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Rosa Luxemburg 18960700 Die Polnische Frage auf dem Internationalen Kongress in London

Rosa Luxemburg: Die Polnische Frage auf dem

Internationalen Kongress in London

[„Sprawa Robotnicza" Nr. 23, Juli 1896, nach Internationalismus und Klassenkampf, Neuwied und Berlin 1971, S. 142-152]

Vor 32 Jahren, als sich in London die spätere Internationale zum ersten Mal versammelte, eröffnete sie ihre Beratungen mit einem Protest gegen die Unterjochung Polens, das gerade zum dritten Mal vergebens um seine Unabhängigkeit kämpfte. In einigen Wochen wird, ebenfalls in London, der Internationale Arbeiterkongress tagen, dem eine Resolution zugunsten der Unabhängigkeit Polens vorgelegt werden wird. Die Ähnlichkeit der Umstände ruft unwillkürlich den Gedanken hervor, diese beiden Ereignisse im Leben des internationalen Proletariats zu vergleichen.

Es ist ein langer Weg, den das internationale Proletariat in seiner Entwicklung über 32 Jahre hin durchlaufen hat. Der Fortschritt wurde in jeder Beziehung sichtbar, und so manche Seite im Kampf der Arbeiterklasse sieht heute gänzlich anders aus als vor dreißig Jahren. Das wesentliche Element aber der gesamten Entwicklung beruht auf folgendem: Aus einer Sekte von Ideologen wuchsen die Sozialisten zu einer großen handlungsfähigen Partei zusammen. Damals bildeten sie kaum Gruppen, die, isoliert, in jedem Land außerhalb des politischen Lebens standen, heute stellen sie in den größten zivilisierten Ländern den dominierenden Faktor im Leben der Gesellschaft dar, in allen aber ein ernst zu nehmendes Element, mit dem die herrschenden Klassen ebenso wie die Regierungen auf Schritt und Tritt rechnen müssen. Damals ging es gerade um die Festigung des neuen Evangeliums, heute geht es darum, wie der Kampf der riesigen Volksmassen, die vom Evangelium des Sozialismus durchdrungen sind, am besten zum Ziel geführt wird.

Entsprechend änderte sich auch der Charakter der Internationalen Arbeiterkongresse. In ihren Anfängen war die Internationale eher ein Konzil, das zusammenkam, um die elementaren Grundsätze der neuen Bewegung zu formulieren, heute sind es vor allem, und sogar ausschließlich, praktische Beratungen des bewussten Proletariats über die dringendsten Fragen des täglichen Kampfes. Alle Aufgaben und Ziele werden hier dem gestrengen Urteil über die praktischen Möglichkeiten unterworfen, dasjenige aber, wovon sich zeigt, dass es die Kraft des Proletariats übersteigt, wird beiseite gelegt ohne Rücksicht darauf, ob es schön oder ansprechend klingt. Und genau das wird den wichtigsten Unterschied bilden zwischen den diesjährigen Beratungen in den Hallen des heiligen Martin und jenen, die vor 32 Jahren stattfanden, und unter diesem Gesichtspunkt gilt es auch, die dem Kongress vorgelegte Resolution zu prüfen.

Die Resolution zugunsten der Wiederherstellung Polens, die auf dem Londoner Kongress vorgelegt wird, lautet wie folgt: „In Erwägung, dass die Unterjochung einer Nation durch die andere nur im Interesse der Kapitalisten und Despoten liegen kann, für das arbeitende Volk hingegen, sowohl für das der unterdrückten wie auch das der unterdrückenden Nation, gleich verderblich ist; dass besonders das russische Zarentum, das seine inneren Kräfte und seine äußere Bedeutung aus der Unterjochung und Teilung Polens zieht, eine dauernde Gefahr für die Entwicklung der internationalen Arbeiterbewegung bildet, erklärt der Kongress: dass die Unabhängigkeit Polens eine sowohl für die gesamte internationale Arbeiterbewegung wie auch für das polnische Proletariat gleich notwendige politische Forderung bildet."1

Die Unabhängigkeit Polens als politische Forderung wird hier doppelt begründet: zum ersten durch die allgemeine Verderblichkeit von Annexionen für die Interessen des Proletariats, zum anderen durch die eigentümliche Bedeutung der Unterjochung Polens für das russische Zarentum und also, logisch genommen, der Unabhängigkeit Polens für seinen Untergang.

