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Karl Liebknecht 19121206 Jesuitendebatte – „unlautere Verwirrungs- und Verdunklungspolitik"

Karl Liebknecht: Jesuitendebatte – „unlautere Verwirrungs- und Verdunklungspolitik"

Rede im Deutschen Reichstag in der innenpolitischen Debatte zum Reichshaushaltsetat 1913

[Nach Verhandlungen des Reichstags, XIII. Legislaturperiode, I. Session 1912, Bd. 286, Berlin 1913, S. 2619-2625, 2627 f. und 2629 f. und nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 5, S. 443-465]

Meine Herren, ich beginne meine Ausführungen mit einem Hinweis darauf, dass die Kommission des Reichstags, die die Aufgabe hat, die Gesetzesvorlage über die Teuerungsangelegenheiten zu beraten, eine Verschleppungstaktik inszeniert hat, die auf das Alleräußerste befremden muss. Ich halte es für meine Pflicht, gleich am Beginne meiner Ausführungen der Bevölkerung, die von dieser bedauerlichen Tatsache sonst vielleicht nicht mit dem nötigen Nachdruck Mitteilung bekommen würde, dieses mit allem Nachdruck zu denunzieren,

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

zu denunzieren als einen Beweis dafür, dass die Mehrheit des Reichstags offenbar nicht gesonnen ist, in dieser außerordentlich ernsten und wichtigen Frage eine Arbeit zu leisten, wie sie den Interessen der Bevölkerung entspricht!

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten. – Unruhe. – Glocke des Präsidenten.)

Vizepräsident Dove: Herr Abgeordneter, Sie dürfen aber nicht einer Kommission des Reichstags – wenn ich recht verstanden habe – den Vorwurf machen, dass sie eine Verschleppungstaktik betreibe.

(„Sehr richtig!" rechts. – Unruhe bei den Sozialdemokraten; Zuruf von den Sozialdemokraten: „Den Tatsachen entsprechend!")

Ich bitte, nicht zu unterbrechen!

Liebknecht: Meine Herren, von der konservativen Fraktion hat der Herr Abgeordnete Graf Westarp ausdrücklich angekündigt, dass ein anderer Redner seiner Fraktion noch Gelegenheit nehmen werde, sich mit der Sozialdemokratie zu befassen. Wir haben vergeblich darauf gewartet –

(Zuruf rechts: „Warten Sie nur ab!")

wir haben bisher vergeblich darauf gewartet, dass in der sogenannten zweiten Garnitur einer von den Herren Konservativen diese Ankündigung ausführen würde. Vielleicht haben die Herren die Absicht, auch die Debatten im Reichstage in der Weise zu dämpfen, wie man in letzter Zeit vielfach politisch erregte Auseinandersetzungen zu dämpfen versucht hat, mit Rücksicht vielleicht auf außenpolitische Interessen, die man durch eine solche Dämpfungstaktik vielleicht glaubt am besten wahren zu können.

Meine Herren, wir haben natürlich nicht die allergeringste Ursache, der Welt solche falschen Tatsachen vorzuspiegeln, als ob das deutsche Volk, als ob der Deutsche Reichstag einmütig sei, als ob angesichts gewisser schwieriger Situationen, in denen sich das Reich befindet, alle innerpolitischen Fragen in den Hintergrund gedrängt würden. Es wäre der Reichsregierung gewiss sehr erwünscht, wenn sie vor aller Welt renommieren könnte mit einem einigen, hurrapatriotischen, chauvinistischen Reichstage, der alle anderen Fragen zurücktreten lassen würde hinter der einen einzigen Frage, der sogenannten Sicherung des Reiches. Wir sind der Ansicht, dass wir alle diejenigen Beschwerden, die wir gegen die Regierung, die wir gegen die anderen Parteien des Hauses vorzubringen haben, mit aller Schärfe vorbringen müssen. Die gegenwärtige Situation der Debatte im Reichstag beweist aufs Deutlichste, dass die Sozialdemokratie, wenn sie sich irgendeine Zurückhaltung auferlegen wollte, damit eine Zurückhaltung üben würde, die selbst sogenannte große nationale Parteien zu üben sich nicht verpflichtet fühlen, und dass die Sozialdemokratie durch eine derartige Zurückhaltung nur dazu beitragen würde, eine außerordentlich unlautere Verwirrungs- und Verdunklungspolitik zu unterstützen,

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

die von einer großen Partei dieses Hauses unternommen wird.

(„Sehr richtig!")

Meine Herren, die Ausführungen der Herren Abgeordneten Spahn und Gröber waren geradezu ein einziges, bewegliches Plädoyer für die Programmforderungen der Sozialdemokratie, für die Erklärung der Religion zur Privatsache. Die Ausführungen der Abgeordneten Spahn und Gröber über die Schnüffelei, die getrieben wird, über die Schikanen, mit denen Vorträge, Vorlesungen aus der Bibel usw. als unerlaubt verfolgt werden, wonach die Gesänge der Jesuiten, wie der Herr Abgeordnete Gröber in einer sehr drastischen Weise uns darzulegen hier versucht hat, als staatsgefährlich verschrien werden – alle diese Ausführungen des Herrn Abgeordneten Gröber, die schließlich darin gipfelten, als geschähe hier den Jesuiten ein Unrecht, das sonst in Deutschland unerhört ist, kranken an einer inneren Unwahrhaftigkeit, die nicht zu überbieten ist.

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, zur Rechten des Herrn Abgeordneten Gröber hat bei diesen seinen Ausführungen der preußische Kultusminister gestanden, Herr von Trott zu Solz. Vielleicht hätte der Herr Abgeordnete Gröber einmal den preußischen Kultusminister gefragt, wie man in Preußen sogenannte unterrichtliche Veranstaltungen, die in irgendwelchen harmlosen Gesellschaften bestehen, Vorlesungen aus wissenschaftlichen Werken als Unterricht bezeichnet und abhängig macht von einem Unterrichtserlaubnisschein und unter den schwersten Strafandrohungen alle Leute verfolgt, die vielleicht einen sogenannten Turnunterricht oder einen Gesangunterricht erteilen – nur aus der Absicht heraus, der politisch unbequemen Sozialdemokratie möglichst viel Knüppel zwischen die Beine zu werfen.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Es könnte sich der Herr Abgeordnete Gröber übrigens da auch einmal bei seinen guten Freunden, den Herren Polen, erkundigen, denen gleich uns in dieser Weise mit geradezu erstaunlicher Raffiniertheit Schwierigkeiten bereitet werden von den verschiedenen Verwaltungsbehörden in Preußen, wohl auch in anderen Bundesstaaten, besonders von den Schulaufsichtsbehörden. All das, was an den Jesuiten in dieser Beziehung geschieht, ist ein Kinderspiel im Vergleich zu dem,

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

was täglich, was stündlich – kann man beinahe sagen – gesündigt wird an der großen Masse der für die Regierung politisch unbequemen Bevölkerung.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten. – Zuruf: „Dissidenten!")

Ich will auf Einzelheiten nicht eingehen, meine Herren; ich würde sonst allerdings außerordentlich bitter werden und etwas voraus nehmen müssen, was ich mir für später erspart habe.

Der Herr Abgeordnete Gröber hat mit einem schönen Aufwand von Entrüstung gesprochen von Halunken, von Denunzianten und hat sogar das Verslein vom Denunzianten, das wir oftmals zu zitieren genötigt gewesen sind, zitiert – ich glaube, es ist das erste Mal, dass ein Herr vom Zentrum es zitiert. Aber es gilt hier der Satz, dass das Denunziertwerden den Herren vom Zentrum sehr unangenehm ist, dass sie aber Meister im Denunzieren sind,

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

wo sie irgend können.

(Zuruf aus dem Zentrum.)

Ein systematischer Denunziationsfeldzug wird von der Zentrumspartei überall dort inszeniert, wo sie die Macht dazu besitzt.

(„Sehr richtig!" links und bei den Sozialdemokraten.)

