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Rosa Luxemburg 18960330 Brief an Karl Kautsky

Rosa Luxemburg: Brief an Karl Kautsky

[Nach Rosa Luxemburg, Briefe, Band 1, Berlin 1982, S. 82 f.]

Zürich, 30. März 1896

Universitätsstraße 77

Hochgeehrte Redaktion!

Ihr geschätztes Schreiben vom 28. d. M. habe ich gestern erhalten, wartete aber bis heute auf das Manuskript, das Sie gleich mit dem Brief zu schicken beabsichtigten, das jedoch bis jetzt noch nicht gekommen ist. Ich bin, obwohl mit großem Bedauern, bereit, die von Ihnen verlangten Kürzungen vorzunehmen.

Dieses lässt sich aber nicht durch einfache Streichungen machen. Der Artikel bildet ein abgerundetes Ganzes, und ich muss die Lücke, welche durch das Weglassen der Teile II und III notwendig entstehen wird, gewissermaßen ausfüllen, schon um bei dem Leser nicht die Verwunderung darüber zu erwecken, dass ich die Ausführbarkeit eines Programmes behandle, ohne auch mit einem Worte auf dessen Begründung einzugehen, um so mehr, als doch die Ausführbarkeit selbst in dem engsten Zusammenhang mit der Methode der Aufstellung des Programmes steht und ich darum die Frage der Möglichkeit so kurz behandelt habe, weil, wie ich glaubte, für einen Marxisten die Art der Begründung schon zur Hälfte von selbst die Beantwortung dieser Frage bietet. Die Wiederherstellung der Zusammenhänge im Artikel wird also wahrscheinlich ein paar Tage erfordern. – Die anderen Kürzungen, welche Sie auch für nötig erachten, überlasse ich Ihnen, sehr geehrte Redaktion, da ich nicht genau weiß, woran es Ihnen in diesem oder jenem Fall gelegen sein mag. – Eigentlich habe ich von vornherein nicht mehr als auf einundzwanzig Seiten der »Neuen Zeit« gerechnet, denn, soviel ich versuchsweise den Druck der »Neuen Zeit« mit meiner Handschrift verglichen habe, sollte mein Artikel nicht mehr Raum erfordern.

Was Ihre Bemerkungen betreffend den polemischen Teil des Artikels betrifft, so erlaube ich mir, zu meiner Verteidigung anzuführen, dass es eigentlich nicht sowohl meine Kritik in den Teilen II und III als vielmehr die Wiedergabe der kritisierten Stellung selbst ist, die den Eindruck der Polemik hervorruft, infolge der eigenen Naivität dieser Argumentation. Andererseits hat meine Polemik gewiss nichts Persönliches und richtet sich ausschließlich gegen Ansichten. Ich glaubte aber, bei der Kritik einer Richtung vor allem die eigene Argumentation derselben berücksichtigen zu müssen, ohne welche die Kritik notwendig eine unvollständige sein wird. Auch wird die in II und III behandelte Stellung tatsächlich von allen Anhängern der sozialpatriotischen Richtung geteilt und wurde auch in der deutschen und französischen Presse ausgesprochen (siehe Handbuch des Sozialismus, »Le Socialiste«), ohne einer Kritik zu begegnen. –

Die Bedeutung der Veröffentlichung dieses Artikels speziell für die polnische Bewegung würde gerade in der Kritik dieser so sehr verbreiteten Beweisführung liegen, die erst auf den Seiten der »Neuen Zeit« in ihrer ganzen Schwäche erscheinen muss.

Schließlich wollte ich speziell im Interesse der eventuellen Diskussion, die sich entspinnen kann, die für weitere deutsche Kreise weniger wichtige Argumentation von vornherein erledigen, um die Diskussion ausschließlich auf ernstere Seiten der Frage zu konzentrieren.

Trotz alledem erwarte ich das Manuskript, um die erforderlichen Kürzungen daran vorzunehmen – ein anderes vollständiges Exemplar des Manuskriptes habe ich nicht.

Hochachtungsvollst

R. Luxemburg

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