Beginnen wir mit dem zweiten Punkt.

Weder seine innere Kraft, noch seine äußere Bedeutung schöpft das russische Zarentum aus der Unterjochung Polens. Diese Behauptung der Resolution ist von A bis Z falsch. Seine innere Kraft zieht das Zarentum aus den inneren gesellschaftlichen Verhältnissen Russlands selbst. Die historische Grundlage für die russische Allmacht ist die Naturalwirtschaft, die sich auf das archaische Gemeineigentum der Bauern stützt. Die Überreste dieser rückständigen Gesellschaftsstruktur, und wie viele solcher Überreste gibt es noch in Russland, bilden heute, zusammen mit der Gruppierung der übrigen gesellschaftlichen Faktoren, die Grundlage des Zarentums. Den Adel bindet es durch unaufhörliche Geschenke an sich, die mit den Steuern der Bauernschaft bezahlt werden. Zum Wohl der Bourgeoisie wird die Außenpolitik unter dem Gesichtspunkt geführt, neue Absatzmärkte zu erschließen, die Zollpolitik liefert den russischen Verbraucher an die Fabrikanten aus; schließlich steht auch die innere Tätigkeit des Zarentums im Dienste des Kapitalismus: die Einrichtung von Industrieausstellungen, der Bau der sibirischen Eisenbahn und ähnliches mehr – alles im Hinblick auf die Interessen des Kapitalismus. Im Allgemeinen spielt die Bourgeoisie in der Innen- und Außenpolitik des Zarentums eine unverhältnismäßig große Rolle, die sie bei ihrer zahlenmäßigen Geringfügigkeit ohne den Zaren nie zu spielen vermöchte. So also sieht die Kombination der Faktoren aus, aus der das Zarentum seine inneren Kräfte schöpft. So vegetiert es dahin, weil die überalterten Formen noch nicht völlig abgestorben sind und moderne Klassenverhältnisse sich nicht genügend deutlich herauskristallisiert haben.

Seine äußere Macht zieht das Zarentum wiederum nicht aus der Teilung Polens, sondern aus den Besonderheiten des russischen Reiches. Seine ungeheuren Menschenmassen stellen auf Befehl riesige finanzielle und militärische Mittel bereit und erheben es zu einer Macht ersten Ranges in Europa. Dank der riesigen Dimensionen und seiner geographischen Lage gehört Russland zu den Staaten, die an der Orientfrage am meisten interessiert sind und dabei eine beherrschende Rolle spielen; auf der anderen Seite ist Russland Nachbar der englischen Besitzungen in Asien, wodurch es einem unvermeidlichen Konflikt mit England zustrebt. Wie in Asien, so ist Russland in Europa ebenso in die wichtigsten Interessen der europäischen Mächte verwickelt. Besonders im 19. Jahrhundert zieht es seine äußere Macht aus den gerade beginnenden revolutionären Klassenkämpfen, die ihm die Beschützerrolle für die Reaktion in Europa zuweisen.

Vor allem aber, wenn es besonders um die äußere Bedeutung des Zarentums in den letzten Jahrzehnten geht, so gewinnt es sie durchaus nicht aus der Teilung Polens, sondern ausschließlich aus der Annexion Elsass-Lothringens, die Europa in zwei feindliche Lager spaltet, eine beständige Kriegsdrohung enthält und Frankreich in die Arme Russlands treibt. Falsche Prämissen führen zu falschen Folgerungen: als ob durch ein unabhängiges Polen dem Zarentum die innere und äußere Macht entzogen werden könnte. Die Wiederherstellung Polens könnte nur dann den Sturz der Allmacht in Russland nach sich ziehen, wenn sie dort die inneren gesellschaftlichen Grundlagen beseitigte: die Überreste der alten bäuerlichen Wirtschaft und die Beziehungen des Zarentums zu Adel und Bourgeoisie. Das aber ist offensichtlicher Nonsens: ob mit oder ohne Polen – die ganzen Verhältnisse bleiben genauso unverändert. Die Hoffnung, die russische Allmacht mit Hilfe der Wiederherstellung Polens zu brechen, ist ein aus jener Zeit überkommener Anachronismus, als man noch die Vernichtung des Zarentums durch die inneren gesellschaftlichen Kräfte in Russland selbst als unmöglich erachtete. Das damalige Russland, ein Land der Naturalwirtschaft, schien wie alle diese Länder in absolute gesellschaftliche Bewegungslosigkeit versunken. Seit den sechziger Jahren beschritt es jedoch den Weg einer modernen Wirtschaftsentwicklung, und genau die brachte die Lösung der Probleme mit sich.

