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Rosa Luxemburg 19090912 Die Maifeier vor der Entscheidung

Rosa Luxemburg: Die Maifeier vor der Entscheidung

[Vorwärts (Berlin), Nr. 213 vom 12. September 1909. Nach Gesammelte Werke, Band 2, Berlin 1972, S. 274-278]

Nach einer Reihe von Versuchen, die Maifeier auf neuer Grundlage, nämlich in Verbindung mit der Unterstützungsfrage, zu regeln, steht die Partei vor einer definitiven Entscheidung. Der Leipziger Parteitag1 muss nicht nur aus dem Grunde die endgültige Lösung finden, weil die bisherigen Debatten und Experimente auf die Schicksale der Maifeier, wie alle Welt sieht, die fatalste Wirkung ausgeübt haben, sondern auch deshalb, weil der Leipziger Parteitag der letzte vor dem Internationalen Sozialistischen Kongress in Kopenhagen2 ist. In Leipzig soll also entschieden werden, welche Haltung die Vertreter der deutschen klassenbewussten Arbeiterschaft vor dem Forum der Internationale in der Maifeierfrage einnehmen: ob sie als Anhänger und Bewahrer der alten Kampftaktik und der Tradition des internationalen Proletariats in dieser Frage auftreten oder ob sie die Initiative zu einer Revision dieser Taktik und zur Preisgabe der Maifeier ergreifen. Wer sich die bisherige Rolle der Maifeier in verschiedenen Ländern vergegenwärtigt sowie die Stimmung, die auf allen internationalen Kongressen in dieser Frage herrschte, dürfte kaum bezweifeln, dass eine Initiative, die in dieser oder jener, direkten oder indirekten Weise auf die Abschaffung der Maifeier abzielen würde, ihrer Niederlage in Kopenhagen so gut wie sicher ist, und mag diese Initiative selbst von einer so mächtigen und einflussreichen Partei wie der deutschen Sozialdemokratie kommen. In Kopenhagen wird es sich also weniger darum handeln, ob die Maifeier in der bisherigen Weise von dem internationalen Proletariat aufrechterhalten werden, als vielmehr darum, welche Rolle die Vertretung der Arbeiterbewegung aus Deutschland in den Reihen der Internationale spielen soll; ob sie ihr wie ehedem als die Führerin auf dem Wege des revolutionären Klassenkampfes voraus schreitet und den anderen Bruderparteien als Wegweiserin, als Muster dient oder aber durch ihre Zaghaftigkeit ins Hintertreffen gerät und von anderen geschoben wird. Die Verhandlungen des Internationalen Kongresses in Stuttgart3 haben ja gezeigt und die Vorgänge auf der jüngsten Internationalen Konferenz der Gewerkschaftszentralen4 haben es bestätigt, dass die deutsche Arbeiterschaft bei aller ihrer zahlenmäßigen Größe und ihren enormen organisatorischen Erfolgen nur dann die Führerin der Internationale ist und bleibt, wenn sie in der Zielklarheit, Prinzipienfestigkeit und Entschlossenheit der Taktik allen anderen voraus schreitet. Die Haltung der deutschen Delegation in der Maifeierfrage auf dem Kopenhagener Kongress wird für die Bedeutung der deutschen Sozialdemokratie und der deutschen Gewerkschaften von außerordentlicher Wichtigkeit sein, und die Rücksicht auf diesen Umstand sollte bei den Verhandlungen des Leipziger Parteitages in erster Linie mitbestimmend wirken.