Wir brauchen nur auf Bayern zu verweisen, auf Elsass-Lothringen. Die Beispiele sind Legion. Es könnten dazu Berufenere reden als ich, die mehr in der Praxis gestanden haben. Beispiele habe ich aber auch aus Preußen. Soll ich Sie erinnern an die Vorgänge bei der Reichstagswahl in Moers-Rees, wo das Zentrum den liberalen Kandidaten, Staatsanwalt Rosenfeld, denunziert hat, weil er die sozialdemokratischen Stichwahlbedingungen akzeptiert hat? Soll ich Sie erinnern an die Vorgänge 1910 bei der Stadtverordnetenwahl in Mülheim, wo das Zentrum die jungliberalen Beamten denunziert hat, weil sie die Stichwahlparole zugunsten der Sozialdemokraten ausgegeben haben?

(„Hört! Hört!" und „Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.)

Soll ich Sie erinnern, meine Herren, an den vielleicht krassesten Fall, der in der Presse besonders viel Sensation erregt hat, an den Fall in Düsseldorf,

(„Sehr richtig!" links und bei den Sozialdemokraten.)

wo bei der jetzt vergangenen Reichstagswahl nicht nur untere und mittlere Beamte vom Zentrum denunziert worden sind, sondern auch ein recht hoher Beamter, der höchste Beamte des dortigen Bezirks, der Regierungspräsident, weil er sich bei der Stichwahl der Stimme enthalten

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

und dadurch der Sozialdemokratie indirekt Vorschub geleistet habe? Ich meine, es ist etwas gefährlich, wenn gerade von Seiten der Herren aus dem Zentrum in dieser Weise über Denunziationen gesprochen wird. Sie sollten einmal daran denken, welche Sünden sie da selbst auf dem Kerbholz haben,

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

und vielleicht sind die Erfahrungen, die die Herren aus Anlass des Jesuitengesetzes1 gemacht zu haben glauben, ein kleiner Stimulus für sie, dass sie nunmehr dort, wo sie bisher ebenso gesündigt haben, wie angeblich von anderer Seite gegen sie gesündigt worden ist, bei sich Einkehr halten,

(Zurufe von den Sozialdemokraten.)

christliche Buße tun und in Zukunft nicht wieder dergleichen Handlungen begehen, wie Herr Gröber selbst sie heute vor dem ganzen Lande mit so scharfen Worten gebrandmarkt hat, mit Worten, durch die Sie (zum Zentrum) sich selbst gebrandmarkt haben vor dem ganzen Lande.

(„Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, in den Ausführungen des Herrn Abgeordneten Gröber kam ein gewisser Ärger darüber zum Ausdruck, dass die anderen Parteien nicht so blind in den Kulturkampfspieß hinein gerannt sind, den die Herren vom Zentrum ihnen entgegengehalten haben, ein gewisser Ärger darüber, dass die Jesuitendebatte nicht so gelungen ist, wie die Herren es gewünscht hätten. Aus einer eigentlichen Jesuitendebatte, dem Ziele ihrer Sehnsucht, sind Jesuitenmonologe geworden.

(Heiterkeit und „Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.)

Die Reden der Herren Abgeordneten Spahn und Gröber verdienen insofern von unserer Seite eine energische Zurückweisung, als sie an eben derselben inneren Unwahrhaftigkeit leiden, die ich mir vorhin bereits in Bezug auf einen besonderen Punkt zu kennzeichnen gestattet habe. Sie (zum Zentrum) wissen ganz genau, meine Herren, dass Sie, wenn Sie wollen, heute leichter als je einen Beschluss des Reichstags zustande bringen, der in der energischsten Weise die Aufhebung des Jesuitengesetzes verlangt.2

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Sie wissen ganz genau, dass die Sozialdemokratie das Jesuitengesetz so energisch verurteilt wie nur irgend möglich,

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

und die Sozialdemokraten haben ja alles, was in ihrer parlamentarischen Macht gestanden hat, getan, nicht einmal nur das, sondern auch in der Presse überall und stets Gelegenheit genommen, ihre Macht einzusetzen für die endgültige Beseitigung des Jesuitengesetzes.

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Also, was Sie an Kritik zu diesem Gesetz gesagt haben, das brauchen wir gar nicht anzuhören, weil diese Tatsachen uns entweder bekannt sind oder uns als Grundlage für die Schlussfolgerungen, um die es sich handelt, nicht nötig sind, nämlich dafür, dass das Jesuitengesetz unter allen Umständen aufgehoben werden muss. Aber wie die Herren es angesichts einer solchen Tatsache nun fertigbringen, trotz alledem mit jenem altgermanischen Barritus – so möchte ich mich einmal ausdrücken – hier in die Arena des Reichstags hinein zu stürmen, mit jenem Barritus, durch den bekanntlich die alten Germanen ihre Feinde zu schrecken suchten, bevor sie mit ihnen handgemein wurden,

(Große Heiterkeit.)

wie kann sich das erklären? Goethe wohnte im Hauptquartier der Kanonade von Valmy bei. Er hat bekanntlich etwa gesagt: Es ist gut, wenn man sagen kann: man ist dabei gewesen; an diesem Tage beginnt ein neuer Abschnitt der Weltgeschichte.

Als ich die Rede des Herrn Abgeordneten Spahn vorgestern hörte mit seinem Schlusspronunziamento, diesem scharf pointierten Misstrauensvotum der Herren vom Zentrum3, da sagte ich mir: Solltest du auch so glücklich sein, an einer Aktion teilgenommen zu haben, von der eine neue Periode der Weltgeschichte datiert?

(Große Heiterkeit.)

Oder ist es vielleicht doch nur ein Theatergedonner, das da aufgeführt worden ist?

(Große Heiterkeit.)

Ich muss offen gestehen, dass die Herren vom Zentrum sich ja bereits so außerordentlich oft als die Meister der Regiekunst erwiesen haben, dass man zunächst sofort auf die Idee kommen musste, auch ohne jeden politischen Scharfsinn auf die Idee kommen musste: nein, nein, so schlimm ist alles nicht, man muss das Beste hoffen! Aber da an und für sich die Erklärung, ernst genommen, nicht gut anders interpretiert werden konnte, als dass der Etat von den Herren abgelehnt würde – so pflegte man sich sonst doch wenigstens auszudrücken –

(„Sehr richtig!" links.)

und wenn man um so mehr zu dieser Auffassung bestimmt werden konnte durch, man kann beinahe sagen: parteioffiziöse Auslassungen der Zentrumspresse, wo ganz ausdrücklich erklärt wurde: jetzt wird der Etat abgelehnt, das Zentrum wird einmal zeigen, was es kann –

(Widerspruch im Zentrum. – Rufe von den Sozialdemokraten: „Mut! Mut!" – Glocke des Präsidenten.)

meine Herren, ich kann Ihnen ja das Material darüber vorlegen, wenn Sie es wünschen –

(Rufe im Zentrum: „Bitte!")

ich komme gleich darauf –, dann konnte man doch wohl meinen, dass etwas Ernsteres hinter dieser heroischen Rebellengeste stecke. Heute hat sich nun gezeigt, dass das Kuckucksei, das die Zentrumspartei vorgestern dem Herrn Reichskanzler in sein Nest gelegt hat, ein Windei gewesen ist, nichts anderes.

(Große Heiterkeit.)

Der Herr Abgeordnete Gröber hat uns enthüllt, dass das Herz der Zentrumschristen nicht so grausam ist. Sie werden – wie wir schon in der Presse gelesen haben – alle Staatsnotwendigkeiten bewilligen, aber doch „die Konsequenzen ziehen".

(Große Heiterkeit.)

Tiefen Groll werden sie im innersten Busen bewahren, die Faust werden sie in der Tasche ballen. (Erneute große Heiterkeit.)

Eine fürchterliche Rebellion! Wir hörten heute vom Herrn Abgeordneten Gröber, wie er Rebellion gepredigt hat. Er sagt: Kein Jesuit wird sich um das Gesetz kümmern, kein Katholik wird sich um das Gesetz kümmern! Es ist ganz gut, wenn das ad notam genommen wird. Wir sympathisieren mit einer solchen Auffassung, Herr Gröber!

(Heiterkeit und Zustimmung bei den Sozialdemokraten.)

