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Karl Liebknecht 19130702 Was nun in Preußen?

Karl Liebknecht: Was nun in Preußen?

[Vorwärts Nr. 168, 188 und 189 vom 5., 25. und 26. Juli 1913. Nach Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften, Band 6, S. 349-364]

I

Resolution1

2. Juli 1913

Die letzten Landtagswahlen haben erneut bewiesen, dass es bei dem elenden Dreiklassenwahlrecht unmöglich ist, eine dem Willen des Volkes Rechnung tragende Vertretung zu erreichen.

Die wiederholten Mahnungen, das Wahlrecht zum Abgeordnetenhause einer durchgreifenden Änderung zu unterziehen, blieben unberücksichtigt. Die Regierung beharrt, unterstützt von der reaktionären Mehrheit, auf ihrem Widerstand.

Der Arbeiterschaft als einzige Kämpferin für volle Gleichberechtigung wird es dadurch zur Pflicht, den herrschenden Gewalten den Kampf mit allen Mitteln anzusagen. Als eines dieser Mittel ist der politische Massenstreik anzusehen.

Die Versammelten sind sich bewusst, dass das Gelingen des großen Kampfes nur gewährleistet ist, wenn die gesamte Arbeiterschaft in festgefügten Organisationen zusammengeschlossen ist. Die Versammelten verpflichten sich deshalb, in energischer Weise für den Ausbau der Organisationen Sorge zu tragen.

Gleichzeitig fordern sie die leitenden Kreise der Arbeiterorganisationen auf, alle die Kampfmittel anzuwenden, die geeignet sind, dem Volk eine gerechte Vertretung im Abgeordnetenhaus zu sichern.

II

Artikel

25. und 26. Juli 1913

Rechte sind Form, aber noch kein Inhalt. Politische Rechte sind noch nicht politische Macht, nur mannigfach bedingte Machtmöglichkeit. Demokratische Verfassung heißt noch nicht Demokratie; noch weniger bedeutet demokratisches Wahlrecht zu einer gesetzgebenden Körperschaft – am Ende gar unter dem Zweikammersystem – Demokratie, nicht einmal im oberflächlichsten formalen Sinn.

Politische Rechte sind auch nur in ganz engen Grenzen Machtquellen, Mittel zur Erringung von Macht, vielmehr im Wesentlichen nur technische Mittel zur Durchsetzung bereits vorhandener Macht. Freilich zuweilen sehr wirksame technische Mittel zur Durchsetzung sonst politisch kaum nutzbarer gesellschaftlicher Macht. In der Hauptsache besitzen sie aber nur den Wert, den sie durch die zu ihrer Geltendmachung verfügbare Macht erhalten.

Liquidität der Macht, das heißt ihre jederzeitige Anwendungsbereitschaft, ist eine Sache von aktuellster Wichtigkeit, am meisten in einer von stürmischen Klassenkämpfen durchwühlten Epoche. Da ist in der Tat Bereitsein, das heißt Schlagfertigkeit, wie im Kriege, leicht genug „alles".

Ein wesentlicher Teil der politischen Entwicklung besteht in der Verwandlung bloßer Machtmöglichkeiten in Machtwirklichkeiten und in der Umsetzung illiquider Macht in liquide sowie im korrespondierenden umgekehrten Prozess.

Den gesetzgebenden Körperschaften eignet besonders unter dem Zweikammersystem an sich nur eine geringe direkte, liquide Macht – ganz im Gegensatz zur Exekutive, zur Verwaltung, deren Wesen in der Verfügung über die staatlichen Zwangsmittel besteht, so dass ihrer Macht der höchste Grad von Liquidität, von jederzeitiger Realisierbarkeit, innewohnt. Wo das Parlament zugleich eine oberste Verwaltungsinstanz ist, wie in England, vereinigt es in sich auch einen großen Teil der bereiten Machtfülle der Exekutive. Das bloße Budgetrecht, das formell das Recht zur Aufsicht über die Verwaltung einschließt, verleiht bei seinem indirekten Charakter nur ebenso viel liquide Macht, wie sie den außerparlamentarischen Faktoren zukommt, die für den politischen Budgetwillen des Parlaments jeweils sofort mobilisierbar sind. AI fresco: Die Verwaltung ist direkte politische Macht für sich, durch sich; die gesetzgebende Körperschaft und damit auch das Wahlrecht zu ihr noch nicht. Parlamente nach Art der deutschen, deren geringe Zuständigkeiten mit Hilfe des Zweikammersystems noch mehr oder weniger neutralisiert sind, bilden ein sehr unvollkommenes, verzwicktes Mittel zur politischen Ausnützung der vorhandenen außerparlamentarischen Kräfte und weisen gar oft eine verzweifelte Ähnlichkeit mit jenen tropischen Wüsteneien auf, in die gewaltige Ströme fließen, um alsbald zu versanden und zu verdunsten.

