Rosa Luxemburg‎ > ‎1917‎ > ‎

Rosa Luxemburg 19170400 Ein neues Waterloo des Sozialismus

Rosa Luxemburg: Ein neues Waterloo des Sozialismus

[Nicht gezeichneter Artikel, Spartacus, Nr. 4 vom April 1917, In: Spartakusbriefe, Berlin 1958, S. 295-299. Nach Gesammelte Werke, Band 4, Berlin 1974, S. 237-241]

Die jetzige Entfesselung des schrankenlosen Krieges ist ein neues Stadium in dem welthistorischen Drama, das wir seit bald drei Jahren erleben. Sowenig man von dem deutschen Friedensangebot im Ernst zu halten brauchte, so gut man es neben der famosen Schöpfung des „unabhängigen Polens" und des im Hinterhalt vorbereiteten verschärften U-Boot-Krieges als einen plumpen Bluff durchschauen konnte – der Moment des Notenwechsels zwischen den Kriegführenden im Dezember/Januar markiert für den tobenden Imperialismus eine psychologische Erscheinung von hoher symptomatischer Bedeutung. Dass der deutschen Regierung das unermüdliche Siegen seit zweieinhalb Jahren, das den Krieg im Ganzen nicht um einen Zollbreit vorwärts bringt, zusammen mit den wachsenden Schwierigkeiten der Ernährung und der Munitionsherstellung sowie der Heranschaffung immer frischen Kanonenfutters ehrlich zum Hals heraushängt, darf man ihr ohne weiteres aufs Wort glauben. Dass die Lage der Ententemächte in ihnen das heftigste Verlangen nach möglichst rascher Beendigung des Krieges erwecken muss, könnte nur ein Blinder bezweifeln. Dennoch ist der aufblitzende Versuch der Verständigung nicht nur gescheitert, sondern er schlug durch natürliche Logik der Dinge in eine schrankenlose Verschärfung des Krieges, in die tollste Entfesselung der imperialistischen Gegensätze um!

Woher kommt das? Die Vulgärpolitiker des Regierungssozialismus, die Scheidemann und Genossen, wiederholen natürlich mit der Treuherzigkeit ergebener Lakaien die offizielle Erklärung der „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung": Die Bosheit der Ententeregierungen und – fügen sie als „Sozialisten" aus eigenem hinzu – das Versagen der französischen und englischen Sozialisten trage die Schuld an der Verlängerung und Verschärfung des Krieges. Die „Opposition" um die „Arbeitsgemeinschaft" macht einen Schritt weiter und schiebt die Verantwortung teils auf die vage Fassung des deutschen Friedensangebots, teils auf die Scheidemänner selbst, die durch die konsequente Bewilligung der Kriegskredite die deutsche Regierung auch zum heutigen verschärften U-Boot-Krieg ermuntert und befähigt hätten. Die Schicksale des letzten „Verständigungs"versuchs zeigen aber in Wirklichkeit wieder einmal, dass die Geschichtsauffassung, welche sei es den Ausbruch des Krieges, sei es dessen Beendigung vom bösen oder guten Willen der kapitalistischen Regierungen abhängig macht, keinen Schuss Pulver wert ist, dass dem Ausbruch wie auch den weiteren Geschicken des heutigen Weltkrieges vielmehr tiefe soziale und historische Ursachen zugrunde liegen, denen gegenüber die regierenden Diplomaten auf allen Seiten ohne Unterschied in letzter Linie die Rolle der Geschobenen spielen, wie sehr sie sich und anderen einreden mögen, die Schiebenden zu sein.