Aber es ist sehr interessant, wie dann der Herr Abgeordnete Gröber wieder seine Vergleiche aus der Revolutionsgeschichte gewählt hat, um den Bundesrat zu diskreditieren, indem er dem Bundesrat nachgesagt hat – es stehen einem doch die Haare zu Berge, wenn man das hört –, er habe sich Dinge angemaßt, die sich selbst der französische Konvent – mit drei Kreuzen dahinter! – nicht angemaßt hat.

Meine Herren, ich glaube in der Tat, dass diese ganze tragikomische Geschichte nur beweist, dass es den Herren vom Zentrum politisch sehr übel geht,

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

sehr übel geht aus sehr verschiedenen Gründen, die aber trotz alledem so auf der Hand liegen, dass sie bereits in der Presse erwähnt worden sind und auch in diesem Hause.

Meine Herren, bevor ich diese Gründe näher darlege, will ich, um das Verständnis dafür etwas vorzubereiten, auf die Tatsache hinweisen, dass die beiden Etatredner des Zentrums, obwohl besonders der eine Herr recht ausgiebig gesprochen hat, sich ausschließlich mit der Jesuitenfrage beschäftigt haben, indem sie gleichzeitig, vielleicht mit einem Anklang an Jesuitismus, bemerkten, wie unrecht doch der Herr Reichskanzler habe, wenn er behaupte, dass sie die Jesuitenfrage zum Eckstein ihrer Politik machten –, dass aber von den beiden Rednern nicht mit einem einzigen Worte gesprochen worden ist über all die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Nöte des deutschen und preußischen Volkes.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Nicht mit einem Wort über die Wahlrechtsfrage, nicht mit einem Worte über die sozialpolitischen Dinge und alle diejenigen Bedrängnisse, unter denen die große Masse des preußischen und deutschen Volkes seufzt und zusammenbricht, die zum Himmel schreien und die es gebieterisch fordern, dass von einer Partei, die sich Volkspartei nennt, bei dieser Etatsdebatte doch ein Wort wenigstens über sie gesprochen werde, ein Wort wenigstens von einer Partei, die sich die Partei für Wahrheit, Freiheit und Recht nennt, die aber bei der Etatsdebatte nichts weiter findet als tönende Endlosigkeiten zum Jesuitengesetz, mit denen sie offene Türen einrennt, während sie die Lebensinteressen der großen Masse des Volkes schnöde verrät. Eine solche Partei kennzeichnet sich als eine Pseudo-Volkspartei, als eine Scheinvolkspartei, als eine volksfeindliche Partei im ausgeprägtesten Sinne des Wortes.

(Lebhafte Zustimmung bei den Sozialdemokraten.)

Es ist niemals so deutlich wie bei dieser Debatte zutage getreten, dass alle Einwendungen der Zentrumspartei, sie sei keine konfessionelle Partei, nichts weiter sind als Gaukelspiel. Sie sind und bleiben eben leider trotz alledem die klerikale Partei katexochen, und alle anderen Interessen des Volkes, und wenn es die wichtigsten Elementarinteressen des Volkes sind, treten bei Ihnen zurück hinter jedem Interesse des Klerikalismus, des Römischen Stuhls.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Wir nehmen Ihnen wahrlich nicht übel, dass Sie ein religiöses Interesse vertreten; im Gegenteil, das hat in gewissem Sinne unsere Sympathie.

(Lachen im Zentrum.)

Das Zentrum, sagt man wohl, ist die einzige bürgerliche Partei, die noch gewisse Ideale hat; aber diese Ideale sind sehr eng begrenzt, und sie liegen so rein auf dem Gebiete des Klerikalismus, und sie stellen sich allen sozialen und politischen Aufgaben fortgesetzt so feindlich und unvereinbar entgegen, dass wir ihm mit Fug die Berechtigung absprechen dürfen, sich als Volkspartei zu bezeichnen.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, es ist in der Tat notwendig, in das Land hinauszurufen, dass das Zentrum, das leider noch so ungeheuer viel Anhänger in der Arbeiterschaft, in den bedrücktesten und bedrängtesten Kreisen des Volkes zählt, dass das Zentrum bei dieser Etatsdebatte auf die grundlegenden Fragen unserer inneren Politik überhaupt nicht eingegangen ist.

Was nun die Jesuitenfrage anlangt, so habe ich bereits im Allgemeinen erklärt, dass wir selbstverständlich mit einer Aufhebung des Jesuitengesetzes glatt einverstanden sind. Wenn die Herren vom Zentrum jetzt kommen und das Jesuitengesetz in einer Weise, die ich im Einzelnen nicht weiter verfolgen will, in den Vordergrund schieben, so mag sich das ja einmal daraus erklären, dass die Herren im Zentrum gegenwärtig im Deutschen Reich eine Macht besitzen wie niemals zuvor. Schon die bloße Drohung der Herren vom Zentrum, die beileibe nicht ernst gemeint war, eventuell den Etat zu verweigern, hat dazu geführt, dass gewisse nationale Zeitungen in Angst und Zittern geraten sind und geglaubt haben, das Ende des Deutschen Reichs, mindestens aber des gegenwärtigen deutschen Reichskanzlers sei herangenaht. Die Herren vom Zentrum müssen sich wohl gefallen lassen, wenn ich auf sie das Dichterwort anwende:

Herr Gröber ist ein Egoist,

er tut nicht leicht, um Gottes willen,

was einem andern nützlich ist.

(Heiterkeit.)

Und so präsentieren denn die Herren natürlich auch bei Gelegenheit ihren Wechsel, und das ist hier unter anderem ein solcher Wechsel.

Aber, meine Herren, ich will mich auf diese Seite der Sache im Moment nicht weiter einlassen, sondern mich darauf beschränken darzulegen, worin die politischen Nöte des Zentrums bestehen.

Meine Herren, Sie, die Sie hier im Reichstage mit solcher Emphase für die Aufhebung eines Ausnahmegesetzes eintreten, sind, wie Ihnen bereits von meinem Freunde Frank vorgehalten worden ist, Anhänger und Verfechter einer ausnahmegesetzlichen Behandlung in denjenigen Bundesstaaten, wo Sie die Macht haben. Sie sind weiterhin diejenige Partei, die ihre Aufgabe nicht darin sieht, mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln auf Beseitigung der politischen Ungerechtigkeiten hinzuwirken, unter denen überall unser deutsches Volk leidet. Es gibt eine Hülle und Fülle von Dingen, die Sie mit genau derselben Emphase hier von der Tribüne des Reichstags anklagen könnten wie das Jesuitengesetz – und mit viel mehr Recht noch anklagen könnten. Aber was soll man zu all den Deklamationen über die Gewissensfreiheit sagen, wenn man sich vergegenwärtigt, wie gerade von den Herren im Zentrum die Denunziation gepflegt wird, wie ich vorher bereits ausgeführt habe, wie die Herren vom Zentrum keinerlei Gewissensfreiheit in politischer Beziehung geben wollen!

(Zurufe aus dem Zentrum.)

Gewiss, das läuft auch darauf hinaus. Gibt es denn nur religiöse Gewissensfreiheit, gibt es nicht auch eine politische Gewissensfreiheit? Die politische Gewissensfreiheit treten Sie aber mit Füßen, wo Sie die Möglichkeit dazu haben, von der religiösen Gewissensfreiheit gänzlich zu schweigen. Es wimmelt, kann man sagen, in Deutschland allenthalben von Ausnahmegesetzen, die die unteren Klassen der Bevölkerung belasten. Soll ich Ihnen sprechen von dem Wahlrecht in den verschiedenen kleineren Staaten und von dem Wahlrecht speziell in Preußen? Haben die Herren vom Zentrum jemals Töne von solcher leidenschaftlichen, fanatischen Energie angeschlagen, wenn es sich darum handelte, für das allgemeine Wahlrecht in Preußen einzutreten,