Hinter dem deutschen Reichstagswahlrecht stehen gewiss sehr beachtliche außerparlamentarische Faktoren, aber deren Kraft, wie zum Beispiel die der politischen Organisationen des Proletariats, in bereite politische Macht umzusetzen, ist heute noch ein überaus schwieriges Problem. So ist zwar das Reichstagswahlrecht, trügt nicht alles, genügend geschützt selbst gegen staatsstreichlerische und auch gegen etwaige mit dem Raffinement der gesetzgeberischen Technik unternommene Überfälle. Aber die Macht des Reichstags und damit den Inhalt des Reichstagswahlrechts zu vermehren, das vermochten jene außerparlamentarischen Faktoren, von Geringfügigkeiten abgesehen, vorläufig noch nicht; selbst Schwächungen des Reichstagseinflusses konnten sie zeitweilig nicht hindern. Eine gewisse Nüchternheit in der Wertung selbst des verhältnismäßig radikalen Reichstagswahlrechts ist danach begreiflich. Da indessen die Schwäche dieses Wahlrechts in der ausgedehnten Zuständigkeit der einzelstaatlichen Gesetzgebung und in der gewaltigen Macht der Exekutive des Reichs wie der Einzelstaaten beruht, da ferner die Macht der Reichsexekutive fast vollkommen aus der Macht der einzelstaatlichen Exekutive abgeleitet ist und da die hemmenden Einflüsse vor allem in der Verfassung und Verwaltung Preußens und einiger preußischer Dependenzen verkörpert sind, so folgt, dass jene Nüchternheit mit grundsätzlicher Geringschätzung des parlamentarischen Wahlrechts nichts zu tun hat. Sie schließt die Erkenntnis nicht aus, sondern ein, dass eine Umgestaltung der preußischen Verfassung im demokratischen Sinn auch die Erlösung des Reichstagswahlrechtes und des Reichstages aus erstickender Umklammerung sein wird.

Umgestaltung der preußischen Verfassung in dem umschriebenen materiellen Sinn ist keineswegs gleichbedeutend mit bloßer demokratischer Reform des preußischen Landtagswahlrechts. Allerdings bedeutet, wie gezeigt, eine solche Reform immerhin eine Verbesserung der Technik zur politischen Verwertung der vorhandenen demokratisch verwertbaren Macht. Eine Erleichterung der Machtverwirklichung, in manchem Betracht eine Verwandlung illiquider Macht in liquide und die Zerbrechung und Auflösung bisheriger liquider Macht. Da die Hauptsumme der bereiten politischen Macht jedoch gerade in Preußen mehr als irgendwo in konstitutionellen Staaten bei der Verwaltung liegt und sich der gegenwärtige, scheinbar so beherrschende Einfluss des Dreiklassenhauses und des Herrenhauses, vor allem aber des ersteren, daraus erklärt, dass diese sogenannten Parlamente im wesentlichen Ausschüsse der staatlichen Exekutive und ihrer Auftraggeber darstellen, so muss ein Kampf um ernstliche politische Machtverschiebung in Preußen in erster Linie ein Kampf um die Verwaltung sein.

Konfliktsperioden sind freilich bei der politischen Mündigkeit der großen Massen viel riskanter als vor 50 Jahren, und so bedeutet auch ein bloßes demokratisches Wahlrecht für das preußische Abgeordnetenhaus einen Strick um den Hals der junkerlich-militaristischen Bürokratie Preußens. Das gilt um so mehr, weil ein erkämpftes politisches Recht mehr Machtmöglichkeit verleiht als ein geschenktes oder bloß überkommenes: mindestens bei seiner Durchtrotzung muss es Machtwirklichkeit gewesen sein, und ist es unter Entfaltung aller für und wider wirkenden Kräfte errungen, so trägt es, solange diese Kräfte sich nicht erheblich verschieben, zeitlebens den Stempel seiner Abstammung.