Zur Unterstützung der kapitalistischen Wirtschaft gezwungen, sägt sich das Zarentum eigenhändig den Ast ab, auf dem es sitzt.

Dank seiner Finanzwirtschaft zerstört es die noch verbliebenen Verhältnisse in der landwirtschaftlichen Gemeinde und entzieht dadurch zugleich den Bauern den Boden für konservative Anschauungsweisen. Und weiter: da die Bauernschaft beraubt wird, unterhöhlt das Zarentum gleichzeitig sein eigenes materielles Fundament und schüttet damit die Quelle zu, aus der es sich die Treue des Adels erkaufte. Schließlich macht sich das Zarentum gewissermaßen eine besondere Aufgabe daraus, den Hauptkonsumenten der Waren zum Schaden der Bourgeoisie zu ruinieren und so die Beutel derjenigen zu leeren, für deren pekuniäre Interessen es die Volksinteressen opferte. Aus einem nützlichen Faktor für die bürgerliche Wirtschaft verwandelt sich der schwerfällige bürokratische Apparat zu ihrer Bremse. Daraus resultiert schließlich ein beschleunigtes Anwachsen des Industrieproletariats, jener gesellschaftlichen Kraft, mit der sich das Zarentum nicht verbünden und der es nicht nachgeben kann, ohne dass es seinen Kopf kostet.

Solcherart sind also die gesellschaftlichen Widersprüche, deren Lösung den Sturz des Absolutismus voraussetzt. Das Zarentum rollt diesem fatalen Augenblick entgegen wie ein Körper auf einer schiefen Ebene. Die Entwicklung des Kapitalismus ist hier jene schiefe Ebene, an deren Ende die eisernen Fäuste der Arbeiterklasse auf das Zarentum warten. Nur der politische Kampf des Proletariats im gesamten russischen Reich vermag diesen Prozess zu beschleunigen. Die Unabhängigkeit Polens hat vergleichsweise wenig zu tun mit dem Untergang des Zarentums, genauso wenig wie die Teilung Polens die Basis seiner Existenz bildet. Kommen wir nun zum ersten Punkt der Resolution:

Die Unterjochung einer Nation durch die andere" so lesen wir „kann nur Despoten und Kapitalisten dienlich sein, dem Proletariat beider Länder hingegen ist sie gleich verderblich."

Auf diesen Satz hin soll die Unabhängigkeit Polens zur unerlässlichen Forderung des Proletariats erhoben werden. Dieser Punkt der Resolution gehört aber zu jenen großen Wahrheiten, die zugleich große Gemeinplätze sind. Aus solchen Gemeinplätzen kann man absolut keine praktischen Schlüsse ziehen. Wenn auf Grund der Behauptung, dass die Unterjochung eines Volkes durch ein anderes nur Despoten und Kapitalisten dienlich sei, geschlossen wird, dass alle Annexionen Unrecht seien oder innerhalb des kapitalistischen Systems beseitigt werden können, so halten wir das für absurd, weil den Grundprinzipien der bestehenden Ordnung überhaupt nicht Rechnung getragen wird.

