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Rosa Luxemburg 19050530 Die Debatten in Köln

Rosa Luxemburg: Die Debatten in Köln

Sächsische Arbeiter-Zeitung (Dresden), I: Nr. 123, 30. Mai 1905, II: 31. Mai 1905. Nach Marxist Internet Archive, korrigiert nach Nach Gesammelte Werke Band 1/2, 1970, S. 580-586]

I.

Der Kölner Gewerkschaftskongress bietet in mancherlei Hinsicht zum Nachdenken, wir möchten beinahe sagen zu Bedenken reichlichen Stoff. Die Debatten in Köln haben zweifellos mehr als praktische und aktuelle, sie haben symptomatische Bedeutung und müssen von diesem Gesichtspunkte als Äußerungen gewisser allgemeiner Strömungen in weiten Kreisen unserer Arbeiterschaft betrachtet werden. In dieser Hinsicht ist aber die Generalstreikdebatte geradezu typisch für den Geist, für das Niveau, für die Richtung der tonangebenden Kreise unserer Gewerkschaften.

Um das Nötige vorwegzunehmen: Der Beschluss, der den politischen Massenstreik verwirft und die „Propagierung“ dieses Kampfmittels verbietet, kann die ernsten Verfechter der Idee des Generalstreiks außerordentlich kühl lassen. Wir haben nie viel von der „Propagierung“ dieser Idee gehalten, zumal die Fürsprache unserer bisherigen zwei Spezial““, der Genossen Friedeberg und Bernstein, mehr dazu angetan war, die Idee zu veralbern, als sie zu verbreiten, und man darf auch annehmen, dass gerade die Propaganda dieser beiden guten Menschen und schlechten Musikanten an ihrem Teilchen etwas dazu beigetragen hat, den Beschluss in Köln herbeizuführen. Der politische Massenstreik wird in einem gewissen Stadium des Klassenkampfes ebenso wenig durch ablehnende Kongressbeschlüsse verhindert, wie er durch das langweilige Hausieren mit dieser Idee in abstrakter Form herbeigeführt wird, wo die objektiven Bedingungen dafür fehlen. Der Massenstreik als politisches Kampfmittel ist eben ein geschichtliches Produkt des Klassenkampfes, das genau so wie die Revolution weder auf Kommando „gemacht“, noch auf Kommando „abgelehnt“ werden kann. Und das einzige, was die Partei des bewussten Klassenkampfes, das heißt die Sozialdemokratie, und auch die Gewerkschaften, insofern sie auf dem Boden des modernen Klassenkampfes stehen, dabei „aus freien Stücken“ tun können, ist – sich eben über die geschichtlichen, sozialen, politischen Bedingungen im Voraus klarzuwerden zu suchen, die das Aufkommen solcher Formen des Klassenkampfes notwendig machen, um die Entwicklung bewusst mitzumachen und an ihrer Spitze in der als geschichtlich notwendig erkannten Richtung zu marschieren.

Es war auch bis jetzt nur der Vorzug der bürgerlichen Reaktion, der angenehmen Illusion zu leben, dass solche historische Massenerscheinungen, wie die Revolution oder der Generalstreik, von den Aufwieglern aus purer Bosheit „gemacht“ werden, folgerichtig also auch bei wachsender „Einsicht“ verworfen werden können. Diese bornierte und in ihrem innersten Kern stockreaktionäre Auffassung, die im striktesten Gegensatz zu den Grundlehren des modernen, wissenschaftlichen Sozialismus steht, wurde bekanntlich in die Kreise der Sozialdemokratie durch die Bernsteinsche Richtung verschleppt, die es in ihrer Naivität für möglich hielt, plötzlich zu erklären, die Idee der Revolution sei ein überflüssiges Rudiment aus der Zeit der sozialdemokratischen Barbarei, das nun zivilisierteren, gesetzlichen Kampfmethoden Platz machen könne.

