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Rosa Luxemburg 18931117 Brief an Boris N. Kritschewski

Rosa Luxemburg: Brief an Boris N. Kritschewski

[Nach Rosa Luxemburg, Gesammelte Briefe, Band 6, Berlin 1993, S. 18-20]

[Zürich, 17. November 1893]

Werter Genosse!

Nochmals herzlichen Dank! Der Artikel – das muss Ihnen der Neid lassen – ist großartig. Man merkt, dass Sie keine Mühe gescheut haben. Ein kleines bisschen schade ist nur, dass er wegen Ihrer Gewissenhaftigkeit – scheint mir – weniger populär sein wird als die früheren Rundschauen. Ich habe einfach oberflächlicher geschrieben, aber gerade deshalb waren sie leichter verständlich. Wahr ist aber auch, dass etwas polnisch [Geschriebenes] überhaupt populärer wird als russisch.

Und jetzt zum großen Kummer! Was soll man machen, lieber Kritschewski? Sie haben ganz streng verboten zu kürzen, und auch ich selber war bestrebt, nicht ein Wörtchen darin zu verändern, einfach schade. Aber – vous debordez!1 Einfach gesagt, Sie fallen aus dem Rahmen der Zeitung. Hören Sie, Sie beliebten 30 volle Seiten zu schreiben, mit den Resolutionen sind es 33. Ich machte mich ans Übersetzen und heraus kommen drei kleine bei mir von zwei der Ihrigen, genau. Das bedeutet, von meinen kleinen Seiten kommen insgesamt 50! heraus. Auf eine große Spalte (nicht über dem Feuilleton) und in kleiner Schrift kommen bei uns von meinen solchen kleinen Seiten fünf, das wissen wir schon ganz genau aus Erfahrung und durch Auszählen. So braucht Ihr Artikel bei uns zehn große Spalten in kleiner Schrift! Indessen hat bei uns die Zeitung (in dieser Nr.) ohne Feuilleton insgesamt 21½ Spalten. So würde die Auslandsübersicht die ganze Hälfte der Nummer ausmachen. Ich wende mich nun schweren Herzens an Sie um Rat – was tun? Rat muss doch geschaffen werden. Ich bin davon überzeugt, Sie möchten nicht, dass die Hälfte der Nummer dem Ausland gewidmet wird. Ja, was sage ich da! Ich habe vergessen, Ihnen zu sagen, dass in derselben Nummer unbedingt untergebracht werden müssen 1) wenigstens ein kurzer Bericht über den Verlauf der Bergarbeiterstreiks (dafür liegt uns eine direkte Forderung aus dem Lande vor) und 2) ein ebensolcher Bericht über die Züricher Fachkongresse im August, für die wir immer noch keinen Platz gefunden haben. Nun, ich werde mich mit bescheidenen drei Spalten für beide Berichte zufriedengeben. Trotzdem macht das zusammen mit Ihrem Artikel 13 Spalten allein über das Ausland aus, bei 21 Spalten der ganzen Zeitung! Die Proportion ist etwas unproportional, nicht wahr? Dann mussten wir noch »Co słychać w Rossji?«2 herausnehmen – eine Rubrik, die nach unserem Entschluss in jeder zweiten Nummer Platz finden sollte und die wir bereits in zwei Nummern weggelassen haben. Ich aber halte diese Rubrik für uns für sehr wichtig, und Sie wahrscheinlich auch. Schließlich sollte diese ganze Nummer lediglich aus der Ausl[ands]rundschau, dem Leitartikel, der inner[politischen] Rundschau und diesen zwei kleinen Berichten bestehen. Oder aber man müsste den Artikel über die Gesetzgebung zur Frauen- und Kinderarbeit, da er bereits völlig fertiggestellt ist, auch noch unbedingt hineinnehmen, nicht wahr, aber zu allem Unglück ist auch der auf fünf Spalten ausgewachsen, die ganze Nr. würde so aus nur vier Artikeln bestehen, d. h. sie würde schrecklich eintönig und schwer werden; dabei wären der Artikel über Russland und die zwei Berichte für die Katz. – Mir scheint, dass ich Sie mit meinen Argumenten stärker niedergeschmettert habe als Lassalle seinen Staatsanwalt und dass Sie erlauben müssen, bestimmte Kürzungen vorzunehmen. Aber welche? Gr meint, und ich bin letzten Endes einverstanden, dass man am ehesten die Franzosen ganz herausnehmen und den Bericht über den deutschen Kongress etwas kürzen sollte, eventuell über den Antisemitismus, was uns nicht sehr betrifft. Was denken Sie? Schreiben Sie, bitte. Ich warte und übersetze einstweilen den österreichischen Teil. Ich werde überhaupt fast wörtlich übersetzen.

Ich warte auf eine möglichst baldige Antwort. Mir selbst tut es schrecklich leid, diesen Artikel so zu kürzen, aber aus meinen Argumenten können Sie sehen, dass wir schon hin und her gerechnet haben, wie ein Schneider, der nicht ausreichend Stoff hat, aber wie Sie sehen, geht es auf keinen Fall gut aus. Helfen Sie doch selbst, lieber Doktor, schaffen Sie Rat!

Und ich habe gerade heute den Artikel über die Frauen und Kinder beendet und bin mit ihm zufrieden. Ich hoffe, er wird Ihnen gefallen. – Schreiben Sie schnell!

Ich drücke Ihnen und Fenja herzlich die Hände und umarme Rainka.

Ihre R.

Und der »Vorwärts« schickt die Briefe weder ab, noch druckt er sie!

[Randbemerkung von Leo Jogiches:]

Ich schließe mich dem Gruß an. Dieser Tage werde ich schreiben. Von I. gibt es keine Nachrichten. Ich warte auf die Übersetzung.

Gros

1 Sie ufern aus!

2 »Was hört man in Russland?«

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