Gerade daraus aber und aus der ganzen politischen und sozialen Struktur Preußens ergibt sich wiederum als selbstverständlich, dass der preußische Wahlrechtskampf geführt wird gegen die jetzige preußische Verwaltung als die Preisfechterin ihrer eigenen Interessen und der gesamten hinter ihr stehenden Antidemokratie. Ohne ihre Niederwerfung kein Erfolg.

So ist der preußische Wahlrechtskampf seit je ganz von selbst statt eines bloßen Kampfes um die parlamentarische Methode der Machtdurchsetzung ein Kampf um die Macht selbst, zunächst um die der Exekutive, sodann aber auch um die Verschiebung der Machtverhältnisse in den Positionen, die außerhalb der staatlichen Institutionen liegen. Zudem ist wie jeglicher Kampf so in hervorragendem Maße ein Kampf von solch prinzipaler Bedeutung ein Machtschöpfer durch sich selbst.

Darüber sind im Grunde alle Genossen einig, gleichviel, ob sie nun die Rolle des parlamentarischen Kampfes höher oder geringer werten. Es ist nicht nötig, in diesem Punkt einen Gegensatz zwischen Reformisten und Revolutionären zu konstruieren. Er besteht nicht.2 Zu meinen, dass es bei dem Wahlrechtskampf um das Ganze der sozialen Revolution gehen müsse, dass es nur einen Kampf um die Macht, das heißt die gesamte Macht gehe, oder zu wähnen, dass nur ein Teilkampf nach Art des belgischen, holländischen oder österreichischen in Frage stünde, sind gleicherweise schädliche Axiome. Allerdings muss an der Spitze jeder Erörterung über den Wahlrechtskampf die klare, in allen Konsequenzen zu durchdenkende Erkenntnis stehen: Der preußische Staat ist so festgefügt, und das Dreiklassenwahlrecht mitsamt der bürokratisch-militaristischen Vorherrschaft vor allem des Junkertums bildet dermaßen den Grund- und Eckstein dieses Staatswesens, dass es bei dem Wahlrechtskampf notwendig nicht um ein kleines Bröckchen, sondern um ein gewaltiges Stück Macht geht – auf Biegen oder Brechen; dass es in diesem Sinn „aufs Ganze" geht.

Aus dieser Erkenntnis ergibt sich aber zugleich, dass es sich lohnt, den Wahlrechtskampf durchzukämpfen, koste es, was es wolle. Er ist ein Kampf nicht nur um ein großes Stück politischer Macht in Preußen und Deutschland, sondern auch – wenn man diesen Unterschied anerkennt – um ein großes Stück wirtschaftlicher Macht. Wenn einige Genossen auf die Bedeutung der künftigen Zollkämpfe hingewiesen haben, so ist zu beachten, dass der Kampf um das preußische Wahlrecht seinem ganzen Charakter nach auf Niederwerfung gerade der Koterien und, wenn man will, Klassen ausgeht, die als Vampire an den Adern der Volkskraft saugen und ohne deren jetzigen gewaltigen Einfluss schon unser gegenwärtiges Zoll- und Steuersystem undenkbar wäre. Der preußische Wahlrechtskampf ist also auch der beste Kampf gegen die Lebensmittelteuerung, ein Schuss ins Schwarze der agrarischen Beutepolitik. Es handelt sich bei ihm aber weiter um alles überragende elementarste Interessen der gewerkschaftlichen Bewegung, von der ungemeinen Wirkung der Wirtschaftspolitik auf die Gewerkschaften ganz zu schweigen. Auf politischen Grundrechten baut sich der gewerkschaftliche Kampf auf. Versammlungsrecht, Koalitionsrecht, Pressrecht sind Lebensnerven der Gewerkschaften. Die Klassenjustiz trifft die gewerkschaftliche wie die politische Bewegung in gleicher Schärfe; Polizei und Militarismus bedrohen und schlagen beide mit den gleichen niederträchtigen Schikanen, mit der nämlichen brutalen Gewalttätigkeit; Schule, Kirche, amtliche Jugendkorruption machen ebenso wenig Unterschied. Der preußische Staat ist zudem der größte Arbeitgeber der Welt; der Wahlrechtskampf erstrebt Steigerung des proletarischen Einflusses auf ihn als den größten Arbeitgeber der Welt, der zugleich der kleinlichste und arbeiterfeindlichste der Welt ist und ohne Demokratisierung seiner Verfassung nicht einmal zur Erfüllung der primitivsten Arbeiterforderungen angehalten werden kann. Und das Schicksal der preußischen Staatsproletarier ist zugleich das Schicksal der deutschen Reichsproletarier sowie der Staatsproletarier in den übrigen deutschen Bundesstaaten und schließlich auch in hohem Maße bestimmend für die Lage der freien Arbeiterschaft. So gewinnt der Kampf um das preußische Wahlrecht gerade vom gewerkschaftlichen Standpunkt aus eine geradezu grundlegende Wichtigkeit und eine ganz eminente Dringlichkeit.

