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Rosa Luxemburg 19090127 Die Pariser Entlarvung

Rosa Luxemburg: Die Pariser Entlarvung

[Vorwärts (Berlin), Nr. 22 vom 27. Januar 1909. Nach Gesammelte Werke, Band 2, Berlin 1972, S. 264-268]

Der Fall Asef wird bis jetzt genau wie vor kurzem die Entdeckungen über die Korruption der Moskauer Polizei und der anderen dortigen Behörden1 ausschließlich als sensationelle Bloßstellungen der zarischen Handlanger behandelt. Welche Schmach in der Tat für die getreuesten Diener des Zaren aller Reußen, für die Hüter der „Ordnung", wenn sie auf einem intimen geheimen Techtelmechtel mit den „Feinden des Throns und des Vaterlandes", mit roten Revolutionären, ertappt, wenn ihr Händchen bei dem Spiel mit Bomben, Attentaten auf allerhöchste Persönlichkeiten, Expropriationen privater und öffentlicher Vermögen gefunden wird! Wir müssen bekennen, dass uns jenes Restchen von gutmütigem Idealismus in Bezug auf die Geheimpolizei und die übrigen Organe des russischen Regierungskadavers vollständig abgeht, das nötig ist, um über die neuen Entdeckungen der Schmach, womit sich diese Edlen bedeckt haben sollen, aus dem Häuschen zu geraten. Es scheint uns vielmehr, dass die Geheimpolizei, Gendarmerie und dergleichen Institutionen „mit Schmach bedecken" wollen soviel heißt wie Eulen nach Athen tragen und Wasser ins Meer schleppen. Wer erst schlagender Beweise bedurfte, um begreifen zu lernen, dass das ganze Gebäude des historisch bereits zum Tode verurteilten Zarismus in seinem jetzigen konterrevolutionären Röcheln ein einziges großes Produkt der Fäulnis und der Korruption, eine einzige Pestbeule darstellt, dem ist nicht zu helfen. Das sozialistische Proletariat bedarf hoffentlich solcher „Entdeckungen" nicht, und der bürgerlichen sogenannten „öffentlichen Meinung" ist damit nichts bewiesen, weil sie vorsätzlich vor diesen Schönheitsflecken auf dem Sonnenbilde des letzten absolutistischen Regimes die Augen schließt.

Die jüngste Entlarvung des Provokateurs Asef in Paris aber sowie die Aufdeckung der Moskauer Korruption enthalten ganz andere tiefernste Lehren, die sich an die sozialistische Welt selbst richten. Und es ist unseres Erachtens viel ratsamer und heilsamer, im Anschluss an die genannten sensationellen Vorkommnisse ein paar ernste Worte pro domo sua zu sagen. Denn im Grunde genommen bedeuten diese Entdeckungen nicht einen Bankrott der russischen Polizei, sondern den Zusammenbruch jener verfehlten Kampfestaktik eines Teils der russischen Revolutionäre, gegen die die Sozialdemokratie seit Jahren in Russland wie in Polen in energischster Weise zu Felde zieht. Es ist die unselige Taktik des Terrorismus und der sogenannten Expropriationen, das heißt der räuberischen Überfälle und Aneignungen von Geldern, was die ungeheuerliche Verquickung der revolutionären Aktion mit polizeilichen Machenschaften ermöglicht hat. Taub gegen die sozialdemokratische Beweisführung, dass solche Kampfmethoden mit der revolutionären Sache des Proletariats, mit dem Klassenkampf nichts gemein haben, dass sie nur schädlich, desorganisierend wirken können, hat sich die Partei der Sozialisten-Revolutionäre in Russland und die mit ihr verbündete Polnische Sozialistische Partei, Revolutionäre Fraktion in Polen bis auf den heutigen Tag darauf versteift, den Terror und die Expropriationen als „revolutionäre" Taten theoretisch zu verteidigen und praktisch auszuüben. Und die Folgen? Eine furchtbare Korruption, die in den Reihen der beiden Parteien eingerissen ist, eine Unzahl von Spitzeln und Provokateuren, die sich unter die Kämpfer gemischt haben, eine völlige Vermischung revolutionärer Reihen mit gemeinem Lumpenproletariat wie in Polen, wo man unter den tagtäglich wegen Raubüberfällen standrechtlich Hingerichteten absolut nicht mehr Opfer einer revolutionären Verirrung von einfachen Strolchen zu unterscheiden vermag, oder eine Verquickung der revolutionären Aktion mit schmutzigen polizeilichen Intrigen wie in Moskau oder endlich die Verwandlung der Revolutionäre von hochherzigstem Idealismus und heroischem Opfermut in tragische Spielbälle infamer Provokateure, wie der Fall Asef in Paris zeigt.