Schon die bisherige Sachlage mahnt dringend zur Klärung der Frage. Wir stehen vor der Tatsache, dass die mächtigste proletarische Organisation der Welt, nachdem sie die Stärke von Millionen politisch Organisierter, 2¼ Millionen gewerkschaftlich Organisierter und 3¼ Millionen Wähler erreicht hat, beinahe daran ist, zu erklären, dass sie die Beschlüsse der internationalen Kongresse nicht durchführen könne und die Maifeier, die bald zwanzig Jahre lang in Deutschland mit steigendem Erfolg eingehalten wurde, aufgeben müsse. Dass eine solche Tatsache, dass die seit den letzten Jahren in Deutschland zwischen Partei und Gewerkschaften unausgesetzt geführten Auseinandersetzungen über die Maifeier, dass solche Beschlüsse wie der der stärksten Gewerkschaft Deutschlands, der Metallarbeiter5, auf die Arbeiterbewegung in allen Ländern tief deprimierend wirken müssen, liegt auf der Hand. Denn bei allen den Proletariern der Internationale, die bis jetzt mit Stolz auf die Kraft der deutschen Arbeiterbewegung blickten und als das Ziel ihres innersten Sehnens und Strebens betrachteten, der deutschen Bewegung in der Stärke der Organisation nachzukommen, muss unwillkürlich die Frage auftauchen: Ist es denn am Ende der Mühe wert, alles daranzusetzen, um eine ähnliche Macht zu erreichen, wenn man, erst gerade auf diesem Gipfel angelangt, ein solches Gefühl der eigenen Schwäche bekommt und an Aufgaben verzweifelt, an die man früher, bei viel schwächerer Organisation, mit Elan, Mut und Glauben herantrat?

Zweierlei Gesichtspunkte werden von den Gegnern der Maifeier ins Feld geführt. Vor allem habe sich die Maifeier ohnehin nicht bewährt, denn eine allgemeine Arbeitsruhe sei doch nicht einmal in Deutschland annähernd durchgeführt worden. Die vergeblichen Versuche aber, die Arbeitsruhe durchzusetzen, bringen für die gewerkschaftlichen Organisationen ernste Erschütterungen, Gefahren und Kämpfe, die angesichts der Unerreichbarkeit des Zieles ganz nutzlos sind. Diejenigen, die hartnäckig auf das angebliche Misslingen der Maifeier bis jetzt hinweisen, gehen hier von einer Auffassung der Maifeier aus, die allen Beobachtungen und Erfahrungen der zwanzigjährigen Praxis widerspricht. Kein vernünftiger, denkender Politiker des Klassenkampfes kann erwarten, dass die Maifeier sich zu einer mit automatischer Regelmäßigkeit alljährlich wiederholenden absoluten allgemeinen Arbeitsruhe in allen Ländern oder auch nur in einigen, in einem Lande gestalten würde. Die Verteidiger der bedächtigen Abzahlungspolitik und der kleinen, schrittweisen Errungenschaften erweisen sich merkwürdigerweise gerade in der Maifeierfrage als Anhänger des sonst so verpönten Grundsatzes: Alles oder nichts. Wo die Maifeier sich nicht als absolute alljährliche Arbeitsruhe durchsetzen lässt, so soll sie überhaupt fallengelassen werden. Aber die Maifeier ist eben kein ausgeklügelter Kunstgriff der proletarischen Taktik, keine mechanische Methode, um auf Kommando eine plötzliche allgemeine Arbeitsruhe entstehen zu lassen. Im Streben zu diesem Ziel, in der Agitation um dieses Ziel, in der Aufklärung um dieses Zieles willen liegt die Hauptbedeutung der Maifeier, darin, dass sie uns eben die Möglichkeit gibt, alljährlich an den wechselnden Fortschritten der Arbeitsruhe die Werbekraft unserer Idee zu messen, die Wirksamkeit unserer Agitationsmittel zu prüfen, den Pulsschlag des Klassenkampfes ständig zu fühlen. Ein lebendiges Stück des Klassenkampfes, reagiert eben die Maifeier auf alle Wechselfälle, alle Konjunkturen des politischen und ökonomischen Lebens der Arbeiterklasse. Wirtschaftlicher Aufschwung oder Krise, politische Wahljahre, Verschärfung politischer Parteikämpfe, Belebung der Lohnkämpfe – alles das spiegelt sich alljährlich in jedem Lande in der Maifeier, indem die Arbeitsruhe bald größere, bald geringere Dimensionen annimmt. Und steigt der soziale Konflikt zum Ausbruch einer Revolutionsperiode, dann wird die Maifeier plötzlich – trotz der Schwäche der Organisationen – zur leibhaftigen absoluten Arbeitsruhe, wie dies in Russisch-Polen 1905 und zum Teil noch in den folgenden Jahren war. In diesem Jahre spiegelte sich der Höchstpunkt des konterrevolutionären Sieges in Russland in dem tiefsten Grad der Maifeier in Russland, der seit 20 Jahren erreicht wurde. Hat die Maifeier nicht gerade dadurch ihre innere Lebendigkeit, ihre unauflösliche Verknüpfung mit den allgemeinen Schicksalen des proletarischen Klassenkampfes bewiesen? In Österreich kulminierte die Periode der stürmischsten Kämpfe des Proletariats um das allgemeine, gleiche, direkte Wahlrecht in einer Reihe glänzender Maifeiern. In Frankreich haben die Hochburgen der sozialdemokratischen Arbeiterpartei in den neunziger Jahren durch blutige Maiopfer ihre revolutionäre Gesinnung bekundet. In Deutschland hatten wir in den letzten zwei Jahrzehnten im allgemeinen eine „stille Periode", unser gesamtes öffentliches Leben leidet unter dem Fluch der bleiernen parlamentarischen Stagnation, die gesamte innere Politik Deutschlands ist auf einen toten Punkt geraten. Was Wunder, dass angesichts dessen auch die Maifeier in Deutschland, bei allen langsamen Fortschritten, nicht zum plötzlichen Ausbruch einer allgemeinen Arbeitsruhe werden konnte? Aber sie deshalb ganz preisgeben, deshalb die nachhaltige alljährliche Agitation um die Arbeitsruhe, für die Losungen des Achtstundentages und des Sozialismus aufgeben hieße soviel wie im Voraus öffentlich erklären: Deutschland wird nie aus dem jetzigen Sumpf der Stagnation herauskommen, in Deutschland werden wir nie eine Periode offener großer Kämpfe um die Ziele des Proletariats erleben!