Es erübrigt sich, noch daran zu erinnern, dass der Sturz und selbst eine erhebliche Schwächung der feudal-bürokratischen Reaktion in Preußen für ganz Europa die Befreiung von einem Alpdruck heißen und weite, durchaus nicht phantastische Ausblicke auf eine Neuorientierung der inneren und äußeren Politik der ganzen zivilisierten Welt eröffnen wird, ein Ziel, des Schweißes und auch der Freiheit und des Blutes der Edelsten wahrlich wert. Das hohe Ziel verlohnt den höchsten Einsatz. Preußen ist in der Tat der archimedische Punkt, von dem aus eine ganze Welt der Niedertracht aus den Angeln gehoben werden kann und muss.

Aus der Periode des bloßen Geschehenlassens und Abwartens sind wir längst hinaus, endgültig. Wir können nicht mehr zurück oder anhalten, am wenigsten jetzt nach den Wahlen. Zaudern wäre Stillstand, Stillstand Rückschritt. Die Zeit ist reif, überreif. Der Felsblock muss aus dem Wege – gerollt oder gesprengt!

Dass der preußisch-„parlamentarische" Weg nicht zum Ziel führt, ist seit langem Kinderweisheit. Mit Münchhausiaden macht man keine Politik. Der Versuch eines legislatorischen Eingriffs vom Reichstag aus wird natürlich fortzusetzen sein; er hat jedoch vorläufig nur propagandistischen Wert.

Stärkung der politischen, gewerkschaftlichen, genossenschaftlichen Organisation, Steigerung der Aufklärung und Kampfbereitschaft innerhalb und außerhalb der Organisation sind noch keine Methoden der Machtanwendung, sondern nur der Machtsammlung. Dass bloßes Vorhandensein der gesammelten Macht als eine stetige Drohung zur Durchsetzung von Forderungen und zur Abwehr von Anschlägen wirkt, hat die innere Politik mit der auswärtigen gemein. Aber auch der Grad an Respekt, den eine solche Drohung findet, hängt ab von dem Grad der Möglichkeit ihrer Ausführung. Die antimilitaristische Propaganda und die Propaganda in der Beamtenschaft dient einer wesentlichen Schwächung der reaktionären Stellung, gehört aber auch noch mehr in die Kategorie der Machtsammlung. Straßendemonstrationen sind eine Mobilisierung der Massen zum Zweck des energischen Willensausdruckes, aber doch, von ihrer propagandistischen Wirkung abgesehen, auch nur eine Drohung; und mit Versammlungen – ihre agitatorische Kraft hoch in Ehren – kommen wir in der Wahlrechtsfrage schon längst nicht mehr weiter. Im Austritt aus der Landeskirche und im Boykott der Kircheneinrichtungen erblicken wir noch nicht genug geübte Machtanwendungen, deren Wert nicht unterschätzt werden darf.

Die Steuerverweigerung könnte theoretisch eine schneidige Waffe sein, ihre Durchführung stößt unter den heutigen Verhältnissen auf schier unüberwindliche Schwierigkeiten.

Selbstverständlich darf keines der bisherigen Kampfmittel über Bord geworfen werden. Aber sie reichen nicht mehr aus; wir brauchen neue zu neuem Kampf.

Der Streik ist neben dem Boykott diejenige Anwendungsform der proletarischen Macht, die der sozialen Natur des Proletariats, seiner Funktion in der kapitalistischen Gesellschaft am meisten entspricht, ihr unmittelbar entfließt. Die gewerkschaftlichen Streiks werden ihrem Umfang nach immer mehr Massenstreiks. Sie nähern sich auch oft genug ihrem Ziel nach den politischen Streiks, werden immer ausgeprägter Kämpfe um die Machtstellung der Arbeiterklasse in der Gesellschaft. Immer entschiedener tritt die ganze Staatsgewalt bis hinauf zum Militarismus rücksichtslos gegen sie in die Schranken: Auch die gewerkschaftlichen Streiks werden in immer höherem Maße Kämpfe mit der Staatsgewalt, ja um die Staatsgewalt.