Es ist erwähnenswert, dass dieser Punkt der Resolution mit der Begründung der bekannten holländischen Resolution fast gleich lautet: „Weil die Unterjochung und Bekämpfung eines Volkes durch ein anderes nur den herrschenden Klassen dienlich sein kann" … soll das Proletariat mit Hilfe von streikendem Militär das Ende des Krieges herbeiführen.2 Beide Resolutionen stützen sich nämlich auf den naiven Glauben, dass es schon ausreiche, eine beliebige Tatsache zu erkennen, die zum Vorteil der Despoten und zum Schaden für das arbeitende Volk ausschlägt, um sie sofort auch zu beseitigen. Die Ähnlichkeit geht noch weiter. Das Schlechte, das ausgemerzt werden soll, ist in beiden Resolutionen im Prinzip das gleiche: die holländische Resolution will zukünftigen Annexionen dadurch Vorbeugen, dass der Krieg beendet wird, die polnische Resolution will durch die Aufhebung der Annexion vergangene Kriege ungeschehen machen. In beiden Fällen geht es darum, dass das Proletariat Krieg und Annexionen innerhalb des Kapitalismus beseitigt, ohne doch den Kapitalismus selbst zu beseitigen, mit dessen Wesen sie eng verknüpft sind.

Wenn schon der angeführte Gemeinplatz nicht imstande ist, einen Grund für die allgemeine Aufhebung von Annexionen anzugeben, so erst recht nicht für die hier vorliegende polnische. Hier gilt es vor allem die konkreten historischen Bedingungen zu beachten, um irgend etwas zu dieser Frage Vorbringen zu können. Über diese Angelegenheit aber, über die Frage, ob und auf welche Weise das Proletariat Polen zu befreien vermag, bewahrt die Resolution tiefes Stillschweigen, In dieser Hinsicht bewegt sich die holländische Resolution auf wesentlich höherem Niveau, indem sie ein bestimmtes Mittel vorschlägt, das geheime militärische Einverständnis, das zumindest ermöglicht, die utopische Seite der Resolution sofort zu erkennen. Die polnische Resolution ist bescheidener und begnügt sich mit einer „Forderung", was aber nicht hindert, dass sie genauso utopisch ist wie die andere.

Auf welche Weise soll das Proletariat einen polnischen Klassenstaat zuwege bringen?

Angesichts der drei Regierungen, die über Polen herrschen, angesichts der Bourgeoisie Kongresspolens, die den Thron in Petersburg umschmeichelt und jeden Gedanken an die Wiederherstellung Polens als Verbrechen und Anschlag auf den eigenen Geldbeutel bewertet, angesichts auch der großen galizischen Landbesitze in der Person des regierenden Badeni, die die Einheit der österreichischen Monarchie, d. h. die Teilung Polens bewahren; angesichts endlich des preußisch-polnischen Junkertums, das für das Militärbudget stimmt, d. h. für die Vermehrung der Bajonette, die die Annexion Polens sichern – was kann das Proletariat in einer solchen Lage unternehmen? Wenn es einen Aufstand macht, so wird dieser blutig niedergeschlagen. Wenn man aber keinen Aufstand macht, kann man überhaupt nichts tun. Denn anders als auf dem Wege des bewaffneten Aufstands kann die Unabhängigkeit Polens natürlich nicht erreicht werden. Denn freiwillig wird sich wohl kaum einer dieser Staaten von seiner Provinz lossagen, die er nun schon 100 Jahre beherrscht. Der Aufstand aber kann unter den gegebenen Bedingungen keine andere Folge haben, als dass das Proletariat zerschlagen wird. Vielleicht aber vermag das internationale Proletariat hier zu helfen? Das aber kann noch weniger bewerkstelligen als das polnische; es kann höchstens seine Sympathie kundtun. Wenn sich aber die ganze Aktion zugunsten der Wiederherstellung Polens ausschließlich auf friedliche Demonstrationen beschränkt, so können die Annexionsstaaten natürlich in aller Ruhe weiter über Polen herrschen. Wenn also das internationale Proletariat wie es die Resolution will die Wiederherstellung Polens zu seiner politischen Forderung macht, so wird dies nur die Kundgabe eines frommen Wunsches sein. Wenn man etwas „fordert", so muss man etwas für die Verwirklichung der Forderung tun. Wenn man aber nichts tun kann, so mag die Leerformel „Forderung" wohl die Luft erschüttern, nicht aber die über Polen herrschenden Staaten.