Freilich, auch die sozialdemokratische Agitation hat in Russland gegenwärtig genug unter dem Spitzelwesen zu leiden, auch jede bescheidenste Arbeiterorganisation muss beständig vor Provokateuren auf der Hut sein. Aber es ist vor allem eine allgemein bekannte Tatsache, dass es vorzugsweise terroristische Organisationen sind, die auf die Lockspitzel eine magnetische Anziehungskraft ausüben, genauso wie sich auch in Westeuropa Lockspitzel nicht den sozialdemokratischen Arbeitern, sondern den anarchistischen Gewaltanbetern mit Vorliebe an die Rockschöße hängen. Sodann aber sind die Früchte ihrer Wirkung hier wie dort grundverschieden. In den Anfängen der Revolutionsperiode versuchte die zarische Regierung durch Provokation großen Stils auch die Arbeiterbewegung zu verderben. Nach dem Rezept des berühmten Subatow wurden von Geheimagenten in verschiedenen Städten Arbeiterorganisationen, Gewerkschaften ins Leben gerufen und geleitet. Proletarische Elemente kamen so unter die Leitung von Lockspitzeln verschiedenen Ranges. Und was war das Ende? Die von Geheimagenten gegründeten Arbeitervereine in Odessa gaben das Signal zu jener gewaltigen Aufstandsbewegung, die im Jahre 1903 den ganzen Süden Russlands wie mit einem Flammenmeer umfing. Und die Subatowschen Vereine in Petersburg, vom Popen Gapon geleitet, gaben durch ihren Marsch zum Winterpalais am 22. Januar 1905 das Signal zum Ausbruch der russischen Revolution. Den Popen Gapon selbst muss man gleichfalls für einen Geheimagenten der Regierung halten; jedenfalls versank er zum Schluss seiner Karriere in der offenkundigsten Korruption. Aber dieser selbe Pope wurde einen Moment lang von dem revolutionären Massensturm, den er entfesseln half, als sein Fahnenträger vorwärts geschoben, bis er nach abgespielter Rolle durch eigene Korruption zugrunde ging. Und so wie in diesem Falle ging es jedes Mal: Die mit der Arbeiterbewegung spielenden Regierungsagenten verwandelten sich wider Willen in Werkzeuge der revolutionären Sache, um von ihr nach getanem Dienst wie Unrat weggespült zu werden. Die innere historische Logik des proletarischen Klassenkampfes erweist sich eben als stärker denn die Absichten und Pläne der Reaktion, und sie macht sich jedermann dienstbar, der die Arbeiter zu organisieren und mobil zu machen versucht. Die Geheimagenten der Reaktion, die sich an die Arbeiterbewegung heranmachen, werden zu ungewollten Werkzeugen des Klassenkampfes und fangen sich am Ende in der eigenen Schlinge – in terroristischen Organisationen, die mit ihrer anarchistischen Taktik in der Luft hängen, werden umgekehrt die Revolutionäre zu Werkzeugen der Reaktion, die mit ihnen nach Lust spielt, um sie schließlich in der Schlinge zu erdrosseln.

Der jüngste Fall – die Entlarvung des Lockspitzels Asef – ist selbst nur ein Fragment aus der tragischen Geschichte der terroristischen Kampfweise. Jeder Kenner der russischen Verhältnisse wird die Triumphrufe über diese glückliche Entlarvung mit sehr gemischten Gefühlen vernehmen. Es ist nämlich durchaus nicht klar, wer eigentlich hinter dieser Entlarvung steht. Es ist nichts Unerhörtes bei der Verwicklung des Fangnetzes, mit dem die terroristische Aktion umgarnt ist, dass eine solche „Entlarvung" eines hervorragenden Lockspitzels bloß ein Kunstgriff der Geheimpolizei ist, sei es, weil das alte Werkzeug an einem gewissen Ort abgebraucht und durch ein neues ersetzt werden soll, sei es aus „privaten" Konkurrenzrücksichten unter diesen edlen Rittern selbst. Die Leidensgeschichte der russischen sozialistisch-revolutionären Partei ist also mit dieser Entlarvung durchaus nicht zu Ende, vielmehr muss sie sich sehr in Acht nehmen, um nicht wieder in die Fangnetze zu fallen, gerade wo sie sich aus ihnen zu retten vermeint. Die Situation dieser Partei ist in der Tat eine verzweifelte, und man kann schon den heftigen Unmut begreifen, der in den Reihen der Sozialisten-Revolutionäre gegen ihr eigenes Zentralkomitee jetzt herrscht, das sich sechs Jahre lang oder so ungefähr von einem Buben hat an der Nase herumführen und auf sein Geheiß soundso viele junge prächtige Menschen, wenn auch schlechte Politiker, in den grausigen Tod hat gehen lassen. Aber auch dieser Unmut hat seine Schranke in der Ungerechtigkeit, die darin liegt, die paar gut meinenden, wenn auch leichtgläubigen Menschen aus dem Zentralkomitee dafür zu Sündenböcken zu machen, was an dem System, an der verfehlten Taktik selbst haftet. Gegen das weitere Verderben der Reihen dieser Partei in den Fängen des entlarvten Spitzels, der alles und alle in der Partei nun kennt, der die ganze Partei in seiner Macht hat, sowie in den Fängen seiner vermutlichen Nachfolger gibt es nur ein einziges Mittel, das zu ergreifen freilich den Leitern der terroristischen Partei nunmehr die politische Ehrlichkeit zur unabweisbaren Pflicht macht. Dieses Mittel besteht darin, die terroristische Organisation aufzulösen und ihre Mitglieder von sämtlichen geplanten terroristischen Akten und Expropriationen auf das entschiedenste Abstand nehmen zu lassen.

Die wahrhaft schmachvollen – nämlich für die terroristische Taktik schmachvollen – Erlebnisse der jüngsten Zeit in Polen, in Moskau, in Paris müssen endlich dazu führen, die Arbeiterbewegung in Russland wie in Polen von dem Krebsschaden des anarchistischen Auchsozialismus zu befreien. Die künftige Auferstehungsperiode der Revolution sollte bereits ein von diesen verwirrenden und korrumpierenden Nebenströmungen gereinigtes Kampflager des Sozialismus vorfinden, für das nur eine Losung gilt: Aufklärung der Arbeitermassen, Organisation der Arbeitermassen und alle Formen des Massenkampfes, die sich aus der politischen Reife des Proletariats und aus der Reife der politischen Situation mit historischer Notwendigkeit ergeben.

1 Ende 1908 war öffentlich bekannt geworden, dass die Moskauer Geheimpolizei seit Jahren in enger Verbindung mit dem Verbrechertum stand. Gegen Abgabe eines bestimmten Prozentsatzes der Beute wurde den Verbrecherbanden volle Freiheit gewährt.

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