Der Massenstreik für politische Ziele hat seine Feuerprobe längst bestanden, kein Wunder, dass auch in Deutschland nicht nur seine Möglichkeit, sondern seine Notwendigkeit fast überall erkannt ist. Das gilt gerade für die preußische Wahlrechtsfrage. Hier führt kein anderer Weg nach Küßnacht; die Situation ist sonst in der Tat ausweglos.

Sonderbarerweise ist mehrfach die Forderung erhoben worden, die Jenaer Resolution von 19053 dahin zu erweitern, dass der Massenstreik auch zur Eroberung von politischen Rechten in Aussicht zu nehmen sei. Dabei wird vergessen, dass in der Jenaer Resolution bereits ausdrücklich die Verwendung des Massenstreiks zur Eroberung von Rechten vorgesehen ist. Sie bedarf keiner Ergänzung. Die Bahn ist seit 1905 bereits frei. Und seitdem „revisionistische" Genossen, die im Rufe der Staatsmännerei mit der kühlen Besonnenheit stehen, offen, ja demonstrativ ins Lager der Massenstreikfreunde eingeschwenkt sind, ist den Massenstreikgegnern ein gutes Teil ihrer Einwände aus der Hand geschlagen. Die Stürmer und Dränger waren stets rasch abgetan. Jetzt wird manch Zaudernder vielleicht eher gewonnen. So begrüßen wir diese Verstärkung doppelt.

Es fragt sich für den preußischen Wahlrechtskampf schon längst nicht mehr: ob Massenstreik, sondern nur noch: wann; wann und unter welchen Bedingungen?

Unter den Befürwortern des Massenstreiks dürfte sich auch nicht einer dem närrischen Wahn hingeben, irgendeine etwaige unerfreuliche Situation durch ein taktisches Mittel umgestalten zu können. Sie suchen samt und sonders nur nach dem wirksamsten Mittel zur Ausnützung der gegebenen Situation, nach dem Mittel, das durch diese Situation nicht nur zugelassen, sondern geboten wird. Es gibt auch in der politischen Entwicklung trotz ihrer immanenten Unerbittlichkeit verpasste Gelegenheiten. Auch die Aufklärung über die gegebenen taktischen Mittel für den Klassenkampf ist ein Stück revolutionärer Aufklärung des Proletariats; und auch die Propaganda solcher Mittel wirkt auf Stärkung der Kampfkraft des Proletariats.

Die Situation vergewaltigen oder diplomatisch erlisten wollen wäre hirnverbrannt; aber nicht weniger verwerflich wäre eine Taktik, die ohne kugelsicheren Panzer sich nicht in den Kampf wagen und die scharfe Märzluft eines revolutionären Risikos in entscheidender Stunde scheuen würde aus Besorgnis, die bisherigen Organisationen und Institutionen des Proletariats, die doch nur Mittel zum Zweck sind, zu gefährden. Es heißt wägen, besonnen abwägen, aber dann auch wagen.

Ich wiederhole: Das hohe Ziel verlohnt den hohen Einsatz. Wir marschieren im Preußenkampf in der Linie der sicheren Entwicklung. Nur Niederlagen auf Zeit kommen in Betracht, und nur Niederlagen, die doch nicht ganz ergebnislos sind. Keine Gegenrevolution der Weltgeschichte hat je eine in der Entwicklungsrichtung liegende revolutionäre Bewegung in ihrer Wirkung wieder völlig aufheben können. Nicht einmal die preußische nach 1848 oder die russische nach 1905. Und so wahr die deutsche Sozialdemokratie wie die deutschen Gewerkschaften in rauer Kampftemperatur aufgewachsen sind und ihre Unüberwindlichkeit dadurch bewiesen haben, dass sie von ihren Niederlagen stets mit vermehrten Antäuskräften aufgestanden sind, um weiterzukämpfen, so wahr sind Kampfesorganisationen, die, wenn der Moment ruft, die Gefahr einer Niederlage nicht scheuen, besser als solche, die durch Vermeidung entscheidender Kämpfe einer Niederlage auszuweichen suchen. Es gibt Situationen, die die Bereitschaft selbst zu Niederlagen erheischen.