Die mögliche Annahme der sozialpatriotischen Resolution durch den Internationalen Kongress hätte aber größere Bedeutung, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Vor allem würde sie Beschlüssen vorangegangener Kongresse widersprechen, nämlich denen zur holländischen Resolution über den Militärstreik. Angesichts der völlig gleichartigen Begründung und des im Wesentlichen gleichen Inhalts würde die Annahme der sozialpatriotischen Resolution im Grunde die holländische durch das Hintertürchen wieder einführen. Darauf, wie die polnischen Delegierten, die gegen die Resolution von Nieuwenhuis stimmten, es jetzt über sich bringen, die im wesentlichen identische Resolution vorzulegen, gehen wir nicht ein. Schlimmer wäre es jedenfalls, wenn der gesamte Kongress in ähnlichen Widerspruch mit sich selbst verfiele.

Andererseits wäre die Annahme dieser Resolution von allgemeiner Bedeutung für die polnische Bewegung, einer Bedeutung, von der sich die Delegierten des kommenden Kongresses sicherlich nichts träumen lassen. Seit drei Jahren nämlich – wie ich ausführlich in meinem Aufsatz in der „Neuen Zeit", Nr. 32 und 33 nachwies – kann man in der polnischen Bewegung die Tendenz beobachten, den polnischen Sozialisten ein Programm zur Wiederherstellung Polens aufzuzwingen, sie damit von den deutschen, österreichischen und russischen Genossen zu trennen und in einer nach dem Nationalitätsprinzip organisierten polnischen Partei zu vereinen. Angesichts des utopischen Charakters dieses Programms und des Widerspruchs zwischen diesem und jedem effektiven politischen Kampf, waren die Promotoren dieser Richtung bisher nicht in der Lage, irgendeine Begründung für die geplante nationalistische Änderung der Front vorzulegen, die einer Kritik standhielte. Aus diesem Grund ist man bisher auch ziemlich vorsichtig mit der Offenbarung dieser Tendenz vorgegangen. Während die polnischen Parteien in den preußischen und österreichischen Gebieten bis jetzt den Punkt über die Wiederherstellung Polens nicht in ihre Programme aufgenommen haben, bemühte sich die Vorhut der nationalen Richtung, die Londoner Gruppe unter dem Namen „Związek Zagr. Soc. Pol."3, bei den westeuropäischen Parteien für die neue Richtung Sympathie zu erwecken mit Hilfe besonders der Zeitung „Bulletin Officiel" und unzähliger Artikel. „Das sozialistische Polen", „Das Polen der Arbeiter", „Das demokratische Polen", „Die unabhängige Republik Polen" das alles wurde abwechselnd in polnischer, deutscher und französischer Sprache gepriesen. So also wurde die Aufnahme eines polnischen Klassenstaates in das Programm vorbereitet. Die Krönung dieses ganzen Prozesses soll nun der Londoner Kongress sein. Vor allem durch die Annahme der Resolution wird der nationalistische Standpunkt unter internationaler Flagge eingeschmuggelt. Das internationale Proletariat soll eigenhändig das rote Wahrzeichen an das alte nationalistische Bauwerk kleben und es zum Tempel der Internationalität weihen. Weiter soll diese Sanktion durch die Vertreter des internationalen Proletariats den Mangel an jeglicher wissenschaftlichen Begründung verdecken und den Sozialpatriotismus zur Höhe eines Dogmas erheben, das zu kritisieren folglich verlorene Mühe wäre. Schließlich soll diese Sanktion die polnischen Parteien endgültig ermutigen, das nationalistische Programm anzunehmen und sich nach dem Nationalitätsprinzip zu organisieren.

