder Trierer Richtung genannt – und den interkonfessionellen christlichen Gewerkschaften (Kölner Richtung) bestand ein jahrelanger Wettlauf um die Gunst des Papstes. 1912 sprach sich Papst Pius X. in der sogenannten Gewerkschaftsenzyklika zugunsten der Berliner Richtung aus, ohne dass die Rivalitäten zwischen den beiden Organisationen restlos beigelegt werden konnten.

14 Ein Gesetz, durch das Streikbrecher – in der Ausbeuterterminologie „Arbeitswillige" – strafrechtlich geschützt werden sollten. Die Red.

15 Es handelt sich um die Zwangsenteignungen polnischer Grundbesitzer auf der Grundlage eines im November 1907 im preußischen Abgeordnetenhaus eingebrachten und am 20. März 1908 von der Regierung beschlossenen „Gesetzes über Maßnahmen zur Stärkung des Deutschtums in den Provinzen Preußen und Posen". Das Enteignungsgesetz beruhte auf dem sogenannten Ansiedlungsgesetz vom 26. April 1886 und seiner Verschärfung im Jahre 1904. Alle diese Gesetze, zu denen 1912 noch das sogenannte Besitzbefestigungsgesetz trat, waren Instrumente der Unterdrückung der nationalen Minderheiten durch den imperialistischen deutschen Staat. Ende 1912 begann die Regierung die ersten Zwangsenteignungen polnischer Besitzer durchzuführen. Diese Aktionen führten am 29. und 30. Januar 1913 zu einer Interpellation der polnischen Fraktion im Reichstag. Die Reichsregierung erklärte frech, die Enteignung polnischer Gutsbesitzer für die Zwecke der preußischen Ansiedlungskommission fiele in den Bereich der Landesgesetzgebung und ginge deshalb den Reichstag nichts an. Daraufhin nahm die Mehrheit des Deutschen Reichstages einen von der polnischen Fraktion gestellten Misstrauensantrag gegen den Reichskanzler an, den Bethmann Hollweg jedoch ignorierte.

16 Er wurde 1911 durch den preußischen Generalfeldmarschall von der Goltz gegründet. Es handelt sich um eine vom imperialistischen Staat systematisch geförderte chauvinistisch-militaristische Dachorganisation, in der die Mehrheit der bürgerlichen Jugendvereine unter dem Deckmantel der „Jugendpflege" zusammengefasst wurde. Er richtete sich gegen die proletarische Jugendbewegung und diente der chauvinistischen Verhetzung und militaristischen Erziehung der Jugend.

17 Jugendwehrverein – eine 1896 gegründete militaristische und chauvinistische Organisation, die sich die systematische Beeinflussung der Jugend im Geiste des Militarismus zum Ziel setzte. Vom imperialistischen Staat stark gefördert, propagierte der Jugendwehrverein die vormilitärische Ausbildung, das militärische Exerzieren und Turnen der Jugend von der Schulentlassung bis zum Eintritt in das Heer.

18 Am 9. Mai 1912 wurde der linke Sozialdemokrat Julian Borchardt auf Veranlassung des Präsidenten des preußischen Abgeordnetenhauses auf der Grundlage des Paragraphen 64 der Geschäftsordnung des Abgeordnetenhauses (der dem Präsidenten das Recht zusprach, einen aus der Sitzung ausgeschlossenen Abgeordneten durch die Polizei aus dem Saale entfernen zu lassen) durch einen Polizeioffizier und einige Polizisten zweimal gewaltsam aus dem Sitzungssaal geschleppt. Borchardt war am Tage zuvor als sozialdemokratischer Hauptredner gegen das reaktionäre sogenannte Besitzbefestigungsgesetz aufgetreten. Bei der Polizeiaktion wurde auch der sozialdemokratische Abgeordnete Leinert von den Polizisten gewaltsam von seinem Platze gedrängt. In einer längeren Geschäftsordnungsdebatte protestierten die sechs sozialdemokratischen Abgeordneten gegen die vorliegende brutale Anwendung des Paragraphen 64, des sogenannten Hausknechtsparagraphen. Die Berliner Sozialdemokratie nutzte diesen Vorfall zu einer breiten Agitation gegen den Polizeiterror im Junkerparlament aus. Am 10. Mai sprachen alle sechs sozialdemokratischen Abgeordneten in Berlin in stark besuchten Massenversammlungen. – Borchardt wurde wegen Hausfriedensbruch und Widerstand gegen die Staatsgewalt, Leinert wegen Widerstand gegen die Staatsgewalt angeklagt. Beide wurden am 28. September 1912 von der 1. Strafkammer des Berliner Landgerichts I zu Geldstrafen verurteilt. Das Reichsgericht verwarf im Mai 1913 die gegen dieses Urteil eingelegte Revision.

19 Wallfahrtsort mit „wundertätiger" Quelle in Südfrankreich. Die Red.

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