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

von dem ja auch die Herren im Zentrum behaupten, dass sie seine Anhänger seien? Meine Herren, Sie haben nie daran gedacht, im Gegenteil, Sie haben, als vor zwei Jahren die Wahlrechtsfrage im Abgeordnetenhause zur Beratung stand, mit aller derjenigen Geschicklichkeit, die eine jahrtausendlange Erfahrung den Funktionären des Katholizismus erblich verschafft hat – ich will nicht einen Ausdruck gebrauchen, der mir vielleicht einen Ordnungsruf zuziehen könnte –, mit allen diesen Mitteln haben Sie versucht, Fallstricke zu legen, um die Forderung nach dem allgemeinen Wahlrecht im Abgeordnetenhause abzuwürgen.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Als damals – und das ist besonders charakteristisch – die Frage des Wahlrechts von uns vor die Massen des Volkes getragen wurde, und als Sie sahen, dass wir in die Zentrumsgebiete einbrachen, dass Ihnen die Zentrumsarbeiter, die Zentrumswähler abspenstig gemacht wurden, da waren Sie es, die in raffinierter Abwehrtaktik versuchten, einen Kulturkampf künstlich zu inszenieren. Es ist wahrlich nicht neu, wenn ich sage: Sie brauchen den Kulturkampf, Sie sind es, die vom Kulturkampf leben;

(„Sehr wahr!" links.)

und wenn kein Kulturkampf existiert, wo Sie ihn brauchen, dann fabrizieren Sie ihn halt selbst,

(Lebhafte Zustimmung links.)

damit er jedenfalls da ist. So haben Sie damals eine ganz künstlich aufgeputschte Kulturkampfpaukerei in Preußen losgelassen, um die Arbeiter zu verwirren, sie auf ihre angeblichen religiösen Interessen hinzu lenken und von ihren politischen Interessen abzulenken.

So wie Sie es damals mit der Wahlrechtsfrage gemacht haben, so steht es auch heute mit Ihnen. Es sind ähnliche Motive. Ich habe bereits bemerkt, dass sich die Zentrumspartei in einer außerordentlich schwierigen Position insbesondere der Arbeiterschaft gegenüber befindet. Einmal wegen Ihrer wirtschaftspolitischen Tätigkeit, wegen Ihrer Mitschuld an der Teuerung und an all den Erscheinungen der wirtschaftlichen Not, die gegenwärtig in Deutschland zu verzeichnen sind. Des weiteren aus politischen Gründen, weil Sie inzwischen längst für jeden, der nicht blind ist, als Feinde einer Erweiterung der politischen Rechte der Bevölkerung entlarvt worden sind. Schließlich mit Rücksicht auf Ihre Stellung in Bezug auf die Gewerkschaftsfrage Meine Herren, Ihre Situation in der Gewerkschaftsfrage ist wirklich nicht zu beneiden.

(„Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.)

Wir könnten christliches Mitleid mit Ihnen haben,

(Lachen im Zentrum.)

wie Sie sich im Schweiße Ihres Angesichts hier abmühen müssen, die Blicke der katholischen Arbeiter von dem abzulenken, was ihr Interesse berührt,

(„Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.)

und auf ein Phantom hinzu lenken, das gar nicht existiert. Ich möchte noch eines hinzufügen. Sie brauchen nicht nur den Kulturkampf, sondern Sie brauchen auch das Jesuitengesetz.

(„Sehr wahr!" bei den Sozialdemokraten.)

Man könnte Ihnen keinen schlimmeren Dienst erweisen, als das Jesuitengesetz aufzuheben.

(Lebhafte Zustimmung links. – Lachen im Zentrum.)

Gewiss, Sie fordern die Aufhebung des Jesuitengesetzes, und doch leben Sie davon, dass es existiert.

(„Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.)

Das Jesuitengesetz ist gewissermaßen eine Monstranz, die Sie immer der Bevölkerung vorzeigen, um sie zu verwirren und von ihren wirklichen Interessen abzulenken, um Ihre Verwirrungs- und Verdummungspolitik zu erleichtern.

(Lebhafte Zustimmung bei den Sozialdemokraten.)

Sie möchten allerdings eine möglichst legere Auslegung des Gesetzes. Sie möchten, dass das Gesetz recht hübsch verwahrt bleibe, so dass Sie es bei jeder Gelegenheit wie die Monstranz herausholen können, um den heiligen Krieg für die katholische Kirche zu predigen und auf diese Weise die Schäflein wieder in ihre Hürde zu holen. Dann aber auch möchten Sie in der Praxis eine recht milde Anwendung haben.

Mir scheint, dass Ihre Situation in der Gewerkschaftsfrage in der Tat nicht beneidenswert ist. Wie die Stimmung in der katholischen Arbeiterschaft über die Enzyklika des Papstes4 ist, dafür ist ein redendes Beispiel unser Herr Kollege Giesberts, der in der 7. Generalversammlung des Christlichen Metallarbeiterverbandes am 14. Juli dieses Jahres in Dortmund die Bischöfe und die katholischen Geistlichen als Wegelagerer bezeichnet hat,

(Stürmische Rufe links: „Hört! Hört!")

die hinter der päpstlichen Enzyklika über die Gewerkschaften stehen.

(Zuruf vom Zentrum: „Damals ist sie noch gar nicht erschienen gewesen!")

Meine Herren, was hat Herr Erzberger für eine Ahnung?

(Heiterkeit links.)

Wissen Sie nicht, Herr Erzberger, dass diese Enzyklika eine lange und für Sie sehr qualvolle Vorgeschichte hat?

(„Sehr gut!" links.)

Und darauf bezieht sich das. Die Matadore der Berliner Richtung5 sind es, die Herr Giesberts mit diesen scharfen Wendungen gebrandmarkt hat, und das sind dieselben, die hinter der päpstlichen Enzyklika stehen. Es ist also ganz klar, dass meine Auffassung von jener Giesbertschen Bemerkung zutreffend ist. Ich hoffe, meine Herren, dass der „herrliche Sohn von Strehlen" diese seine Auffassung inzwischen noch nicht vollkommen revidiert hat. Meine Herren, aber sicherlich: laudabiliter se subjecit, er wird sich wohl schon löblich unterworfen haben, so wie sich auch der Herr Abgeordnete Gröber der weltlichen Gewalt heute sozusagen wieder löblich unterworfen hat nach der gewaltigen Kriegserklärung, die sein Fraktionsfreund vor zwei Tagen losgelassen hat.

Ich bin nicht in der Lage, die Einzelheiten dieses päpstlichen Erlasses zu erörtern, aber daran kann kein Zweifel obwalten, dass diese päpstliche Enzyklika den christlichen Gewerkschaften die seidene Schnur um den Hals gelegt hat

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

und von allen christlichen Gewerkschaftsorganisationen künftig den katholisch-päpstlichen Fahneneid fordert. Damit ist in der Tat, meine Herren, das Schicksal der christlichen Gewerkschaften besiegelt.

Meine Herren, es könnte manchen stutzig machen, wie hier die Reichsregierung und die preußische Staatsregierung mit der Kurie in einen Konflikt wegen der päpstlichen Gewerkschaftsenzyklika hat kommen können, einen Konflikt, der freilich nicht so evident ist wie andere Konflikte. Das erklärt sich einfach daraus: Die deutsche Regierung weiß, dass die christlichen Gewerkschaften, wie sie gegenwärtig sind, immerhin eine etwas größere Anziehungskraft auf die Arbeiter ausüben als die Organisationen Berliner Charakters, und die Regierung hat ein lebhaftes Interesse, die Gewerkschaftsbewegung zu zersplittern. Die Regierung denkt vor allem daran, welche guten Streikbrecherdienste die christlichen Bergarbeiterorganisationen im vergangenen Frühjahr geleistet haben,

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

und gewissermaßen als Dank für diese Judasleistung

(„Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.)

unterstützten nunmehr die deutsche Reichsregierung und die preußische Regierung nach Kräften die christlichen Gewerkschaften. Meine Herren, stolz können Sie darauf nicht sein!

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Vielleicht findet sich doch noch einer, der stolz darauf ist. Herr Brust war sogar stolz darauf.

Meine Herren, es zeigt sich hieran, wie dieses In-den-Vordergrund-Stellen der Jesuitenfrage schließlich doch nur eine sekundäre Erscheinung der sozialen Frage ist. Es ist eine Wirkung der Wahlrechtskämpfe, der Teuerungsverhältnisse, der sozialen Not, der Gewerkschaftsfrage, dass die Herren vom Zentrum diese Demarche versuchen, um sich in eine bessere Position zu bringen. Also, die soziale Frage zeigt sich als die Achse auch dieses ganzen sogenannten Konflikts. Zweifellos ist jedenfalls, dass das Zentrum in dieser Debatte wie in seiner ganzen politischen Tätigkeit draußen im Lande bewiesen hat, dass seine Devise: „Für Freiheit, Recht und Wahrheit", die auch heute wieder von der Tribüne verkündet worden ist, nicht ernst zu nehmen ist und dass im Gegenteil diese Devise erst Wahrheit würde, wenn man jedem dieser drei Worte ein „Un" voran setzen würde.