Die Gewerkschaftsorganisationen befürchten die Gefahren der Konflikte aus Anlass der Maifeier, namentlich angesichts der starken Unternehmerkoalitionen. Aber der jetzige schwedische Generalstreik ruft uns gerade mit mächtiger Stimme die Lehre zu, dass die Unternehmerkoalitionen uns in gewaltige Konflikte treiben, ob wir es wollen oder nicht. Gerade die Politik der Unternehmerverbände treibt zu einer solchen Verallgemeinerung des Konflikts, macht ein Generalaufgebot des ganzen Proletariats zu einer so unvermeidlichen Sache, dass nur die allgemeine Arbeitsruhe als letztes Mittel übrigbleibt. Ist aber in diesem Falle eine möglichst imposante Ausgestaltung der Maifeier alljährlich nicht die klügste Gewerkschaftspolitik? Ist sie nicht das beste Mittel, den Unternehmerverbänden alljährlich die Macht und die Kampfposition der Gewerkschaften zu zeigen, was jetzt in höchster Not die schwedischen Proletarier sich zu tun gezwungen sehen? Nicht die Konflikte, nicht die großen Kämpfe sind eine Gefahr für die Gewerkschaften, sondern die Angst vor Konflikten. Denn nichts vermag den Übermut der Unternehmerkoalitionen so zu stärken wie ein Beschluss wie der der Metallarbeiter über die Maifeier, der dem Feinde im Voraus die Schwäche und das Verzagen an der eigenen Kraft verrät.

Wenn der Leipziger Parteitag der Situation in Deutschland, den Erwartungen der Internationale, den Lehren des schwedischen Generalstreiks gerecht werden will, so muss er mit kurzen und klaren Worten – wie Bebel in Dresden das befreiende Wort sprach: Es bleibt bei der Expropriation ! – erklären:

Es bleibt bei der Maifeier!

1 Der Parteitag der deutschen Sozialdemokratie in Leipzig fand vom 12. bis 18. September 1909 statt.

2 Der Internationale Sozialistenkongress in Kopenhagen fand vom 28. August bis 3. September 1910 statt.

3 Der Internationale Sozialistenkongress in Stuttgart fand vom 18. bis 24. August 1907 statt.

4 Die Internationale Konferenz der gewerkschaftlichen Landeszentralen fand vom 30. August bis 1. September 1909 in Paris statt.

5 Auf der neunten Generalversammlung des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes vom 31. Mai bis 5. Juni 1909 in Hamburg wurde in einer Resolution die Bedeutung der Maifeier für den Kampf der Arbeiterklasse herabgesetzt und den Mitgliedern überlassen, an der Arbeitsruhe am 1. Mai teilzunehmen. Es wurde ausdrücklich betont, dass eine Beteiligung an der Arbeitsruhe den Verbandsmitgliedern nicht zur Pflicht gemacht werden könne.

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