Und genau in denselben Gedankenbahnen bewegt sich die von Bömelburg vorgetragene Auffassung vom Generalstreik und die aus ihr geborene scharfe Absage an die „Propagierung“ dieser Idee. Nebenbei gesagt: die Bömelburgsche Resolution verwirft wohlgemerkt nicht nur die Anwendung des Generalstreiks selbst, sondern auch die Propaganda, also die Erörterung, dieser Frage, den Meinungsaustausch darüber. Bezeichnend ist, dass dieser merkwürdige Beschluss diesmal gerade aus der Auffassung und Richtung geboren wurde, die mit jener nahe verwandt ist, welche nicht laut genug über die Unterbindung der „freien Meinungsäußerung“ und der „Freiheit der wissenschaftlichen Forschung“ in der Sozialdemokratie klagen kann. Der eingebildete, aus freien Stücken ad usum delphini (für die Unmündigen) erdichtete Meinungsterrorismus der Partei hat ganze Entrüstungsstürme in den opportunistischen Kreisen entfesselt. Nun wird das erste Beispiel eines wirklichen Kongressbeschlusses, der formell eine gewisse Meinungsäußerung verbietet, das erste Beispiel, das unsere Arbeiterbewegung kennt –, mit derselben Argumentation durchgesetzt, die sich über die lästigen „Literaten“ beklagt, über die Stürmer und Dränger lustig macht. Wir wollen sehen, ob sich die Schildknappen der „bedrückten Meinungsfreiheit“ in den Reihen der Sozialdemokratie –, die Heine, David und Genossen –, diesmal zu einem Feldzug aufraffen, wo ihrer Schutzbefohlenen wirklich ein Leides angetan worden ...

Und doch, während die „freie Forschung“ Bernsteins seinerzeit in Wirklichkeit nur ein unleidliches steriles Wiederholen war, dessen Urheber, „als wie ein Tier im Kreis herumgeführt“, die Partei immer wieder nur auf dieselbe äußerst „dürre theoretische Heide“ seiner Zweifel führte, bietet die Frage des politischen Massenstreiks ein ganz neues fruchtbares Feld sozialer und historischer Erkenntnis, ein Gebiet, das mit allem Ernst theoretisch wie geschichtlich erst der Arbeiterschaft erschlossen werden muss Und wenn irgend etwas die dringende Notwendigkeit der wissenschaftlichen Erörterungen der Frage des Massenstreiks schlagend bewiesen hat, wenn irgend etwas im schreienden Widerspruch zu dem ablehnenden Beschluss des Kölner Kongresses steht, so ist es – die eigene Argumentation des Referenten, wie der Wortführer dieses Beschlusses. Nicht in dem Beschluss selbst, der gar keine praktische Bedeutung – weder für die Anwendung des Massenstreiks, noch auch für die Diskutierung desselben – haben wird, sondern in der Argumentation und dem Niveau der Debatte, womit er begleitet war, liegt, wohlgemerkt, der Schwerpunkt der Kölner Stellungnahme in dieser Frage. Diese Debatte ist nebst derjenigen über die Maifeier ein „Zeichen der Zeit“ von nicht zu verkennender Deutlichkeit.

II.