Ich möchte nur noch darauf hinweisen, dass bereits am ersten Tage der Etatsdebatte der Herr Abgeordnete Graf von Westarp gegenüber dem Angriff des Herrn Abgeordneten Spahn erklärte, dass die beiden Parteien der Rechten, das Zentrum und die Deutsch-Konservativen zusammengehen müssten, auf Gedeih und Verderb verbunden seien, weil sie gemeinsam den Kampf gegen den Unglauben und den Umsturz zu führen berufen seien. Ich glaube, das ist das Programm, auf das die Herren sich schließlich einigen werden, und der Bundesrat und die Regierung werden nach einiger Zeit schließlich in der Jesuitenfrage sanftere Seiten aufziehen. Und wenn die Herren vom Zentrum genügend ihren Zorn ausgetobt haben, wenn sie die Broschüre, als die sie offenbar die Rede des Herrn Abgeordneten Gröber drucken und im Lande verteilen lassen wollen, losgeworden sind, dann wird wieder Ruhe einziehen, sofern die Herren annehmen, dass die katholische Bevölkerung nun genügend hinter das Licht geführt sei.

Sehr merkwürdig ist ja, in welch außerordentlich schwieriger Position sich der Herr Reichskanzler befindet. Noch kaum jemals dürfte in einer außenpolitisch so verworrenen Zeit eine innerpolitische Verwirrung dieses Grades bestanden haben wie gegenwärtig hier. Ich muss allerdings sagen, dass der Herr Reichskanzler die Kriegserklärung der Herren vom Zentrum offensichtlich zu tragisch genommen hat, als er in deutlicher Erregung mit beredten Worten die Herren vom Zentrum zu beschwören begann, sie möchten doch nicht so unmenschlich sein und ihn und seine Politik gänzlich verlassen. Ich möchte dem Herrn Reichskanzler zurufen:

Sei ruhig, bleib ruhig, mein Kind,

in dürren Blättern säuselt der Wind.

(Heiterkeit bei den Sozialdemokraten.)

Dieses Getön und Gerassel ist eine Dekoration, ein Schaugepränge, und es wird vorübergehen, ohne dass dem Herrn Reichskanzler ein Härlein gekrümmt wird. Aber sehr interessant ist, wie der Herr Reichskanzler doch noch von anderen „gottgewollten Abhängigkeiten" erfasst worden ist. Ich glaube, der Herr Reichskanzler wird in der letzten Zeit den Eindruck gewonnen haben, als ob er allzu vielen „gottgewollten Abhängigkeiten" unterworfen sei. Da gibt es vor allem noch eine gottgewollte Abhängigkeit: die vom preußischen Abgeordnetenhaus. Als vor einigen Monaten ein Wahlrechtsantrag der Freisinnigen Partei auf der Tagesordnung dieses Hauses stand und als die Sozialdemokratie, entsprechend einer Bestimmung der preußischen Verfassung – da kein preußischer Minister zugegen war –, die Anwesenheit dieser Herren forderte, da wurde unser Antrag mit Gelächter überschüttet und von fast allen Parteien abgelehnt. Gestern hat es sich im preußischen Abgeordnetenhause um eine andere Frage gehandelt, nämlich, ob die preußischen Dreiklassenmänner einen Garten zu ihrer Erlustierung erhalten sollten. Da hat die Volksseele der preußischen Dreiklassenmänner gekocht, und da haben sie nun nahezu einmütig, und zwar auf freisinnigen Vorschlag,

(Heiterkeit.)

diesen lächerlichen Anlass, diese Quisquilie zur Ursache genommen, um den Herrn Ministerpräsidenten alias Reichskanzler und ich weiß nicht wie viele andere preußische Minister vor ihr Forum zu ziehen. Was soll daraus werden? Eine neue Konfliktsperiode ist offenbar im Anzüge – um den Garten des preußischen Abgeordnetenhauses. Wo ist der brave Mann, der den Herrn Reichskanzler aus dieser schweren Not retten wird, in die er jetzt geraten ist? Braver Mann, braver Mann, zeige dich! – Aber ich meine, dass auch diese schwierige Situation, in die der Herr Reichskanzler geraten ist, nicht so gar ernst zu nehmen ist. Der Herr Reichskanzler wird im Abgeordnetenhause eine sehr freundliche Behandlung finden, da er sicherlich geneigt ist, den Wünschen des Dreiklassenhauses nachzugeben; und damit wird die kochende Seele da drüben wieder abkochen.

Ich bin begierig, ob wir es ein einziges Mal erleben werden, dass sich bürgerliche Parteien um die wichtigsten Volksrechte in derartige Aufregungen stürzen, wie es die Herren vom Zentrum in der Jesuitenfrage getan haben und wie es das ganze preußische Abgeordnetenhaus – außer den Sozialdemokraten – in der Frage des Erholungsgartens für die Abgeordneten getan hat. Ich bin überzeugt, dass die Bevölkerung draußen auch wieder die gestrigen Vorgänge im Abgeordnetenhause als einen Schlag ins Gesicht und als einen neuen Beweis dafür empfindet, von welcher Gemeingefährlichkeit das preußische Dreiklassenwahlrecht ist, und dass es die Zentralfrage der ganzen deutschen inneren Politik ist, dieses Wahlrecht so schnell als möglich aus dem Wege zu schaffen.

Über Wahlrechtsfragen ist, auch abgesehen vom preußischen Wahlrecht, gar manches zu sagen. Ich will von der mecklenburgischen Frage, die heute bereits Gegenstand einer Anfrage gewesen ist6, nicht weiter sprechen. Immerhin ist es notwendig festzunageln, dass der Herr Reichskanzler heute hat erklären lassen, dass er in der mecklenburgischen Verfassungsfrage nach wie vor auf dem Standpunkt der Gleichgültigkeit, der Nichteinmischung steht.

Über Reuß ist bereits einiges gesagt worden. Es ist den Herrn Fortschrittlern vorgehalten worden, dass in Reuß auch die freisinnigen Landtagsabgeordneten für jene schmachvolle sogenannte Wahlrechtsreform einzutreten bereit sind. Das scheint bestritten worden zu sein. Es ist aber eine Tatsache. Ich kann Ihnen im Einzelnen darlegen, wie die Dinge liegen. Die drei Abgeordneten der Fortschrittlichen Volkspartei sind vor das Forum des Wahlvereins dieser Partei gezogen worden, um dort ihre Auffassung darzulegen, und sie haben erklärt, dass sie nicht in der Lage seien, sich zu binden, und haben ihre Bereitwilligkeit, für die Verschlechterung des Wahlrechts einzutreten, in deutlicher Weise zum Ausdruck gebracht.

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Heute findet in Reuß eine Demonstration der Volksmassen statt, denen die Entrechtung durch den Wahlrechtsraub droht. Der Kampf hat in Reuß bereits so scharfe Formen angenommen, dass heute ein Generalstreik ausgebrochen ist, an dem in diesem kleinen Lande 15.000 Menschen teilnehmen.

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Das muss hier erwähnt werden, und wir halten es für nötig, auch von der Tribüne des Reichstags herab den tapferen Kämpfern für Freiheit, Wahrheit und Recht – meine Herren vom Zentrum! – unseren Wunsch und unsere Hoffnung zuzurufen, dass der Kampf nicht vergeblich sein, dass es ihnen gelingen möge, mit den Volksfeinden, die ihnen ihr Recht rauben wollen, aufzuräumen und zu erreichen, dass des Volkes Wohl und Wille auch in Reuß das höchste Gesetz werde.

(„Bravo!" bei den Sozialdemokraten.)