Was ist politischer Massenstreik? Theoretisch betrachtet, kann er viele Gestalten annehmen: vom bloßen Demonstrationsstreik, der noch keine Machtanwendung bedeutet, bis zum Streik mit dem Ziel der Niederzwingung des Gegners; vom örtlich oder beruflich begrenzten bis zum allgemeinen Streik. Alle diese Formen könnten, wie schon in Jena hervorgehoben, in beweglicher Taktik, die natürlich auch die bisherigen Kampfmittel festzuhalten hat, bis zur höchsten Steigerung entfaltet werden.

Gewiss wird schon ein Demonstrationsstreik Opfer fordern. Aber auch sie werden durch den Wert der Kundgebung einer revolutionären Energie gerechtfertigt, die über das bei Straßendemonstrationen hervortretende Maß weit hinausgeht. Zuzugeben ist, dass im preußischen Wahlrechtskampf die schwachen Streikarten nicht allzu viel Eindruck machen dürften und sogar zeitweilig eine Schwächung des Willens zum Massenstreik herbeiführen können, Jedenfalls darf keine Art des Massenstreiks unternommen werden ohne die Bereitschaft des sofortigen Übergangs zum rücksichtslosen Niederwerfungsstreik, falls die Situation dazu im Kampf erwächst. Die Entschlossenheit zum ganzen großen Generalstreik muss hinter jeder Form des Massenstreiks stehen.

Besonders schwierig ist unsere Lage, weil der Massenstreik unmittelbar fast nur Industrie, Handel und Verkehr treffen wird, das heißt solche Kreise der herrschenden Klassen, die nicht die Exponenten des schärfsten Widerstandes gegen jede Wahlreform, jedenfalls nicht die vorbehaltlosen Repräsentanten des bestehenden Wahlrechts sind. Aber Feinde des demokratischen Wahlrechts sind auch sie allesamt; und ein Keil treibt schließlich den anderen; lehren wir erst die Vertreter des mobilen Kapitals einschließlich der schweren Industrie und die staatliche Bürokratie zu unserem Gott beten, so werden auch die Junker wohl oder übel dem Rezept des alten Remigius von Reims folgen.

Kann das Proletariat beim Massenstreik auf Bundesgenossen zählen? Der letzte belgische Streik4 wurde von der Sympathie des liberalen Bürgertums unterstützt; in Deutschland wird auf dergleichen nicht zu rechnen sein. Unser Bürgertum hat viel mehr Angst vor der Arbeiterklasse als Hoffnung auf eine Wahlreform nach seinem Herzen – trotz mancher politischer Kleinkrämerseelen, die um ein Quäntchen Wahlreform in ihrem engen Parteisinn spekulieren, als wär's ein Viertelpfund Gewürznelken. Es möchte eine Wahlreform des schwachmütigen Hasses nach oben und der Hinterlist nach unten. Tritt ihm die Forderung nach einem wirklich demokratischen Wahlrecht, die es auch mit den Lippen murmelt, als proletarische Klassenkampfforderung entgegen unter der Fahne des revolutionären politischen Streiks, so wird es sich die Ohren zustopfen und nur noch nach Staatsanwaltschaft, Polizei und Militär schreien. So muss das Proletariat auf sich selbst stehen. Nur laue Hilfe mag es hie und da finden in den Kreisen des Mittelstandes, der ja auch entrechtet ist.

Allerdings wird es keinen geschlossenen Reihen und keiner einheitlichen Taktik des gesamten Bürgertums begegnen. Zersplitterung und gegenseitige Missgunst der halben und ganzen Wahlrechtsfeinde werden unseren Kampf erleichtern. Aber schon die Erinnerung an die erbärmliche denunziatorische Haltung selbst der „entschieden Liberalen" gegenüber unseren Straßendemonstrationen von 1910 muss allen hochfliegenden Hoffnungen auf die künftige Haltung des Liberalismus den Garaus machen.

