Die politischen Interessen Russlands in Polen

4. Die politischen Interessen Russlands in Polen

Trotzdem die im vorhergehenden behandelten ökonomischen Verhältnisse zwischen Russland und Polen unzweifelhaft das Hauptmoment in der Gestaltung der ökonomischen Politik Russlands Polen gegenüber bilden, so wäre es doch einseitig, dieselbe einzig und allein von den Interessen der russischen Bourgeoisie bestimmen lassen zu wollen. Die absolute Regierung Russlands ist einstweilen mehr als die jedes Landes in der Lage, auch eigene politische Interessen, ihre Herrschaftsinteressen, zur Geltung zu bringen. In dieser Beziehung hat sich aber kraft historischer Umstände zwischen der russischen Regierung und der polnischen industriellen Bourgeoisie ein ganz eigenartiges Verhältnis herausgebildet. Es ist leicht einzusehen, dass das Interesse des Absolutismus in Bezug auf Polen vor allem auf Beibehaltung und Befestigung der Annexion ausging. Das Hauptaugenmerk Russlands seit dem Wiener Kongress richtete sich daher beharrlich auf die Unterdrückung aller Spuren der nationalen Opposition in Polen und speziell derjenigen gesellschaftlichen Klasse, welche als Trägerin der Opposition auftrat, des Adels. Bei dieser Bestrebung erblickte nun der russische Absolutismus einen erwünschten Verbündeten in der polnischen industriellen Bourgeoisie. Polen durch materielle Interessen an Russland zu binden und in einer bereits unter den Fittichen des russischen Adlers entstandenen Kapitalistenklasse, welche durch keine Tradition der Vergangenheit national, wohl aber durch Interessen ihrer Zukunft servil gesinnt wäre, das Gegengewicht gegen die nationale Gärung des Adels zu schaffen – das war der Zweck der russischen Politik, den sie mit gewohnter eiserner Konsequenz verfolgte. Man muss ihr zugeben, dass sie sich in der Wahl der Mittel nicht geirrt und die Natur der polnischen Bourgeoisie richtig heraus gefühlt hatte. Kaum war die Manufaktur in Polen aufgekeimt und kaum hatte sie von dem Honig der russischen Absatzmärkte gekostet, als sich schon das polnische Unternehmertum zu der historischen Mission reif fühlte, als Stütze der russischen Annexion in Polen zu dienen. Schon im Jahre 1826 wurde der polnische Finanzminister Drucki-Lubecki nach St. Petersburg abgeordnet mit der untertänigsten Bitte, die Zollgrenze zwischen Polen und Russland ganz abzuschaffen, „da ja beide Länder ein einziges Ganzes bilden und Polen zu Russland gehöre"A. In dieser Erklärung war bereits bündig das ganze politische Programm der polnischen Bourgeoisie ausgesprochen: die völlige Verzichtleistung auf die nationale Freiheit für das Linsengericht der russischen Absatzmärkte. Seitdem hörte die russische Regierung nie auf, die polnische Bourgeoisie zu unterstützen. Wir haben die lange Reihe von Gesetzen angeführt, welche seit den zwanziger Jahren zur Begünstigung der industriellen Kolonisation und der Entwickelung der Manufaktur in Polen erlassen wurden, den „eisernen Fonds" zur Unterstützung der Industrie, die Gründung der mit allen denkbaren Privilegien ausgestatteten Polnischen Bank etc. etc.

Die Politik wurde aufs Energischste in der späteren Zeit aufrechterhalten, noch zur Zeit Nikolaus' I. sehen wir die russische Regierung neue Verordnungen in derselben Richtung erlassen. Nichts wurde unterlassen, was das adelige, rebellische Polen in ein kapitalistisches, zahmes Polen verwandeln konnte. Und die polnische Bourgeoisie zeigte, dass sie ein dankbares Herz besitzt, denn nie hörte sie auf, die nationalen Regungen in Polen nach Kräften zu durchkreuzen und zu verraten, wofür namentlich ihre schmachvolle Haltung in den polnischen Aufständen genügend Zeugnis ablegt. Den wichtigsten Markstein in dieser Richtung der russischen Politik bildete die Abschaffung der russisch-polnischen Zollgrenze im Jahre 1851. Ein mit den einschlägigen Archiven der russischen Regierung durchaus vertrauter Historiker und der beste Kenner der Geschichte des russischen Zolltarifs, der Russe Lodyschenski, schreibt darüber:

Die Aufhebung der Zolllinie zwischen dem Reiche und dem Königreiche wurde hauptsächlich durch Motive politischen Charakters hervorgerufen. Bekanntlich begann in den vierziger Jahren dieses Jahrhunderts in Europa eine geistige Gärung teils nationalen, teils sozialistischen Charakters. Diese Gärung, welche sich auch der Bevölkerung Russisch-Polens mitgeteilt hatte, beunruhigte bis zu einem gewissen Grade die russische Regierung und bewog sie, nach Mitteln zu suchen, um Polen möglichst fest mit Russland zu vereinigen. Eine der Hauptursachen, welche die Annäherung der beiden Länder verhinderten, war ihre ökonomische Absonderung."B Um also diese „Absonderung" zu beseitigen, um Polen durch die materiellen Interessen seiner Bourgeoisie an Russland zu fesseln, wurde die Zollgrenze abgeschafft. Auf demselben Standpunkte steht die russische Regierung auch noch heute und begrüßt immer noch den wachsenden polnischen Absatz in Russland als diejenige Kette, die das annektierte Land am festesten an das Reich schmiedet. So schreibt Mendelejew in seinem Vorwort zum offiziellen Bericht über die russische Industrie zur Chicagoer Weltausstellung vom Jahre 1893: „Die Erzeugnisse dieser und vieler anderer polnischer Fabriken finden einen stets wachsenden Absatz in ganz Russland. Auf dem Wege des Wettkampfes dieses Industrierayons mit dem Moskauer Rayon wird einerseits der Grundzweck der protektionistischen Politik Russlands, anderseits diejenige Assimilierung Polens mit Russland erreicht, welche den friedlichen Absichten des russischen Volkes (lies: der russischen Regierung) entspricht.C – Die bezeichnete spezielle Rolle, welche die polnische Bourgeoisie der russischen Regierung gegenüber als Bollwerk der Annexion spielt, gibt auch wichtige Aufschlüsse über die behandelte Hauptfrage, d. h. die Zukunft des polnischen Kapitalismus. Es gehört in der Tat eine enorme Dosis von Naivität dazu, um der russischen Regierung, welche sich geradezu zur Aufgabe gemacht hat, in Polen den Kapitalismus zu kultivieren, und hierfür mehr als ein halbes Jahrhundert lang alle Hebel in Bewegung setzte, die Absicht zuzumuten, nun auf einmal denselben Kapitalismus wieder vernichten, die polnische Bourgeoisie zur Opposition treiben und so das Werk eigener Hände mutwillig zerstören zu wollen. Und zwar einzig und allein dem Moskauer Unternehmertum zuliebe, für dessen Wehklagen und Zetern sie ein halbes Jahrhundert lang taube Ohren hatte! Die russische Regierung weiß leider ihre Herrschaftsinteressen besser zu wahren. Welche diese Interessen in Bezug auf Polen sind, wissen wir aus dem Munde ihres Vertreters: das ist „die friedliche Assimilierung" Polens mit Russland, d. h. die Befestigung seiner Herrschaft in Polen um jeden Preis. Diese Erklärung wurde 1893 abgegeben, also lange nachdem der vermeintliche neue Kurs in der russischen Politik begonnen haben sollte.

Die beste Bestätigung unserer Auffassung liefert die neueste Geschichte der Beziehungen Russlands zu Finnland. Wir finden hier im kleinen Maßstab eine genaue Wiederholung der einstigen russischen Politik in Polen. Finnland bleibt bis jetzt durch eine Zollgrenze vom Zarenreich getrennt und treibt dem Auslande gegenüber eine selbständige, und zwar viel liberalere Zollpolitik als Russland. Der finnländischen Industrie kommen beinahe alle die Vorteile zugute, welche bereits der polnischen zur Blüte verholfen haben. Auch haben die finnländischen Erzeugnisse, besonders die der Metallindustrie, dank u. a. dem niedrigeren Zolltarif an der russisch-finnländischen Grenze als an den übrigen russischen Grenzen, in Russland Eingang gefunden, wo sie der einheimischen Industrie eine arge Konkurrenz bereiten. Die russischen Unternehmer, denen dies ein Dorn im Auge ist, versäumten selbstverständlich nicht, eine „alleruntertänigste" Aktion zum Schutze der „vaterländischen" Industrie gegen die „fremden" Rivalen – ganz wie seinerzeit gegen Polen – in Szene zu setzen. Die Regierung hat auch unter ihrem Druck die Zölle gegen Finnland als ein ökonomisch fremdes, weil zollpolitisch selbständiges Gebiet zweimal – 1885 und 1897 – erhöht.