Diese Teuerungssünden, diese Wahlrechtssünden, diese Sünden gegen das Koalitionsrecht – das sind alles politische Todsünden der großen Parteien, politische Todsünden der Regierungen. Aber dieser Todsünden hat sich bisher in diesem Hause eine andere große Partei nicht angenommen, und die Herren vom Zentrum vor allem sind über all diese Dinge einfach mit Stillschweigen hinweggegangen. Man hat das gute Recht zu fordern, dass der Reichstag zu diesen Fragen in der Etatsdebatte Stellung nimmt und dass der auf Grund des allgemeinen Wahlrechts gewählte Reichstag seine Überzeugung zum Ausdruck bringt, dass eine Aufrechterhaltung der Zustände besonders in Preußen unmöglich ist, und seinen festen entschlossenen Willen, dass mit größter Geschwindigkeit den jetzigen Zuständen in Preußen ein Ende gemacht wird.

(„Sehr gut!" bei den Sozialdemokraten.)

Ich möchte noch darauf hinweisen, zu welch gefährlichen Treibereien auch in Bezug auf die äußere Politik das preußische Dreiklassenwahlrecht und die ganze preußische Misswirtschaft führt. Ich darf Ihnen in Erinnerung rufen, wie im vergangenen Jahre das preußische Abgeordnetenhaus – im Mai oder Juni ist es gewesen – in einer außerordentlich wenig ehrenvollen Weise auseinander stob, weil es vollkommen arbeitsunfähig geworden und nicht einmal imstande war, gegenüber den Einwendungen von zwei Sozialdemokraten weiter zu funktionieren! Damals wurde in der konservativen Presse genauso wie schon früher, als die sozialdemokratische Hochflut nach der Reichsfinanzreform vom Jahre 19097 stürmisch zu wachsen begann, nach einem auswärtigen Konflikt, nach einem Kriege, als dem Erlöser der borussischen Volksfeinde aus inneren Nöten gerufen. Die preußischen Herren Junker hatten die geniale Idee, die Schwierigkeiten, die sich vor allem aus dem elendsten aller Wahlsysteme ergaben, dadurch zu beseitigen, dass sie bonapartistisch die Augen der preußischen Bevölkerung nach außen zu lenken wünschten.

(„Hört! Hört!" bei den Sozialdemokraten.)

Die Herren vom Zentrum lenken die Augen des Volkes auf die Jesuiten; die Herren von der Konservativen und Freikonservativen Partei benutzen dazu mit Vorliebe die äußere Politik. Dass die bonapartistischen Experimente außerordentlich gefährlich sind, ergeben gerade die Erscheinungen der letzten Tage. Wir sehen, wie die innere und äußere Politik aufs Engste zusammenhängen; wir sehen, wie sich die innere und äußere Politik zu einem Ringe zusammenschließen, wie sie organisch zusammengehören und eine äußere Politik nicht möglich ist so, wie sie eine „starke" Regierung führen möchte, wenn durch innerpolitische Konflikte die Kraft der Bevölkerung gehemmt, neutralisiert ist. Gerade bei auswärtigen Konflikten treten in unseren heutigen Zeiten mit ihrer weit fortgeschrittenen geistigen und psychischen Verselbständigung der Massen all die Sünden zutage, die in der inneren Politik von den herrschenden Klassen gegen ebendiese Massen begangen worden sind. Sie dürfen sich nicht wundern, dass wir die Versuche – von denen ich vorhin bereits schon sprach –, im Auslande den Eindruck zu erwecken, als ob das deutsche Volk nicht von inneren Kämpfen zersetzt sei, durchaus nicht unterstützen können. Der Klassenkampf besteht, und der Klassenkampf geht weiter, und wir lassen keineswegs zu, soweit es in unserer Kraft steht, dass der Klassenkampf etwa angesichts irgendwelcher demagogischen oder bonapartistischen Erwägungen und Bemühungen, die von reaktionären Parteien oder auch von der Regierung gepflogen werden, hintangesetzt wird. Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass das herrliche Kriegsheer, für das sich jetzt das Volk so einmütig begeistern soll, dasselbe Kriegsheer ist, das in Mansfeld und in Rheinfelden und im Ruhrrevier mit Bajonetten und Maschinengewehren gegen die Arbeiterschaft mobilisiert worden ist, dasselbe Kriegsheer, das damals den Hass der Bevölkerung gegen sich und seine Lenker erweckt hat. Wir denken daran, dass es dasselbe herrliche Kriegsheer ist, dem es zur Pflicht gemacht worden ist und das täglich und stündlich bereit sein soll, auf Vater und Mutter zu schießen.

Meine Herren, es ist notwendig, darauf hinzuweisen, dass die inneren Sünden, die Sünden Ihrer inneren Politik, nicht dadurch wiedergutgemacht werden können, dass Sie das deutsche Volk in außenpolitische Konflikte stürzen oder aber es in einen chauvinistischen Bausch versetzen. Wir werden vielmehr dafür sorgen, dass das Gedächtnis geschärft bleibt und dass alle die Sünden der inneren Politik nach wie vor vom Volk unvergessen bleiben und nach wie vor dazu führen, dass die Bevölkerung sich in immer größeren Scharen der Sozialdemokratie anschließt, auf dass sie sich befreien könne von dem Joch, das gegenwärtig in Preußen und in Deutschland in doppelt verschärfter Wucht auf ihr lastet.

Meine Herren, wenn wir sehen, wie man sich fortgesetzt in Sisyphusarbeit abmüht, durch vermehrte Kriegsrüstungen „den Frieden zu sichern", wenn wir sehen, wie aber durch ebendiese wahnsinnigen Kriegsrüstungen fortgesetzt äußere wie auch innere Konflikte ausgelöst werden, direkt und indirekt; wenn wir sehen, wie durch Ihre gesamte innere Politik sowohl in körperlicher, gesundheitlicher wie in moralischer und anderer Beziehung die Bevölkerung geschwächt und wie sie durch all das in immer heftigere Klassenkämpfe getrieben wird, dann, meine Herren, muss man erkennen, dass diese Ihre Regierungsmethode der Stärkung des Vaterlandes wahrhaftig nicht dient. Es wird ja immer wiederholt: si vis pacem, para bellum. Bereits in der politischen Blütezeit des deutschen Bürgertums wurde dem entgegengesetzt das andere Wort: si vis pacem, para libertatem, wenn du den Frieden willst, so bereite die Freiheit des Volkes. Und wir sagen: si vis pacem, para „socialismum", wenn du den Frieden willst, musst du den Sozialismus bereiten, den Sozialismus, der gleichzeitig eine Lösung der innerpolitischen Konflikte und Schwierigkeiten herbeiführt; der aber auch die einzige Möglichkeit, der einzige Weg ist, um auch für auswärtige Konflikte den richtigen Weg zu finden, um auswärtige Konflikte aus der Welt zu schaffen und ihre Beilegung in einer menschenwürdigen, eines Kulturvolks würdigen Weise zu ermöglichen.

(„Sehr richtig!" bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, die Etatsdebatte hat gerade in diesem Jahr eine absolute Unfruchtbarkeit aller anderen politischen Parteien in der inneren Politik ergeben, eine innerpolitische Unfruchtbarkeit, die ihresgleichen in der Vergangenheit sucht. Meine Herren, es ist nicht ein einziger neuer Gedanke zu irgendeiner Reformtätigkeit im Interesse der großen Masse des Volkes aufgetaucht. Damit haben Sie sich selbst das Urteil gesprochen über Ihre Fähigkeit zur Verwaltung, zur Leitung eines Sechzig-Millionen-Volkes. Es wird Ihnen nichts übrig bleiben, als angesichts gerade auch der außenpolitischen Schwierigkeiten zu verstehen, dass es nicht möglich ist, in dieser Weise fort zu wirtschaften, wenn man nicht eine schwere Gefahr über das Deutsche Reich heraufbeschwören will, eine schwere Gefahr auch selbst in Ihrem Sinn. Meine Herren, ich bezweifle allerdings sehr stark, dass Sie aus der gegenwärtigen kritischen Situation, in der Sie sich in der äußeren Politik befinden, die Lehre ziehen werden, dass Sie sich in der inneren Politik eifrig an die Arbeit machen, um alle die Forderungen der Bevölkerung, die schon seit Jahrzehnten mit nur allzu viel Recht erhoben werden, auch zu befriedigen. Meine Herren, aber ob Sie wollen, oder ob Sie nicht wollen, wir werden nach wie vor alle unsere Kraft einsetzen, um die Masse des Volkes aufzupeitschen,

(„Oho!" rechts.)

um die Masse des Volkes aufzupeitschen,

(„Bravo!" bei den Sozialdemokraten – „Oho!" rechts.)

damit Sie, ob Sie nun wollen, oder ob Sie nicht wollen, vorangetrieben werden, gerufen, gezwungen werden zu Ihrer Pflicht.