Der Weltkrieg, der selbst ein Produkt, eine vulkanische Eruption der in den letzten fünfundzwanzig Jahren im Schoße der kapitalistischen Gesellschaft herangereiften imperialistischen Gegensätze und Probleme ist, hat seinerseits in dialektischer Wechselwirkung diese Gegensätze und Probleme ins Ungeheure gesteigert. Die drei Kriegsjahre haben dank dem Versagen des internationalen Proletariats den Imperialismus und Militarismus in allen kriegführenden Staaten zu unumschränkten Herren der Situation, zum Mittelpunkt und zur Achse des gesamten gesellschaftlichen Lebens, zum einzigen ausschlaggebenden Faktor gemacht, dem alles: Wirtschaft, Gesetzgebung, Verfassung, Finanzen, Öffentlichkeit, Religionsglauben, Wissenschaft, Psychologie, restlos in den Dienst gestellt worden ist. Nachdem Krieg und Imperialismus so zum Lebensknoten der Staaten gemacht, ein und alles für sie geworden sind, ist der Ausgang des Krieges, d. h. die imperialistischen Weltumteilungsprobleme und die Frage der militärischen Vorherrschaft, für die heutigen Regierungen und bürgerlichen Klassen zur Frage des Seins oder des Nichtseins geworden. Sie wissen wohl, dass es für sie – vom imperialistischen Standpunkt – aufs Ganze geht. Und deshalb ist eine „Verständigung", d. h. eine Lösung unlösbarer Aufgaben und Überbrückung unüberbrückbarer Gegensätze, ein Abbrechen, des Krieges vor der letzten Kraftprobe, eine kleinbürgerliche Utopie, die nur einer impotenten Geschichtsauffassung und einer ebenso impotenten Politik als bequeme, feige Ausflucht vorschweben konnte. Die große Lehre aus dem Ausgang des deutschen Friedensangebots und aus der heutigen schrankenlosen Ausbreitung und Vertiefung des Todesringens – eine Lehre, die zu beherzigen und den Massen klarzumachen verdammte Pflicht und Schuldigkeit der sozialistischen Parteien ist – geht dahin:

Die kapitalistischen Staaten sind nicht mehr imstande, aus eigenem Willen dem entfesselten imperialistischen Hexensabbat Halt zu gebieten. Der auf die Menschheit losgelassene Imperialismus muss vielmehr mit fataler Logik aus eigenem Schoß mit jedem Tage der Kriegsdauer nur immer schärfere Gegensätze, immer verzweifeltere Kämpfe hervorbringen. Von sich aus vermag die bürgerliche Gesellschaft nur noch immer wildere Anarchie, Ruin und Bestialität zu produzieren.

Nur eine einzige Macht wäre imstande und war durch die Geschichte berufen, dem rasenden Abrutsch der Gesellschaft in den Abgrund der Anarchie und der Verwilderung in die Speichen zu fallen: das internationale sozialistische Proletariat. Einen anderen Ausweg aus dem Kriege als die revolutionäre Erhebung des internationalen Proletariats zum Kampfe um die Macht gibt es nicht mehr – es sei denn die völlige Erschöpfung der Gesellschaft, d. h. wirtschaftlicher, kultureller, moralischer Zusammenbruch und Agonie nach unabsehbarer Dauer des Krieges.

In diesem Sinne war der jüngste Moment in der Psychologie des Krieges, das augenblickliche Zaudern der Kriegführenden und der schwache Versuch, sich selbst dem imperialistischen Todesritt zu entziehen, eine neue welthistorische Probe für das Proletariat – eine Wiederholung des 4. August unter verschärften und erschwerenden Umständen. Das sozialistische Proletariat hat abermals gänzlich versagt, es hat der imperialistischen Bourgeoisie ruhig überlassen, einen Moment lang den Frieden aus freiem Ermessen zu erwägen, um sich dann unter dem Zwang der historischen Fatalität noch rasender kopfüber in den Krieg zu stürzen. Der jetzige verschärfte und auf die Neue Welt so gut wie ausgedehnte Krieg geht zum zweiten Mal über die internationale Arbeiterklasse als Machtfaktor der Geschichte zur Tagesordnung über. Es ist das zweite Waterloo des Sozialismus, was wir heute erleben.

Der Roman von Zola „Die Bestie im Menschen" schließt mit dem erschütternden Bilde eines Eisenbahnzuges, von dem der Maschinist und der Heizer in gegenseitiger tödlicher Umklammerung abgestürzt sind und der nun führerlos und hemmungslos in die Nacht hinein rast, zum Entsetzen der in ihm eingeschlossenen Menschen alle Stationen überspringt und in immer wilderem Tempo der schließlichen Katastrophe irgendwo in unbekannter Ferne entgegen stürmt. Ein solches Bild bietet gegenwärtig die kapitalistische Gesellschaft dar, nachdem der berufene Maschinist und Heizer – das internationale Proletariat – am 4. August abgestürzt ist.