Seit sich die internationale Sozialdemokratie mit der Frage des Massenstreiks befasst, ist die erste Grundlage der Erörterungen auf diesem Boden, der Ausgangspunkt geradezu aller Diskussionen: die Unterscheidung einerseits des gewerkschaftlichen Generalstreiks vom politischen und andererseits der anarchistischen Auffassung des politischen Generalstreiks von der sozialdemokratischen Auffassung. Die Unterscheidung dieser Grundtypen des Massenstreiks ist nicht nur theoretisch unerlässlich, sondern historisch begründet, indem die internationale Arbeiterbewegung bereits Experimente jeder dieser Arten mit verschiedensten Ergebnissen – gezeitigt hat. Sie durcheinander werfen ist theoretisch wie praktisch ungefähr dasselbe, wie wenn man – in gewerkschaftlichen Dingen –, wie dies z. B. bürgerliche Professoren tun, die Arbeiterkoalitionen und die Unternehmerverbände als eine und dieselbe Kategorie der „Interessenvertretungen“ identifizieren wollte. Wer den gewerkschaftlichen Generalstreik vom politischen und den anarchistischen vom sozialdemokratischen nicht unterscheiden kann, wer keinen Unterschied zwischen der Idee wirtschaftlicher Sympathiestreiks zur Unterstützung eines bestimmten einzelnen Lohnkampfes und der allgemeinen politischen Massenerhebung der Arbeiterschaft zur Erkämpfung gemeinsamer politischer Rechte erblickt, wer den belgischen Generalstreik des Jahres 1893 zur Erringung des allgemeinen gleichen Wahlrechts oder die heutigen Generalstreiks in Russland von der hirnverbrannten Idee à la Bakunin-Nieuwenhuis, durch einen aus der Pistole geschossenen Generalstreik die sozialistische Ordnung einzuführen, nicht zu unterscheiden vermag, der zeigt eben, dass er von der ganzen Sache nicht das Abc versteht, und mit dem diskutiert man nicht, sondern man kann ihm höchstens raten: lerne erst etwas. Was hören wir aber auf dem Gewerkschaftskongress in Köln? Der Referent Bömelburg plätschert erst lang und breit über die Gemeingefährlichkeit der gewerkschaftlichen Sympathiestreiks, dann fließt er ganz unvermittelt mit der breiten Welle seiner Beredsamkeit aus dem jüngsten fatalen Streik der Flaschenarbeiter in den „sozialen Generalstreik“ hinein, wobei er wahre Triumphe des Witzes über einen typischen anarchistischen Narren feiert, den er dem vor Vergnügen johlenden Publikum vorführt, und schließlich geht er ebenso unvermittelt zur Kritik der politischen Abwehrstreiks über, die gleichfalls kurzerhand in den Orkus geworfen werden – unter plattesten demagogischen Rednerkniffen –, und der Kongress „begleitet fast jeden Satz des Redners bis zum Schluss durch Zustimmungsrufe“, wie der „Vorwärts“ bemerkt! ... Noch bemerkenswerter ist die Argumentation des zweiten Generalstreikgegners, Leimpeters. Dieser erklärt frank und frei: „Einen Unterschied zwischen dem anarchistischen Generalstreik und dem sozialpolitischen Massenstreik vermöge er nicht zu erkennen.“ Und er zieht daraus nicht den einzig richtigen Schluss, dass alsdann die weitere Erörterung der Frage notwendig und jede Beschlussfassung verfrüht sei, sondern schließt gerade aus seiner Unkenntnis und Urteilsunfähigkeit direkt – auf die Verwerflichkeit aller Sorten des Generalstreiks zusammen.

Und auch er wird für ein paar Witze über den unglücklichen, zum soundsovielten Male totgeschossenen Popanz des anarchistischen Generalstreiks mit „stürmischer Heiterkeit“ belohnt –, einer Heiterkeit, die auf diesem Arbeiterkongress unheimlich lebhaft an die Heiterkeitsausbrüche eines hohen bürgerlichen Hauses bei Debatten über den sozialistischen „Zukunftsstaat“ erinnerte.

Das Triumvirat ergänzte würdig Robert Schmidt, der seinerseits die Erklärung machte: „Alle Erfahrungen lehren, dass die Anwendung dieses Mittels nur die Reaktion stärkt, genauso wie die Anwendung der Gewalt.“ „Alle Erfahrungen“ –, wobei die einzigen bisherigen Erfahrungen auf dem Gebiet der politischen Massenstreiks, die wirklich gemacht worden sind, der belgische Generalstreik vom Jahre 1893 und die jüngsten Generalstreiks in Russland, geradezu einen glänzenden Erfolg aufweisen! (Der jüngste gescheiterte Generalstreik in Belgien vom April 1902 kann hierbei offenbar nicht in Betracht gezogen werden, weil er höchstens eine Erfahrung darüber liefert, wie man einem politischen Generalstreik das Genick brechen kann, und nicht, wie man ihn durchführt.)