(„Bravo!" bei den Sozialdemokraten.)8

II

Dr. Liebknecht, Abgeordneter: Dem Herrn Abgeordneten Wiemer möchte ich zunächst bemerken: es kann sein, dass mir ein Irrtum in dieser einen Beziehung unterlaufen ist. Ich werde mich näher erkundigen. Nachdem er heute die Erklärung abgegeben hat, akzeptiere ich ohne weiteres die Richtigkeit seiner Darstellung und berichtige insoweit meine Ausführungen.

In Bezug auf den Herrn Abgeordneten Giesberts kann ich mich auf die Nummer 30 der „Bergarbeiterzeitung" vom 27. Juli d. J. berufen.

(Zuruf: „Sehr trübe Quelle!“)

Aber, meine Herren, hören Sie doch nur einmal! – Dort ist, und zwar ohne dass da irgend ein Widerspruch erfolgt wäre, wie mir mitgeteilt wird,

(„oho!“ im Zentrum)

und zwar nach Berichten der Zentrumspresse

(„Hört! Hört!“ bei den Sozialdemokraten)

geschrieben, dass der Herr Abgeordnete Giesberts in der erwähnten Generalversammlung u. a. folgendes gesagt hat:

Die christlichen Gewerkschaften kämpfen gegen grundsätzliche und politische Gegner mit dem Ziel der Verbesserung des Loses der Arbeiter. Schwer sei der Kampf gegen einen Gegner, der seine Pfeile meuchlings aus dem Hinterhalt abschleudert. Leute, die Zitate sammelten und mit unlauteren Mitteln, einer an sich so gesunden Bewegung, wie es die christlichen Gewerkschaften seien, hinterhältig in den Rücken fielen, müsse man als Wegelagerer bezeichnen. Wir können heute feststellen, dass diese Eingriffe aus dem Hinterhalt abgeschlagen sind.

Er wiederholt nachher noch einmal: „hinterhältige Angriffe auf katholischer Seite".

(„Hört! Hört!“ bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, es unterliegt gar keinem Zweifel, dass diese ganzen Ausführungen sich auf den Zentrumsgewerkschaftskampf erstrecken, und dass sie sich gegen diejenigen Personen richten, die die Rufer im Streite gegen die christlichen Gewerkschaften gewesen sind; und zu diesen Rufern im Streite gehören ja, wie ganz bekannt, unter anderem auch der Kardinal Kopp, der Bischof Dr. Korum und der Bischof Benzler, ganz abgesehen von zahlreichen anderen hohen kirchlichen Würdenträgern. Wer kann mit jener Bemerkung des Herrn Giesberts anders gemeint sein als eben diese kirchlichen Würdenträger?

(„Hört! Hört!“ bei den Sozialdemokraten – Lebhafte Zurufe im Zentrum: „Oho!“)

Meine Herren, Sie wollen das nur nicht wahr haben.

Sie möchten gern „meuchIings" aus dem Hintergrunde Ihre vergifteten Pfeile gegen diese kirchlichen Würdenträger richten,

(Widerspruch im Zentrum)

mögen es aber nicht, zu Ihren Worten zu stehen, wagen es nicht, zu bekennen, was Sie in Wirklichkeit gemeint haben.

(Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten. – Große Unruhe im Zentrum. Glocke des Präsidenten.)

Präsident: Herr Abgeordneter, es ist nicht zulässig, dass Sie Mitgliedern des Hauses vorwerfen, sie richteten vergiftete Pfeile gegen jemand.

(Lachen bei den Sozialdemokraten.)

Dr. Liebknecht: Abgeordneter: Meine Herren, das darf ich jedenfalls bemerken, uns treffen ihre Pfeile nicht, aber die Pfeile, die dorthin gerichtet wurden, waren allerdings vergiftet. Die Tatsachen sind hier so vollkommen klar, dass es sich erübrigt, weitere Bemerkungen zu machen, und dass alle Abschwächungsversuche nur als Verwirrungsmanöver aufgefasst werden können.

(Lebhafter Beifall bei den Sozialdemokraten.)

III

Dr. Liebknecht, Abgeordneter: Meine Herren, zunächst die Quelle meiner Ausführungen. Ich habe die „Bergarbeiterzeitung" zitiert und weise natürlich mit all der nötigen Verachtung die Einwürfe gegen diese Zeitung zurück, die der Herr Abgeordnete Giesberts erhoben hat. Die Richtigkeit der Grundlagen für meine Darlegungen ergibt sich ja aus der eigenen Sachdarstellung des Herrn Abgeordneten Giesberts, die er hier gegeben hat.

(„Sehr richtig!“ bei den Sozialdemokraten.)

Das stimmt ja geradezu, ich möchte beinahe sagen wörtlich überein mit dem, was ich vorhin vorgelesen habe, und ich habe eigentlich nur verlesen, um zu zeigen, wie zuverlässig gerade die Berichte der „Bergarbeiterzeitung" über Zentrumsangelegenheiten sind.

(„Sehr richtig!“ bei den Sozialdemokraten.)

Meine Herren, der Herr Abgeordnete Giesberts hat ja nun in seinen letzten Ausführungen so deutlich gezeigt, dass ich recht habe, dass ich ein glänzenderes Plädoyer für die Rechtfertigung meines Standpunktes mir gar nicht wohl denken kann. Die vollkommene Hilflosigkeit des Herrn Abgeordneten Giesberts

(Lachen im Zentrum)

gegenüber dem dringenden Verlangen, endlich nach diesen halben und Viertelworten und Achtelandeutungen einmal mit einem klaren Wort – ein Wort ein Mann – herauszukommen.

(Zuruf aus dem Zentrum: „Geht Sie ja nichts an!“ – „Ah! Ah!“ und Heiterkeit bei den Sozialdemokraten. – Glocke des Präsidenten.)

Die klägliche Hilflosigkeit, in der sich Herr Giesberts befand, als man nun daran ging, von ihm eine Klarstellung zu fordern, ist ein Schuldbekenntnis, wie es überhaupt klassischer nicht gedacht werden kann. Die Tatsachen sind also festgestellt.

(Lachen im Zentrum. – „Sehr richtig!“ bei den Sozialdemokraten.)

Der Herr Abgeordnete Giesberts redet sich heraus, er habe die Agitationsmethode gemeint. Was hat er gesagt? Es wären Wegelagerer. Seit wann ist eine Agitationsmethode ein Wegelagerer?

(Zuruf aus dem Zentrum: „Sie fälschen ja direkt!“)

Also ein verzweifelter Kampf mit allen Regeln der Logik und der Sprache wird von Herrn Giesberts in dieser Situation des Ertrinkens geführt.

Aus all dem entnehme ich nur das eine: dass dem Herrn Abgeordneten Giesberts der Gewerkschaftsstreit ganz verflucht im Magen liegt.

(Heiterkeit.)