Sich dies mit aller unnachsichtigen Offenheit und Klarheit zu sagen ist für die Arbeiter selbst der erste Schritt und die erste Vorbedingung zur künftigen politischen Auferstehung. In Wirklichkeit ist ein derartiges Versagen einer gesellschaftlichen Klasse ihren geschichtlichen Aufgaben gegenüber etwas ganz Beispielloses.

Das revolutionäre Frankreich war freilich bereits zu drei Vierteln ein Friedhof und ein Bild der Barbarei infolge der langen Herrschaft des mittelalterlichen Feudalismus, und doch hat sich das Bürgertum alsdann aufgerafft, um das schmachvolle Joch des Mittelalters zu zerschmettern und durch revolutionären Elan frisches Leben aus den Ruinen aufzuwecken. Das vormärzliche Deutsche Reich war, wie sattsam bekannt, schon reichlich weit im Zustand eines verwesenden Kadavers vorgeschritten und erstickender Dünste der Zersetzung voll, als die deutsche Bourgeoisie doch noch in der allerletzten Stunde aus ihren altersschwachen Lenden so etwas wie revolutionäre Tatkraft hervorgeholt hatte, um wenigstens einen Anlauf zur Renovierung der morschen Zustände zu machen.

Das jüngste Beispiel erleben wir eben in diesen Tagen. Selbst die russische Bourgeoisie, dieser letzte Sprössling des kapitalistischen Bürgertums, behaftet mit allen Gebrechen der Spätgeburt, geschwächt durch alle Früchte vom Baume der historischen Erkenntnis, geschreckt durch alle Erlebnisse ihrer älteren Geschwister und noch mit den Schrecken der eigenen russischen Revolution in den Gliedern – selbst diese Bourgeoisie rafft sich in diesem Augenblick unter schwierigsten Verhältnissen zu einer Tatkraft auf, um den letzten Rest der revolutionären Aufgaben zu vollführen, die dem Bürgertum von der Geschichte gestellt worden sind.

Nur das internationale und vor allem das deutsche Proletariat versagt bis jetzt seinen speziellen Aufgaben gegenüber auf der ganzen Linie, versagt völlig, hartnäckig, unbelehrbar und unbeirrt durch alle Fußtritte, Peitschenhiebe und Skorpione der Geschichte.

Dies auszusprechen ist nicht darum nötig, um einem unfruchtbaren Pessimismus zu verfallen, sondern umgekehrt, um die ganze Größe des entschlossenen revolutionären Willens zu ermessen, die erforderlich ist, um alle versäumten Termine einzuholen. Mit halben Mitteln, schwächlichen Anläufen und bescheidenen Tugenden ist ein so unerhörter weltgeschichtlicher Bankrott nicht wettzumachen. Die rücksichtslose Konstatierung dieses Bankrotts ist auch noch darum nötig, um diejenigen Elemente der „Opposition", die sich nur nach der Rückkehr in den warmen Stall der Parteizustände vor dem Kriege sehnen, endlich mit der Nase auf die einfache Frage zu stoßen:

Wie sehr muss sich das, was als sozialistische Partei und als sozialistische Internationale in den letzten Jahrzehnten existierte, von dem wirklichen Charakter und Beruf dieser Organisationen entfernt haben, um ein derartiges Versagen des ihrem Erziehungswerk und ihrer Führerschaft anvertrauten Proletariats zu ermöglichen?! Die russische Bourgeoisie ergreift vorerst entschlossen die Zügel der revolutionären Bewegung, was sie aber dazu vorantrieb, ist doch nur die stürmische Massenerhebung des Volkes. Ist es nun nicht einigermaßen auffällig, dass das russische arbeitende Volk im hundertjährigen Joch eines orientalischen Despotismus nicht gelernt hat, so geduldig zu hungern und sich unter die Säbeldiktatur zu ducken, wie es das deutsche Proletariat in der 50-jährigen Schule der Sozialdemokratie gelernt zu haben scheint? – Erst wer den Mut und die Ehrlichkeit hat, die ganze Größe der gegenwärtigen Niederlage des Sozialismus zu bekennen, wird Kraft genug aufbringen, um die sozialistische Partei und die Internationale an Kopf und Gliedern umzugestalten, wie es ihre wirklichen historischen Aufgaben erfordern.

Kommentare