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Rosa Luxemburg 19170518 Eine Tragikomödie

Rosa Luxemburg: Eine Tragikomödie

18. Mai 1917

[Der Kampf (Duisburg) Nr. 50, 18. Mai 1917. Nach Franz Mehring, Gesammelte Schriften, Band 15, S. 729-731. Laut Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Band 7.2 stammt der Artikel in Wirklichkeit von Rosa Luxemburg]

Unter dem üblichen Tamtam der bürgerlichen und auch der regierungssozialistischen Presse hatte der Reichstag einen so genannten Verfassungsausschuss niedergesetzt, der endlich einen Anfang mit der vielberufenen „Neuorientierung" machen und namentlich drei Aufgaben erledigen sollte: die Einführung des parlamentarischen Systems im Reiche, die Herstellung des allgemeinen Wahlrechts in allen deutschen Einzelstaaten und endlich die Reform des Reichstagswahlrechts.

Es lohnte von vornherein nicht, von diesem „epochemachenden" und „grundlegenden" Beschluss irgendwelche ernsthafte Notiz zu nehmen. Selbst dann nicht, wenn der gegenwärtige Reichstag jemals etwas anderes als ein willenloses Werkzeug in der Hand der Regierung gewesen wäre. Auch dann würde sein Ausschuss nur die Papierkörbe mit einiger Makulatur von Beschlüssen und Resolutionen bereichert haben. „Verfassungsfragen sind Machtfragen" – das ist seit den Tagen Lassalles zwar eine sehr abgedroschene Weisheit, aber sie wird oft genug von denen nicht verstanden, die sie, wie manchmal selbst die regierungssozialistischen Blätter, prunkend im Munde führen. Lassalle hat niemals der lächerlichen Einbildung gefrönt, das parlamentarische System lasse sich durch noch so flammende und noch so wortreiche Resolutionen erreichen – denn dann wäre es schon zu seiner Zeit durch die fortschrittliche Kammermehrheit erreicht worden –, sondern Lassalle hat mit aller Deutlichkeit erklärt, das parlamentarische System lasse sich nur durch die völlige Niederkämpfung des Absolutismus erobern, für die er die Parole ausgab: Den Daumen aufs Auge und das Knie auf die Brust.

In der Tat ist das parlamentarische System – dessen Kern die Vertreter der Unabhängigen Sozialdemokratie im Verfassungsausschuss ganz treffend in dem Satze zusammengefasst haben: „Der Reichskanzler ist zu entlassen, wenn der Reichstag es durch Mehrheitsbeschluss fordert" – immer nur die Frucht sehr ernsthafter Revolutionen gewesen, in England wie in Frankreich oder wo es sonst immer bestehen mag. Lassalle glaubte es allerdings auf unblutigem, wenn auch bei alledem revolutionärem Wege erreichen zu können: durch den finanziellen Bankrott der Regierung, den die Volksvertretung dadurch herbeiführen könne und solle, dass sie sich weigert, das Spiel des Scheinkonstitutionalismus weiter mitzuspielen. Aber gleichviel ob dies Exempel, auf das die damalige Fortschrittsmehrheit sich weigerte, die Probe zu machen, gestimmt hätte oder nicht, so ist Lassalle sowenig wie sonst irgendein ernsthafter Politiker je auf den kuriosen Gedanken verfallen, das parlamentarische System lasse sich durch einen noch so einstimmigen und noch so feierlichen Beschluss der Volksvertretung von heute auf morgen einführen.

Immerhin – hätte sich der Verfassungsausschuss zu einem solchen Beschluss aufgerafft, so hätte er wenigstens das Gesicht gewahrt, und man hätte seinen Mitgliedern noch das Kompliment machen können: Ihr seid zwar schlechte Musikanten, aber doch gute Leute, und sosehr euch die Kräfte fehlen, so ist doch euer Wille zu loben. Jedoch daran hat er gar nicht gedacht; er hat dem parlamentarischen System voll schaudernden Entsetzens den Rücken gekehrt und sich damit begnügt, einige Flickereien an einzelnen Paragraphen der Reichsverfassung vorzuschlagen, die ungefähr alles beim Alten lassen würden, selbst wenn sie die Zustimmung des Bundesrats finden sollten, woran nach den Äußerungen des Regierungsvertreters im Verfassungsausschuss nicht zu denken ist.

Mit der Einführung des allgemeinen Wahlrechts in den deutschen Einzelstaaten hat sich der Verfassungsausschuss überhaupt nicht oder noch nicht beschäftigt, aber es ist ein öffentliches Geheimnis, dass seine Mehrheit, wenn es zur Beratung dieser Frage kommen sollte, ihr ebenfalls mit schauderndem Entsetzen den Rücken kehren wird. Dagegen hat er das Reichstagswahlrecht in seiner Weise „verbessert" und hierfür auch die halbe Zustimmung des Regierungsvertreters gefunden. Er will nicht etwa die Ungleichheit der Wahlkreise ausgleichen – wie käme er zu solcher Vermessenheit? –, vielmehr sollen die Wahlkreise mit geringer Bevölkerung die Abgeordneten behalten, die ihnen nicht mehr zukommen, dagegen sollen die Riesenwahlkreise ein paar neue Mandate erhalten. Welches diese Wahlkreise sein und wie viele neue Mandate sie erhalten sollen, wagt der Verfassungsausschuss nicht einmal vorzuschlagen, sondern überlässt die Entscheidung vertrauensvoll der Regierung.

Aber damit ist der eigentliche Witz dieser „Reform" noch nicht erschöpft, und wir wollen ihn mit den Worten eines bürgerlichen Blattes wiedergeben: „Für das Land bleiben die Einzelwahlkreise bestehen; für die großen Städte und Industriebezirke wird die Proportionalwahl eingeführt. Mit andern Worten: Auf dem Lande, wo die Konservativen und die Klerikalen herrschen, bleiben die liberalen und sozialdemokratischen Minderheiten nach wie vor tot. In den Großstädten und Industriebezirken erhalten die konservativen, klerikalen oder nationalliberalen Minderheiten ihre Vertretung." Man begreift, dass der Bundesrat dieser „Reform" zustimmen wird.

Das Skandalöseste aber ist, dass auch die regierungssozialistischen Mitglieder des Verfassungsausschusses – bis auf zwei, die sich der Stimme enthalten haben – für diese „Verbesserung" des Reichstagswahlrechts eingetreten sind. Herr Scheidemann ist wirklich würdig, dem Verfassungsausschuss vorzusitzen, und dieser Ausschuss ist würdig, Herrn Scheidemann zum Vorsitzenden zu haben. Doch damit genug von einer Tragikomödie, die man nur mit Widerwillen betrachten kann und am liebsten gar nicht erwähnen würde, wenn sie nicht geeignet wäre, den Arbeitermassen abermals ein Licht aufzustecken sowohl „über den bürgerlichen Parlamentarismus im Allgemeinen als auch über die Scheidemänner" im Besonderen.

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