Je mehr das Proletariat auf sich selbst angewiesen ist, um so mehr muss es seine höchste eigene Kraft einwerfen. Nur sämtliche Organisationen des Proletariats gemeinsam, in einmütiger Geschlossenheit, können den Massenstreik aufnehmen. Vor allem ist vorbehaltlose Beteiligung der Gewerkschaften nötig. Sie werden aber trotz Konjunktur und Krise nicht auf die Dauer widerstreben. Das Verständnis für die Bedeutung der parlamentarisch-politischen Arbeit und einer Machtverschiebung in der Verwaltung für die wirtschaftliche Lage der Arbeiterklasse, das Verständnis für die schließliche Identität der politischen und wirtschaftlichen Interessen, Aufgaben und Kämpfe auf den weitesten Gebieten ist bereits vorhanden; es kann mit Leichtigkeit verallgemeinert und verschärft werden. Die oben dargelegte Bedeutung gerade des preußischen Wahlrechtskampfes gerade für die Gewerkschaften ist so einleuchtend auch für den wenig geschulten Kopf, dass die Propaganda für den politischen Massenstreik zum Zwecke der Wahlrechtseroberung eines bei weitem leichteren Erfolgs gerade in den größten Gewerkschaften sicherer ist als die Propaganda für gewerkschaftliche Tagesforderungen. Und die gleichzeitige Beteiligung aller Arbeitergruppen übt eine starke suggestive Wirkung. So muss auch aus rein gewerkschaftlicher Betrachtung der Gesamtlage der Arbeiterklasse Preußens und Deutschlands der entschlossene Wille zum Wahlrechtskampf und zum Massenstreik geboren werden, soweit er noch nicht geboren sein sollte.

Auch das unorganisierte Proletariat und selbst das Proletariat der christlichen Organisationen und der Gewerkvereine wird diesen Argumenten zugänglich sein, leichter noch als der Agitation für einen wirtschaftlichen Streik. Die ängstliche Haltung des verräterischen Zentrums in der Wahlrechtsfrage zeigt, dass es sich dieser Gefahr wohl bewusst ist.

Allerdings wird auch das zum Klassenkampf organisierte Proletariat, noch mehr aber das ihm fern stehende, nicht auf ein Kommando von oben in den Massenstreik treten, entschlossen und fähig, ihn bis zum Ziele zu führen. Wer – und wäre er selbst der leuchtendste Star des politischen Belkanto – könnte daran denken, die Massenstreikstimmung künstlich zu erzeugen? Das wäre eine Sache politischer Salontirolerei. Aber eine höchst gespannte Kampfesstimmung kann sich in unzweckmäßigen, ziellosen Kämpfen entladen. Es gilt, den zu beschreitenden Weg zunächst geistig, im Bewusstsein der Massen der Wahlrechtskämpfer zu bahnen. Ist der Weg des Massenstreiks als der allein mögliche für die wirksame Ausnützung der von leidenschaftlichem Kampfmut getragenen proletarischen Macht klar erkannt, so muss diese Erkenntnis verbreitet werden, so dass der Wille und die Kampfbereitschaft der empörten Massen schließlich spontan dieses Kampfmittel ergreift. Die Verbreitung dieser Erkenntnis wird nicht schwer fallen. Schon längst hat der Massenstreikgedanke in den Massen der Arbeiterschaft einen ungemein starken Anhang, und gerade die Schulung in den gewerkschaftlichen Kämpfen und die daraus gewonnene Einsicht in die Macht der Arbeiterschaft sowie die zu ihrer Geltendmachung geeigneten Mittel hat sie ganz von selbst auf den Gedanken des politischen Massenstreiks gelenkt. Die natürliche Aufgabe der sogenannten Führer der Arbeiterschaft ist bei ihrer ungeheuren Verantwortung vorsichtige Zurückhaltung und ein nur allzu begründetes Misstrauen gegen das Feuer der Begeisterung, das sich nur allzu oft als Strohfeuer entpuppt, mit dem man keinen revolutionären Brand erzeugen kann. Ihre wohl verständliche Abneigung gegen ungenügend gesicherte Experimente wird sie aber nicht hindern, wenn die Voraussetzungen für einen Massenstreik, soweit eben möglich erkennbar vorhanden sind und die Arbeiterschaft in ungestümer Wucht voran drängt, sich nicht nur mitreißen zu lassen, sondern die Führung zu übernehmen.