Und endlich würde die Annahme der sozialpatriotischen Resolution für die sozialistische Bewegung in anderen Ländern einen wichtigen Präzedenzfall darstellen. Was dem einen gut ist, ist dem andern billig. Wenn die nationalstaatliche Befreiung Polens zur politischen Aufgabe des internationalen Proletariats erhoben wird, warum dann nicht auch die der Tschechoslowakei, Irlands und Elsass-Lothringens? Alle diese Aufgaben sind gleichermaßen utopisch und nicht weniger gerechtfertigt als die Befreiung Polens. Und wenn man speziell von der Annexion Elsass-Lothringens spricht, so wäre sogar dessen Befreiung um vieles wichtiger für das internationale Proletariat und zugleich weitaus wahrscheinlicher: hinter dem Elsass und Lothringen stehen vier Millionen französische Bajonette, und in Fragen der bürgerlichen Annexionen sind Bajonette wesentlich wichtiger als moralische Manifestationen. Und weiter, wenn die Polen in den drei Teilgebieten sich nach dem Nationalitätsprinzip für die staatliche Befreiung Polens organisieren, warum sollten dann die übrigen Nationalitäten Österreichs nicht ebenso handeln, warum nicht die Elsässer sich zusammen mit den Franzosen organisieren usw. Mit einem Wort, nationalen Kämpfen und Organisationen ständen Tor und Tür offen. Anstelle der Organisation der Arbeiter gemäß staatspolitischen Gegebenheiten würde man dem Grundsatz der Organisation nach Nationalitäten huldigen, was oft von Anfang an verkehrt läuft. Anstelle von politischen Programmen, die den Klasseninteressen entsprechen, würde man dann nationale Programme aufstellen. Statt eines geschlossenen politischen Kampfes des Proletariats in jedem Staat würde im Prinzip seine Zerstörung durch eine Kette unfruchtbarer nationaler Kämpfe sanktioniert.

Darauf beruht auch die größte Bedeutung der sozialpatriotischen Resolution, falls sie angenommen wird. Am Anfang sagten wir, dass der größte Fortschritt der proletarischen Bewegung seit den Zeiten der Internationale darauf beruht, dass sie aus kleinen Sektierergruppen zur großen handlungsfähigen Partei wurde. Welchem Umstand aber verdankt das Proletariat diesen Fortschritt? Allein dem, dass es sich über das Prinzip des politischen Kampfes als Hauptprinzip seiner Tätigkeit klar wurde. Die alte Internationale musste sich auflösen zugunsten von Parteien, die in jedem Staat den jeweiligen politischen Bedingungen gemäß organisiert waren, ohne dass dabei die Nationalität der Arbeiter berücksichtigt wurde. Erst ein politischer Kampf, der sich nach diesem Prinzip richtet, macht die Arbeiterklasse groß und mächtig. Die diesem Prinzip genau entgegengesetzte Richtung verfolgt die sozialpatriotische Resolution. Ihre Annahme durch den Kongress würde 32jährige Erfahrung und theoretische Ausbildung des Proletariats verleugnen.

Die sozialpatriotische Resolution wurde recht schlau formuliert: hinter dem Protest gegen das Zarentum versteckt sie den Protest gegen die Annexion, denn die Forderung nach der Unabhängigkeit Polens wird sowohl gegenüber Österreich und Preußen wie auch gegenüber Russland erhoben; mit internationalen Interessen sanktioniert sie nationalistische Tendenzen; mit einer mehr oder weniger moralischen Manifestation versucht sie eine Bürgschaft für ein praktisches Programm zu erlangen. Aber die Schwäche ihrer Begründung ist noch größer als die Schlauheit ihrer Formulierung: der Gemeinplatz über die Verderblichkeit von Annexionen und der Unsinn von der Bedeutung Polens für das Zarentum – das ist aber auch alles, was diese Resolution zu liefern imstande ist.

1 Der Text der Resolution ist weder im englischen noch im deutschen Kongressprotokoll enthalten. Er wird hier in der Fassung wiedergegeben, die Rosa Luxemburg in ihrem Aufsatz „Der Sozialpatriotismus in Polen" in der „Neuen Zeit" bringt.

2 Rosa Luxemburg bezieht sich auf einen holländischen Resolutionsentwurf auf dem Internationalen Sozialistenkongress 1893 in Zürich, Er wurde zugunsten einer deutschen Resolution zum gleichen Thema abgelehnt. Vgl. „Protokoll des Internationalen Sozialistischen Arbeiterkongresses in der Tonhalle Zürich vom 6. bis 12. August 1893" Zürich 1894 S. 25.

3 „Auslandsverband polnischer Sozialisten".

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