Der Herr Abgeordnete Giesberts fühlt sich so unbehaglich als möglich dabei. Ich möchte den Herrn Abgeordneten Giesberts, wenn er sich wirklich als Gewerkschaftler so unbehaglich fühlt, einmal erinnern an ein schönes Gedicht von Chamisso, das von einem Manne handelt, dem es ungemütlich war, dass ihm sein Zopf so hinten hing:

Er dreht sich links, er dreht sich rechts,

Er tut nichts Guts, er tut nichts SchIechts,

Der Zopf der hängt ihm hinten.“

Herr Abgeordneter Giesberts tut vielleicht nicht immer nichts Guts und nichts Schlechts, darüber will ich nichts weiter sagen, aber im Übrigen sollte der Herr Abgeordnete Giesberts aus der Geschichte die Lehre ziehen, dass man Zöpfe und dergleichen nichts los wird, indem man sich um sich selbst herumdreht, sondern indem man sie abschneidet; – das könnte er sogar von den Chinesen der heutigen Tage lernen. Und wenn er wirklich ein Gewerkschaftler wäre, der es ehrlich meint mit den Interessen der Arbeiterklasse: jetzt wäre Gelegenheit gewesen, gerade bei der päpstlichen Enzyklika mit dem Flederwisch herauszukommen und zu zeigen, dass ihm die Interessen der Arbeiter näher liegen als die Interessen der Kurie, die Interessen des Klerus, die Interessen irgendwelcher konfessioneller Verhetzung, das Interesse, die Arbeiterschaft zu zersplittern. Deutlicher hat sich noch niemals gezeigt, dass die christlichen Gewerkschaften und ihre Vertreter in der Tat alle ihre Kräfte nur daran setzen, um die Arbeiterbewegung zu schädigen und zu verwirren, nicht aber um den Arbeitern zu helfen. Es ist sehr gut, dass wir heute hier diese Taktik der Wölfe in Schafskleidern noch einmal ganz deutlich haben kennzeichnen können.

(Lebhafter Beifall bei den Sozialdemokraten. – Lachen im Zentrum.)

Präsident: Herr Abgeordneter Dr. Liebknecht! Abgeordnete mit Wölfen in Schafskleidern zu vergleichen, entspricht nicht der Ordnung des Hauses.

(Große Heiterkeit.)


1 Das Reichsgesetz vom 4. Juli 1872 gegen den Jesuitenorden war eine der ersten scharfen Maßregeln der sogenannten Kulturkampfgesetzgebung, mit der Bismarck versuchte, den Einfluss der katholischen Kirche in Deutschland zurückzudrängen und dadurch die Vormachtstellung des junkerlich-bourgeoisen Militärstaates Preußen im neugeschaffenen Deutschen Reich zu festigen. Das Gesetz verbot den Jesuitenorden und die ihm verwandten Orden für das Reichsgebiet und erzwang die Auflösung ihrer Niederlassungen. Die katholische Zentrumspartei beantragte immer wieder die Aufhebung dieses Gesetzes. In einer Eingabe der bayrischen Bischöfe an den Bundesrat vom 16. Juli 1912 forderte das Zentrum eine authentische Auslegung des Begriffes „verbotene Ordenstätigkeit". Das erfolgte durch den Bundesratsbeschluss vom 28. November 1912: „Verbotene Ordenstätigkeit ist jede priesterliche oder sonstige religiöse Tätigkeit gegenüber anderen sowie die Erteilung von Unterricht." Das Gesetz selbst wurde erst 1917 aufgehoben.

2 Bei den Reichstagswahlen 1912 hatte die SPD 110, das katholische Zentrum 91 von 397 Sitzen gewonnen. Selbst wenn man die anderen Abgeordneten, die ebenfalls gegen das Jesuitengesetz waren (z.B. die Vertreter der polnischen Minderheit mit 18 Sitzen) nicht berücksichtigt, war damit eine Mehrheit im Reichstag gegen das Jesuitengesetz sicher.

3 Mit dieser Erklärung protestierte das Zentrum gegen eine angebliche Verschärfung des Jesuitengesetzes von 1872, die durch den Beschluss des Bundesrates vom 28. November 1912 erfolgt, sei. Siehe auch Anmerkung 23. Die Red.

4 Die von Papst Pius X. am 24. September 1912 erlassene Gewerkschaftsenzyklika – Enzyklika singulari quadam – bezweckte, die katholischen Arbeiter stärker unter den Einfluss und die Kontrolle der katholischen Kirche zu bringen und vor allem den langjährigen Streit im katholischen Lager zwischen der Berliner und Kölner Richtung (siehe unten) zu beenden. Die Enzyklika forderte: Alle Christen dürfen „keine Feindschaft und Zwistigkeiten unter den Ständen der bürgerlichen Gesellschaft schüren, sondern müssen untereinander Frieden und wechselseitige Liebe befördern.

Die soziale Frage und die mit ihr verknüpften Streitfragen über Charakter und Dauer der Arbeit, über die Lohnzahlung, über den Arbeiterstreik sind nicht rein wirtschaftlicher Natur und somit nicht zu denen zu zählen, die mit Hintansetzung der kirchlichen Obrigkeit beigelegt werden können, da es im Gegenteil außer allem Zweifel steht, dass die soziale Frage in erster Linie eine sittliche und religiöse ist (!) und deshalb vornehmlich nach dem Sittengesetze und vom Standpunkte der Religion gelöst werden muss."

Die Streitfrage, ob reine katholische Arbeiterorganisationen (Berliner Richtung) oder die konfessionell gemischten christlichen Gewerkschaften vorzuziehen seien, beantwortete die Enzyklika zu Gunsten der reinen katholischen Organisationen. Es sollte aber auch geduldet werden, wenn sich Katholiken den interkonfessionellen christlichen Gewerkschaften anschlössen, allerdings müssten diese katholischen Arbeiter als „Vorsichtsmaßregel" zugleich den katholischen Arbeitervereinen angehören.

Die Enzyklika des Papstes bedeutete einen unerhörten Eingriff in das Koalitionsrecht der deutschen Arbeiterklasse und zugleich eine direkte Kampfansage an die sozialdemokratisch beeinflussten freien Gewerkschaften und auch die christlichen Gewerkschaften, aber den Gewerkschaftsstreit konnte sie nicht beilegen. Sie stieß in der deutschen Arbeiterklasse auf heftigen Protest und rief unter der Kölner Richtung weiteren Widerstand hervor. Auf dem Essener außerordentlichen Kongress der christlichen Gewerkschaften am 26. November 1912 ließen die deutschen Bischöfe durch den Generalsekretär des Gesamtverbandes der christlichen Gewerkschaften Stegerwald eine die christlichen Gewerkschaften befriedigende Interpretation bekanntgeben.

5 Berliner und Kölner Richtung (unter den christlichen Gewerkschaften): Zwischen dem Verband der katholischen Arbeitervereine (Sitz Berlin) – daher Berliner, manchmal auch Breslauer oder Trierer Richtung genannt – und den interkonfessionellen christlichen Gewerkschaften (Kölner Richtung) bestand ein jahrelanger Wettlauf um die Gunst des Papstes. 1912 sprach sich Papst Pius X. in der sogenannten Gewerkschaftsenzyklika zu Gunsten der Berliner Richtung aus, ohne dass die Rivalitäten zwischen beiden Organisationen restlos beigelegt werden konnten.

6 Der sozialdemokratische Abgeordnete Dr. Herzfeld hatte den Reichskanzler gefragt, ob er bereit sei, die reaktionäre Verfassung Mecklenburgs durch Reichsgesetzgebung zu verbessern. Die Red.

7 Reichsfinanzreform von 1909 – Die deutsche Reichsregierung des sogenannten Bülow-Blocks von Konservativen und Liberalen strebte 1908/09 eine Reform der Reichsfinanzen an, um der unaufhörlichen Verschuldung des Reiches – in erster Linie eine Folge der imperialistischen Aufrüstung – entgegenzuwirken. Ihr Ziel war ein jährlicher Mehrbetrag an Steuereinnahmen von 500 Millionen Mark. Ein Fünftel der Mehreinnahmen sollte aus einer neuen Erbschaftssteuer gewonnen werden, der Hauptteil durch die Erhöhung beziehungsweise Neuschaffung von indirekten Steuern (auf Branntwein, Tabak, Bier, Gas und Elektrizität). Die konservativen Parteien und das Zentrum traten gegen die Erbschaftssteuer auf. Am 10. Juni 1909 nahm eine Reichstagsmehrheit aus Konservativen, Zentrum und Polen ein nach den Wünschen der Konservativen verändertes Steuergesetz an. Die Auseinandersetzungen um die Reichsfinanzreform 1909 hatten Anteil an der Sprengung des Bülow-Blocks und dem Rücktritt des Reichskanzlers Bülow und damit an der Entstehung des sogenannten schwarzblauen Blocks.

8Hier endet die Fassung der „Reden und Schriften“.

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