Sind jene Voraussetzungen heute bereits vorhanden? Gewiss noch nicht in dieser Stunde. Aber sie werden, wenn nicht alle Zeichen trügen, bald vorhanden sein. Möglich, dass eine Krise bevorsteht; möglich, dass sie zur vorläufigen Zurückhaltung nötigt; möglich, dass sie gerade in Verbindung auch mit den Zollkämpfen der Ausbruch eines Massenstreiks erleichtern wird. Jedenfalls wird der kommende Winter Ereignisse zeitigen, an die sich ganz von selbst eine neue Wahlrechtsbewegung knüpfen wird. Dass es zum Kampf kommt, ist gewiss. Entweder verhöhnt die preußische Regierung das entrechtete Volk, indem sie überhaupt keine Wahlreform einbringt: das bedeutet Kampf! Oder sie fordert es durch eine neue Ausgeburt des Dallwitzschen Polizeihirns heraus: das bedeutet nicht minder Kampf aufs Messer. Ist dann die Stimmung im Proletariat bis zu demjenigen Siedepunkt erhitzt, der die Voraussetzung für den Massenstreik bildet, und ist dann der Massenstreikwille so leidenschaftlich entschlossen und fest gewurzelt, wie es ein Kampf aufs Äußerste erheischt, dann wird nicht mehr aufzuhalten sein, was doch kommen muss – trotz alledem.

Inzwischen ist es gebieterische Pflicht, sich auf alles vorzubereiten. So sehr die preußische Wahlrechtsfrage eine deutsche Frage ist und so sehr der preußische Massenstreik von dem ganzen deutschen Proletariat unterstützt und getragen werden muss, so sicher muss der Kampf doch schließlich selbst in Preußen ausgekämpft werden. Allerdings wird das mecklenburgische, das braunschweigisch das hanseatische und das thüringische und vielleicht auch das sächsische Volk von dem preußischen Sturme mit erfasst werden. Aber der entscheidende Schlag wird in Preußen geführt; wenn der preußische Mantel fällt, dann fallen auch die Herzogtümer, Großherzogtümer e tutti quanti.

In Preußen sind daher die entscheidenden Entschlüsse zu fassen. Schon für den Herbst empfiehlt sich ein außerordentlicher preußischer Parteitag. Er wird nicht zu früh sein, er wird der Vorbereitung für alle Eventualitäten zu gelten haben, einer weit ausgreifenden Vorbereitung, vielleicht auch der Vorbereitung nach belgischem Muster. Kommt mit der Eröffnung des Landtags der kritische Moment, so muss alles klar zum Gefecht sein. Dann gilt's einen raschen Entschluss aus der gegebenen Situation heraus. Ohne Wankelmut, aber wenn es sein muss, voll Wagemut. Das freie, gleiche Wahlrecht für Preußen ist eine Messe, ist einen Massenstreik wert.

1 Diese Resolution brachte Liebknecht am 2. Juli 1913 in der „Neuen Welt" in Berlin, Hasenheide, ein, als er zum Thema „Was nun in Preußen?" sprach. Da Liebknecht den Bericht des „Vorwärts" über seine Ausführungen als ungenau zurückwies, schrieb er den unter II abgedruckten Artikel. Die Red.

2 Hier handelt es sich offensichtlich um nicht genügendes Erkennen prinzipieller Differenzen zwischen den Opportunisten und den revolutionären Kräften. Die Red.

3 Es handelt sich um die von August Bebel eingebrachte, mit überwältigender Mehrheit angenommene Resolution „Der politische Massenstreik und die Sozialdemokratie", in der der politische Massenstreik als Kampfmittel des Proletariats befürwortet wurde. Der entscheidende Absatz lautet: „Demgemäß erklärt der Parteitag, dass es namentlich im Falle eines Anschlages auf das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht oder das Koalitionsrecht die Pflicht der gesamten Arbeiterklasse ist, jedes geeignet erscheinende Mittel zur Abwehr nachdrücklich anzuwenden.

Als eines der wirksamsten Kampfmittel, um ein solches politisches Verbrechen an der Arbeiterklasse abzuwehren oder um sich ein wichtiges Grundrecht für ihre Befreiung zu erobern, betrachtet gegebenenfalles der Parteitag ,die umfassendste Anwendung der Massenarbeitseinstellung'." (Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten in Jena vom 17. bis 23. September 1905, Berlin 1905, S. 142/143.) Die Red.

4 Vom 14. bis 24. April 1913 kam es in Belgien zu einem Generalstreik, an dem 400.000–500.000 Arbeiter teilnahmen. Es war der erste umfassende, systematisch vorbereitete und organisierte Massenstreik, der nach der ersten russischen Revolution von 1905-1907 in einem westeuropäischen Land zur Erkämpfung unmittelbar politischer Ziele, für die Durchsetzung des allgemeinen, gleichen Wahlrechts, geführt wurde. Das belgische Proletariat errang einen Teilerfolg.

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