Dass diese Tatsachen Genossen wie Robert Schmidt, Bömelburg, Leimpeters, die zu den tätigsten führenden Gewerkschaftlern gehören, unbekannt geblieben sind, ist unmöglich anzunehmen. Die Tatsachen, die ihrer Auffassung so krass widersprechen, kennen sie wohl. Was ihnen aber vollständig abgeht – und mit ihnen der ganzen Mehrheit der Gewerkschaftler, die in Köln ihren Reden zustimmen –, ist – das tiefere Verständnis, das ernste und vorurteilslose Eindringen in die Lehren der Generalstreiks im Ausland. Belgien scheint offenbar eines tieferen Studiums in Bezug auf seine Experimente nicht wert zu sein, da es ja ein halbromanisches, also ein „leichtsinniges“ Land ist, auf das die deutschen Gewerkschaftspraktiker nur so von oben herabschauen. Und Russland nun, Russland, das „wilde Land“, wo sich die Füchse gute Nacht sagen, ein Land, das noch nicht die geringste Spur von gefüllten Gewerkschaftskassen, von einer Generalkommission der Gewerkschaften und von einem ganzen Stab bezahlter Gewerkschaftsbeamten hat –, wie könnten wohl ernste, „erfahrene“ deutsche Gewerkschaftler auf die Idee kommen, dass es geradezu ein „Generalunsinn“ ist, über den Generalstreik überhaupt irgendein Urteil zu fällen, während diese Kampfmethode gerade in Russland eine ungeahnte grandiose Anwendung findet, die für die ganze Arbeiterwelt belehrend und vorbildlich sein wird! …

Alle Gegner des Generalstreiks redeten immerzu von praktischen „Erfahrungen“, die „Erfahrung“ war der Grundton der Debatte, das Schild, das sie der „Theorie“, den „Literaten“, dem Ausland entgegenhielten. Und das alles von der Höhe der „Erfahrungen“ eines Landes, das eben noch nie in der Lage war, mit dem politischen Generalstreik eine Erfahrung zu machen!

Tatsächlich war eben dieser Grundton, der aus der ganzen Generalstreikdebatte hervor klang, nicht die „Erfahrung“, sondern – die Borniertheit, und sicher hat noch kein Kongress der Gewerkschaften in Deutschland stattgefunden, auf dem die Borniertheit so stark hervorgetreten ist wie in Köln. Eine selbstgefällige, strahlende, selbstsichere Borniertheit, die an sich selbst eine große Freude erlebt, sich an sich selbst berauscht, die sich über alle Erfahrungen der internationalen Arbeiterbewegung erhaben dünkt, welche sie gar nicht verstanden hat, die über ein historisches Produkt glaubt Richtersprüche fällen zu können, das sich um Kongressbeschlüsse den Teufel kümmert. Dieselbe Borniertheit war schon nahe daran, die Idee der Maifeier kurzerhand über Bord zu werfen. Und diese selbe Borniertheit versichert uns dann zum Schluss: „Nur nicht bange werden! Die Reaktion kann uns nichts tun! Sie soll uns ruhig alles nehmen, das Wahlrecht, das Koalitionsrecht, alle Rechte –, wir bleiben auch dann noch stark!“ Wenn das nicht heißt, die Arbeiterschaft in unverantwortlicher Weise in gefährlichsten Großmachtsdusel einlullen, dann wissen wir nicht, was Demagogie und was Irreführung der Arbeiter heißt.

Ei gewiss, wir sind, und wir werden siegen! Wir werden auch über alle Ränke der Reaktion siegen. Aber nicht dadurch, dass wir uns lachend alle Rechte nehmen lassen und selbst mit gedankenlosem Leichtsinn solche Kampfmittel wie die Maifeier preisgeben.

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