Würde nun die russische Regierung die Interessen dieser oder jener Unternehmergruppe dauernd zur Richtschnur ihrer ökonomischen Politik den anderssprachigen Reichsteilen gegenüber machen, so müsste sie konsequenterweise auf diesem Wege fortfahren, um Finnland durch eine chinesische Mauer von Russland abzuschneiden. Allein das gerade Gegenteil ist tatsächlich der Fall. Die Regierung hat bereits für das Jahr 1903 die gänzliche Aufhebung der russisch-finnländischen Zollgrenze und die Aufnahme Finnlands in das reichsrussische Zollgebiet angeordnet. Die „vaterländische" Industrie wird somit der unbeschränkten Konkurrenz der „fremden" ausgesetzt. Und wenn dies nicht schon früher geschehen ist, so sind daran wiederum nicht Rücksichten auf das Zetern einiger russischer Hüttenbesitzer schuld, sondern der Handelsvertrag mit Deutschland, wodurch sich das Zarenreich auf eine Reihe von Jahren gebunden hat. Es ist klar, dass die bevorstehende Reform den Anfang vom Ende der finnländischen Selbständigkeit in politischer Beziehung bedeutet, wenn sie auch vor allem auf die Vernichtung seiner ökonomischen Selbständigkeit ausgeht. Wir haben hier wieder vor uns ein Stück der allgemeinen Politik des Zarismus, der sich über alle partiellen Interessen hinwegsetzt, um die verschiedenen Reichsteile einerseits durch das Russifizierungssystem geistig zu nivellieren, andererseits durch die ökonomische Zusammenschweißung derselben der Reichseinheit ein festes materielles Gefüge zu geben und das Ganze in den eisernen Klammern der Alleinherrschaft zusammenzupressen – eine Politik, die wir bereits in Polen kennengelernt haben.

Freilich geht nicht alles in der Welt nach dem Wunsche der Regierenden. Indem die russische Regierung Polen ökonomisch dem Reiche einverleibt und den Kapitalismus als ein „Gegengift" der nationalen Opposition kultiviert, zieht sie eben dadurch in Polen eine neue Gesellschaftsklasse – das industrielle Proletariat – groß, eine Klasse, welche ihrer ganzen Lage nach dazu getrieben wird, zum ernsten Gegner des absoluten Regimes zu werden. Und wenn auch die Opposition des Proletariats nicht einen nationalen Charakter haben kann, so kann sie unter Umständen nur um so wirksamer werden, da sie eben die von der Regierung so erwünschte Solidarität der polnischen und der russischen Bourgeoisie logischerweise mit einer politischen Solidarität des polnischen und des russischen Proletariats beantworten wird.D Diese ferneren Konsequenzen ihrer Politik können aber die russische Regierung nicht von ihrem heutigen Wege abbringen; einstweilen sieht sie in der kapitalistischen Entwicklung Polens nur die Klasse der Bourgeoisie. Solange Russland deshalb seine Herrschaft über Polen aufrechtzuerhalten sucht, solange wird auch der industrielle Flor in Polen im Programm der Regierung geschrieben stehen. Diejenigen also, die eine auf die ökonomische Absonderung Polens gerichtete Regierungspolitik gewärtigen, nehmen für Zukunftserscheinungen, was zur Vergangenheit gehört, und ihre ungenügende Kenntnis der bisherigen Geschichte für tiefere Einsicht in die zukünftige.

A K. Lodyschenski, l. c, S. 220.

B I. c., S. 245.

C Die Fabrikindustrie Russlands, Einleitung, S. 29.

D Diese Seite der Frage, mit der wir uns hier nicht näher befassen können, haben wir eingehender im Zusammenhang mit der politischen Entwicklung der polnischen Gesellschaft behandelt in den Aufsätzen: Der Sozialpatriotismus in Polen. In: Neue Zeit (Stuttgart), 1895/96, Nr. 41; Von Stufe zu Stufe. Zur Geschichte der bürgerlichen Klassen in Polen, l. c, 1897/98, Nr. 6 und La questione polacca al Congresso internazionale di Londra, „Critica Sociale", Revista quindicinale del Socialismo Scientifico (Mailand), 1896, Nr. 14.

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