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Rosa Luxemburg 19010515 Eine unerwartete Enthüllung zum Falle Millerand

Rosa Luxemburg: Eine unerwartete Enthüllung zum Falle Millerand

[Die Neue Zeit (Stuttgart), 19. Jg. 1900/01, Zweiter Band, Heft 33 (15. Mai 1901) S. 218-220, Rubrik „Notizen“, verglichen mit der Wiedergabe in Gesammelte Werke, Band 6, Berlin 2014, S. 322-324]

erregt soeben in Frankreich allgemeines Aufsehen. In Nancy, auf einem großen Progressistentag, hat am 12. Mai der gewesene Unterrichtsminister Raymond Poincaré eine Programmrede gehalten, in der er unter anderem auch die Vorgeschichte der Konstituierung des Kabinetts Waldeck-Rousseau, wie sie sich hinter den parlamentarischen Kulissen abgespielt hat, in allen Details erzählt. Poincaré war bekanntlich im Juni 1899 nach dem Fall des Kabinetts Brisson mit der Bildung eines neuen betraut worden, und erst als sich die Bemühungen Poincarés zerschlagen hatten, trat Waldeck-Rousseau auf die Bühne. Poincaré, der selbst zur Progessistischen Union gehört, das heißt zu einer Fraktion, deren Führer die Reaktionäre Dupuy, Ribot und Méline sind, wollte, erzählt er, ein Kabinett der republikanischen Konzentration bilden und lud zu diesem Zwecke die Radikalen Sarrien und Bourgeois von der Linken, den Opportunisten Barthou von der Rechten ein. Dann aber gibt er folgende Darstellung der Dinge:

Andererseits, am Nachmittag des Freitags, am 16. Juni, kam zu mir einer der hervorragendsten Führer der sozialistischen Partei, Herr Millerand, und in Anwesenheit meines Freundes Grosdidier, des Bürgermeisters von Commentry, den ich in diesem Augenblick hier vor mir sehe und der an jenem Tage in meinem Kabinett saß, sagte er mir ganz offen und ehrlich, dass angesichts des Ernstes der Krise seine Freunde einen Anteil an der Aktion und der Gefahr für sich forderten. Er erklärte mir, dass er es für unbedingt notwendig halte, dass bei der Bildung des Kabinetts an alle republikanischen Kräfte appelliert werde, inbegriffen die Sozialisten, und er schlug mir den Herrn Viviani vor."

Poincaré war jedoch einer anderen Meinung in Bezug auf die Elemente, die zur Bildung des Ministeriums herangezogen werden sollten, und er antwortete Millerand ausdrücklich, dass er unter keinen Umständen die vorgeschlagene Kombination befürworten werde.

Die Enthüllungen Poincarés werfen ein ganz neues Licht auf die Rolle Millerands in der Krise des Jahres 1899. Bis jetzt stellten seine Freunde die Sache so dar, dass Millerand nur „der Not gehorchend, nicht dem inneren Triebe" sich zur Übernahme des Portefeuilles entschlossen, ja, dass er gerade damit die Republik gerettet habe, weil ohne ihn ein radikales, ehrlich republikanisches Ministerium gar nicht zustande gekommen wäre. Nun stellt es sich heraus, dass Millerand auch ohne diesen außerordentlichen Zwang zu haben war, ja dass er sich selbst eifrig anbot – denn das Angebot im Namen Vivianis war selbstverständlich nur eine verblümte Form des Angebots der eigenen werten Person Millerands. Bei der bekannten Lauterkeit und Großzügigkeit des Charakters Vivianis ist es von vornherein ausgeschlossen, dass er irgendwie an dem ministeriellen Techtelmechtel Millerands mit den Progressisten beteiligt war.

Es erfolgt daraus noch ein Zweites. Bis jetzt hieß es, die Teilnahme Millerands am Ministerium Waldeck-Rousseau und die Erhaltung dieses Ministeriums am Ruder sei dringend nötig und selbst mit der Preisgabe des eigenen Programms nicht zu teuer erkauft, da sonst die Gefahr eines Kabinetts Méline drohe. Aber Millerand war, wie es sich zeigt, bereit, ebenso gut an einem Kabinett der mélinistischen Fraktion teilzunehmen, wie am radikalen. Ja, er bettelte gerade um diese Ehre, und nur der Fußtritt Poincarés hat vielleicht den „sozialistischen Minister" davor bewahrt, ein Progressistenkabinett zusammen mit dem Reaktionär Barthou zu schmücken. Man denke nur, dass auf diese Weise um ein Haar die Entstehung der ganzen Theorie von der radikal-sozialistischen Allianz gegen die mélinistische Reaktion, die Entstehung der „neuen Methode" des Sozialismus vereitelt worden wäre!

Und endlich noch ein Drittes. Die langen Auseinandersetzungen von neulich darüber, ob Millerand seine Genossen von seinem bevorstehenden Eintritt in das Kabinett Waldeck-Rousseau in genügender Weise benachrichtigt und um Ermächtigung ersucht hatte, werden durch die Erklärungen Poincarés kurz abgeschnitten. Jetzt sieht man, dass, bevor noch Waldeck-Rousseau selbst an ein Ministerium dachte, Millerand sich um das Portefeuille bewarb, ja, dass er „im Namen seiner Freunde" den Anteil an einem progressistischen Kabinett forderte – während „seine Freunde", das heißt die sozialistischen Parteien und die Kammerfraktion, bis zu dem Tage, wo Poincaré sprach, also zum 12. Mai dieses Jahres, nicht die geringste Ahnung von seinen Unterhandlungen mit diesem hatten und nur von seinen Unterhandlungen mit Waldeck-Rousseau einige Tage nach der hier beschriebenen Szene jene ersten lakonischen Mitteilungen in der Fraktionssitzung erhielten! Vielleicht werden wenigstens diese vernichtenden Enthüllungen eines bürgerlichen Exministers jenen freiwilligen Anwalt Millerands etwas ernüchtern, der neulich im „Vorwärts" sich in seinem Eifer so weit hinreißen ließ, erst die Antwort Jaurès' auf die Erklärungen Vaillants sofort abzudrucken, während von den Vaillantschen Erklärungen, die bereits im Februar erschienen waren, auch nicht mit einem Worte im „Vorwärts" Notiz genommen wurde, sodann die Duplik Vaillants in verstümmelter Form und mit unberufenen Kommentaren abzudrucken, so dass sie gegen die eigenen Behauptungen Vaillants zeugen sollte. Hoffentlich wissen unsere Freunde in Frankreich, dass solche Entgleisungen mehr mit der schlechten Informiertheit einzelner und durchaus nicht mit den Meinungen unserer Partei über die französischen Parteiverhältnisse zusammenhängen.

Die Rede Poincarés ist jedenfalls ein wichtiger Beitrag zur Beurteilung des Falles Millerand. Eine Ableugnung ist ganz unmöglich, bei den Freunden des „sozialistischen Ministers" ist denn auch die Verlegenheit ersichtlich groß…

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